«Pums, da lag unser Philosoph auf dem Boden» – Der Beginn der Freundschaft von Rudolf Steiner und Moritz Zitter

Marginalien zu Rudolf Steiners Leben und Werk – 35: Rudolf Steiner charakterisiert in seiner Autobiografie als einen seiner fünf engsten Jugendfreunde den gleichaltrigen Moritz Zitter (Hermannstadt, 18. Nov. 1861 bis 27. Mai 1921, Wien) aus Siebenbürgen, mit dem er bis zu dessen Tod 1921 befreundet blieb.


Moritz Zitter kam, nachdem er sich nach der Studienzeit einige Jahre in seiner Heimat als Privatlehrer durchgeschlagen hatte, 1892 nach Wien zurück und arbeitete in Redaktionen und Anzeigenbüros. Später führte er selbst ein solches Büro und war Verleger u. a. der ‹Wiener Klinischen Rundschau›; 1898 war er auch eine Zeit lang Mitherausgeber des ‹Magazins für Litteratur›.

Die Freundschaft zwischen beiden musste «sich durch manchen Lebenssturm»1 bewähren und war nicht frei von Spannungen, da sich Rudolf Steiner nie so ausführlich dem Freund widmete, wie dieser es sich wünschte. Und so wechseln sich, wie man den Briefen Moritz Zitters entnehmen kann, ständig Phasen von großer Enttäuschung und begeistertem Überschwang ab; das eine zum Beispiel, wenn der nächste Brief Rudolf Steiners einmal wieder zu lange auf sich warten ließ, das andere, wenn der Brief dann endlich doch eintraf.

Schon der Beginn dieser Freundschaft stand unter einem besonderen Signum. Die Freunde lernten sich an der Technischen Hochschule Wien in den ‹Übungen im mündlichen Vortrag und schriftlicher Darstellung› kennen, die von Karl Julius Schröer geleitet wurden. Da konnten sich die Studierenden in Aufsätzen und Vorträgen über selbst gewählte Themen im Schriftlichen und als Redner üben, sich dabei gegenseitig wahrnehmen, spiegeln oder sogar ‹Gegenvorträge› halten.

Einmal hatte nun Moritz Zitter einen Vortrag über den Pessimismus gehalten: «Alles, was Schopenhauer für diese Lebensauffassung vorgebracht hat, lebte in diesem Vortrage auf. Dazu kam die eigene pessimistische Lebensstimmung des jungen Mannes.» Rudolf Steiner erbot sich, «einen Gegenvortrag zu halten», in dem er «den Pessimismus mit wahren Donnerworten» widerlegte, Schopenhauer ein «borniertes Genie» nannte und seine Ausführungen in dem Satz gipfeln ließ, wenn «der Herr Vortragende mit seiner Darstellung über den Pessimismus recht hätte, dann wäre ich lieber der Holzpfosten, auf dem meine Füße stehen, als ein Mensch».2

Zitter gab dazu offenbar abermals eine Antwort (schriftlich und wohl auch mündlich), in der er ausführlich auf Rudolf Steiners Gegenvortrag einging. Diese noch erhaltene Replik3 aus dem Frühjahr oder Sommer 1882 ist gewissermaßen das früheste Referat eines Vortrags Rudolf Steiners (im Folgenden werden die Ausführungen Moritz Zitters in Auszügen wiedergegeben:4

Moritz Zitter, ca. Mitte der 1880er-Jahre © Rudolf Steiner Archiv

«Meine Herren! Sie werden mir zugestehen müssen, dass, nach Ihrem Applause zu schließen, den Sie der Arbeit des Herrn Steiner gönnten, es schon an und für sich ein undankbares Geschäft ist, zu kritisieren. Ja wenn ich so klug wäre und sagte: Ich stimme mit allen ausgesprochenen Anschauungen des Herrn Steiner bis auf das i-Tüpfelchen selbst und dem Pfosten, auf dem Herr Steiner damals stand, und der er, statt ein Pessimist zu sein, lieber sein wollte, überein, so würden Sie mit diesem Rezensenten wohl zufrieden sein und mich wohl gar auch durch einen solchen Applaus belohnen […] Sie wissen, meine Herren, wenn jemand stirbt, so ist es Sitte, dass man ihm nur Gutes nachsagt. Meine Herren! Nachdem die Rede des Herrn Steiner schon vorüber ist, so muss ich ihr auch Gutes nachsagen. Und sie besitzt des Guten und Schönen auch in Wahrheit. Was Herrn Steiners Vortrag besonders auszeichnet, das ist das breite Wissen, auf dem er denselben aufbaut. Ich kenne Herrn Steiner nun schon so weit, auch aus dem persönlichen Umgange, und Sie werden mir gewiss beistimmen, wenn ich Herrn St. den ‹Philosophen› unter uns nenne. Herr Steiner hat wirklich mit regem Fleiße und vielem Verständnisse unseren Kant, Hegel, Schelling, Hartmann, Schopenhauer, Fichte, und wie sie alle heißen, studiert. Und dass er uns über diese was hören lässt, ist ein besonderes Verdienst, für das ich glaube in unser aller Namen ihm hier unseren Dank ausdrücken zu müssen. Wir Techniker kommen ohnehin selten genug in die Lage, so etwas zu hören, umso mehr müssen wir ihm dafür danken. Und was ihn und seinen Vortrag wohl am meisten in unseren Augen hebt, das mag wohl sein die aufrichtige Begeisterung, die er für die Sache fühlt, die er vertritt, ein Haupterfordernis, wenn sie gewinnen soll. […] Es gibt eine gewisse Eleganz, ich möchte es in diesem Falle besser eine milde, überzeugungsfähige Kraft nennen, welche einnimmt und gewinnt, und diese Eleganz der Darlegung seiner Ideen vermisste ich bei Herrn Steiner; Herr Steiner zog einfach Schopenhauer herab, mit einer Schnelligkeit und Energie, welche mich frappierte. Er nennt Schopenhauer so ganz ohne weiters prosaisch dürftig, moralisch eingeengt, und welches Mittel gebrauchte er dazu? Er führte uns eine Karikatur seiner Philosophie vor und ergeht sich in unbewiesenen Ansprüchen und – bums, da lag unser Philosoph auf dem Boden und Herr Steiner sandte ihm noch einen zerschmetternden Blick nach. Das fühlte ich, ich weiß nicht, ob Sie, meine Herren, es auch fühlten, dass mein Lachnerv des Öftern manchmal durch die Plötzlichkeit eines Kraftausdruckes, den Herrn Steiner gebrauchte, gereizt wurde, sodass ich oft seine Ironie über die Ursprünglichkeit und Naivität des Ausdrucks kaum bemerkte. […] Ich möchte durchaus nicht in allem Schopenhauer verteidigen, doch bitte ich Sie, meine Herren, mein Bestreben nicht zu verkennen. Ich möchte Ihnen zunächst zeigen, wie Herr Steiner sich so oft, wenn man schärfer zusieht, in Widersprüche verwickelt hat, und dann möchte ich wünschen, dass Sie nicht eine so ganz schlechte Meinung von Schopenhauer haben sollten, wie Herr Steiner ihn schilderte. Schopenhauers Verdienste um unsere Philosophie sind schon darum groß, weil er es versucht hat, sie zu popularisieren, und weil er gleichsam eine Ergänzung zu Kant, unserem größten Philosophen, bildet. Herr Steiner erklärt weiter, dass jenem Idealismus, der seine Ideale in der Realität findet, jener entgegenstehe, der die Ideale nicht in der Welt verwirklicht sieht. Und er hat recht! Aber ob er recht hat, wenn er erklärt, dass dieser letztere falsch sei und dass man ihn dadurch am besten heilen kann, dass man von ihm fordere, er solle jene ideale Welt uns in Gedanken darlegen, und da werde man dann sehen, wie er in Wahrheit gar keine Ideale im Kopfe habe, sondern dass er sich bloß schwärmerische Trugbilder vorgaukelt. […] Ich glaube an dasselbe Ideal wie Herr Steiner, aber ich glaube nicht, dass das Ideal auch wirklich existiert. Und ich nenne es Einbildung seitens des Herrn Steiner, wenn er behauptet, dass ich ihm mein Ideal nicht vorführen könnte, wie er sagte, und ich verlange von ihm, was er nicht getan hat, wenn ich seiner Meinung werden soll, dass er mir diese Ideale in der Natur in Wirklichkeit zeige. Er stellt zwar kurzweg die Behauptung auf, diese Ideale seien verkörpert, in der Natur und in der Geschichte, in der Kunst, Religion und Wissenschaft. […] Ich von dem Standpunkte aus, die Ideale nicht in der Wirklichkeit zu sehen, muss strenge die Verkörperung der Ideale in der Natur verneinen; was die Geschichte, Kunst und Religion anbelangt, so sind das so ideale Gebiete, dass man dort nicht von bestehenden Idealen sprechen kann. […]»

Interessant, dass Rudolf Steiner schon damals offenbar als «Philosoph» unter seinen Kameraden anerkannt wurde – und dass er sich so heftig gegen Schopenhauer aussprach, dessen Werke er rund zehn Jahre später im Rahmen der Cottaschen Weltliteratur-Reihe herausgeben sollte.5 Weiter kann man dem Text entnehmen, dass er mit Nachdruck einen gewissermaßen realistischen Idealismus vertrat, also davon ausging, dass sich die Ideale auch in der Wirklichkeit finden ließen.

Moritz Zitter schließt seinen Text, indem er den Kontext der «Holzpfosten»-Aussage, die Rudolf Steiner über 40 Jahre später in ‹Mein Lebensgang› erwähnt, ausführlicher zitiert und zuletzt noch die Redegeschwindigkeit des Kommilitonen kritisiert:

«Es sind das also meiner Meinung nach falsche Aussprüche des Herrn Steiner. Und ich würde damit schließen, wenn mir nicht noch übrig bliebe, Sie an jene Stellen zu erinnern, wo Herr Steiner sich bis zur Übertreibung steigerte. Er frägt sich, nachdem er den Indifferentismus erläutert: Was ist nach dieser Ansicht der Mensch? Und gibt sich die Antwort: Ein Klotz aus Fleisch, der in einem Medium – Äther genannt – steckt und welcher an der vorderen Fläche seines Körpers eine kleine Trommel hat, die von den gewöhnlichen Menschen auch Augen genannt wird usw. So fährt er nun in nervenerschütternder Weise fort, bis er sich endlich dahin steigert, dass er unter solchen Umständen lieber der Pfosten sein möchte, auf dem er damals stand. Ich gestehe offen, dass ich es nicht sein möchte, dass ich immer noch lieber ein Mensch, der sieht, hört, riecht und spricht, bin als ein Stück Holz, und ich erkläre hiermit, dass dies wahrscheinlich nur eine Geschmacksverirrung des Herrn Steiner war. Damit Sie, meine Herren schon jetzt freier aufatmen können, so teile ich Ihnen mit, dass ich bald zu Ende bin und Herrn Steiner, obwohl ich es schon privatim tat, nur noch zum Zwecke der besseren Einprägung ersuchen möchte, seine Sprache etwas zu mäßigen, nicht so schnell zu sprechen. Er wird erstens dann nicht leicht in die Lage kommen, Sätze unvollendet zu lassen und dadurch zweitens seine Worte unverständlich zu machen. […]»

Interessanterweise findet sich auf diesen Zetteln nun noch eine Replik Rudolf Steiners auf den Beitrag Moritz Zitters. Sie lautet: «Es wäre auf die Ansichten selbst einzugehen gewesen. Ein Herumsprechen über Dinge, die dem Vortrage selbst äußerlich und unwesentlich sind, kann nicht Sache eines Kritikers sein. Wenn Herr Zitter sagt, meine Interpretation Schopenhauers sei eine Karikatur, so hat er die richtige zu geben gehabt. Er wirft mir vor, nichts bewiesen zu haben, doch ist es gerade er, der sich in den unbewiesensten Aussprüchen ergeht. Indem ich die Ansichten meines Gegners vorführte, habe ich durch die Tat bewiesen. Ein anderer Beweis überzeugt nicht. Man kann durch Sophismen und Formeln alles Mögliche beweisen. Die Popularität ist kein Kennzeichen einer hochstehenden Philosophie.»

Rudolf Steiners Erklärung, wenn Zitter mit seinem Pessimismus recht habe, sei er lieber der Holzpfosten, auf dem er stehe, als ein Mensch, wurde, erzählt er in ‹Mein Lebensgang›, «lange spottend in meinem Bekanntenkreise über mich wiederholt». «Aber», was nach der heftigen Auseinandersetzung überraschen mag, «es machte den jungen Pessimisten und mich zu innig verbundenen Freunden.»6

Fußnoten

  1. Rudolf Steiner, Mein Lebensgang, GA 28, 10., vollständig überarb. Aufl. 2025, S. 93.
  2. Ebenda, S. 91.
  3. Notizzettel 5588–5590, Rudolf Steiner Archiv. Andere Notizen auf diesen Blättern erlauben eine ungefähre Datierung. Siehe dazu auch Sämtliche Briefe 1, GA 38/1, 1. Aufl. Basel 2021, S. 74 f.
  4. Der Text wurde hier um etwa die Hälfte gekürzt. Rechtschreibung und Interpunktion wurden den heutigen Gegebenheiten angeglichen Zitter schreibt z. B. Philosophie als «Phylosophie»), Abkürzungen ausgeschrieben. Einige Satzteile sind durchgestrichen, was hier nicht berücksichtigt wurde.
  5. Im autobiografischen Vortrag vom 4. Febr. 1913 sagt er über diesen Vorgang: «So war seine Seelenstimmung; der Jüngling wollte sich verteidigen gegenüber einem enragierten Schopenhauerianer. Dass er ihn jetzt nicht mehr abwehren würde, geht wohl schon daraus hervor, dass er selbst eine Schopenhauer-Ausgabe veröffentlicht hat, worin er den Ansichten Schopenhauers gerecht zu werden versuchte.» (Zur Geschichte der Deutschen Sektion der Theosophischen Gesellschaft 1902–1913, GA 250, Basel 2020, S. 645).
  6. GA 28, S. 91.

Letzte Kommentare