Goethe entwickelt in den verschiedenen Bereichen der unorganischen wie der organischen Natur Methoden, die ermöglichen sollen, was weder eine vorwissenschaftlich-naive Haltung noch die herkömmlichen, vermeintlich ‹objektiven› Wissenschaften vermögen: das Naturgesetz, das Wesen oder die Idee einer Sache zur Erscheinung zu bringen und erkennend aus den Phänomenen herauszuschauen. Allerdings bedarf es hierzu einer besonderen seelischen Anstrengung, damit sich die Dinge ihrem sogenannten Wesen nach dem Bewusstsein offenbaren können. Eine weitere Herausforderung liegt darin, sie in ihrem Erscheinen als das anzuschauen, was sie wirklich sind, und sie wahrheitsgemäß zu beurteilen. Eine notwendige Voraussetzung hierfür ist aus Goethes Sicht zunächst, die «innere[n] Feinde»1 der Erkenntnis möglichst zu erkennen und im Prozess der Urteilsbildung wirkungslos werden zu lassen.
Goethe führt in seinen Schriften den Begriff des ‹Wesens› nicht in einem ausdrücklich philosophischen oder wissenschaftstheoretischen Sinn ein. Doch zielt, meiner Ansicht nach, seine Suche nach den Gesetzmäßigkeiten des Werdens einer Pflanze in der Sache auf einen Wesensbegriff ab. Hierfür spricht unter anderem ein Brief Goethes aus dem Jahr 1786, in dem er von einem «Gewahrwerden der wesentlichen Form, mit der die Natur gleichsam nur spielt und spielend das mannigfaltige Leben hervorbringt»2, berichtet. Die ‹Form› (von lat. forma, ‹Gestalt›) deutet zurück auf den griechischen Ausdruck des Eidos, der besagt «Form, Wesen, Anblick, Idee»3. Die «wesentliche[n] Form», die «spielend das mannigfaltige Leben hervorbringt», ließe sich in diesem Zusammenhang als das ursächliche Prinzip oder die Wesens-Ursache des Werdens einer Pflanze begreifen – aristotelisch gesprochen als die causa formalis4 oder das erwähnte Eidos eines Dinges.
In seinem Werk ‹Zur Farbenlehre› von 1810 widmet sich Goethe ausdrücklich dem Verhältnis zwischen den nächstliegenden, unmittelbar wahrnehmbaren Erscheinungen, die er als vielfältige Ausformungen – in seinen Worten «Wirkungen» – eines «Wesen[s]»5 auffasst. Er schreibt: «Denn eigentlich unternehmen wir umsonst, das Wesen eines Dinges auszudrücken. Wirkungen werden wir gewahr, und eine vollständige Geschichte dieser Wirkungen umfasste wohl allenfalls das Wesen des Dinges.»6 Die Wirkungen stellen für Goethe – so lässt sich das Zitat deuten – den Anfangs- und Ausgangspunkt der Forschung dar. Sie bilden gewissermaßen einen leitenden Faden, um zur Gesetzmäßigkeit eines Zusammenhangs von Phänomenen oder zum Wesen bzw. zur Idee eines betreffenden Dinges vorzudringen. Der Begriff der Geschichte kann hier als Genese der Phänomene verstanden werden, welcher der Forscher nachzugehen hat. Die «[v]ollständige Geschichte», die notwendig ist, um zum vollen und adäquaten Begriff des Wesens zu gelangen, verweist freilich auf ein Ideal der Forschung. Von diesem geleitet müsste sich die Forschung für die vielfältigsten Erscheinungsweisen sowie für eine zukünftig mögliche Genese (‹Geschichte›) der Phänomene öffnen.
Vom Wesen der Dinge
Exemplarisch für die Beziehung zwischen den Manifestationen oder ‹Wirkungen› und ihrem zugrunde liegenden ‹Wesen› ist das Verhältnis zwischen dem Licht, der Finsternis und den Farben, wie Goethe sie in seinem Opus magnum von 1810 darlegt. Kurz gesagt: Während das reine Licht und die reine Finsternis Goethe zufolge für das physische Auge unsichtbar bleiben, können sie dennoch anhand ihrer ‹Wirkungen› – den Farben – indirekt erfahren werden. Diese stellen somit die ‹Wirkungen› eines Zusammenspiels von Licht, Finsternis, Auge und einem trüben Medium dar. Die ‹Geschichte dieser Wirkungen› würde auf den gesamten Weg des Werdens und Entstehens der Farben verweisen. Wird der Verlauf oder die ‹Geschichte› bis zum Ursprung ihres Entstehens zurückverfolgt, könnten sich die Gesetzmäßigkeiten der ‹Wirkungen› (der Farben) und somit der Grund ihres Werdens offenbaren. Mit diesem gesetzmäßigen Grund wäre zugleich das gegeben, was Goethe das «Wesen des Dinges» nennt. Wird der Verlauf oder die ‹Geschichte› bis zum Ursprung ihrer Entstehung zurückverfolgt, könnten sich die Gesetzmäßigkeiten der ‹Wirkungen› (der Farben) und somit der Grund ihres Werdens offenbaren.
Goethes Betrachtungen zu den Wirkungen und dem Wesen sind im Kontext seiner grundlegenden Differenz zu Newtons Theorie der Farbentstehung zu verstehen. Den für ihn entscheidenden Unterschied zum newtonschen Ansatz stellt Goethe programmatisch an den Anfang des didaktischen Teils seiner Farbenlehre: Es gehe ihm nicht darum, zu erklären, «was denn Farbe sei», sondern zu zeigen, «wie sie erscheine»7. In seiner Schrift Opticks (1704) beantwortet Newton die genannte Frage sinngemäß, indem er darlegt, dass Farbe eine bloß subjektive Empfindung («sensation») sei.8 Im homogenen Licht unterscheidet er zwischen gelb machenden («Yellow-making»), grün machenden («Green-making»), blau machenden («Blue-making»), violett machenden («Violet-making») und weiteren Strahlen («rays»).9 «Denn die Strahlen sind, genau genommen, nicht farbig. In ihnen liegt nichts als eine gewisse Kraft und Neigung, die Empfindung dieser oder jener Farbe im Auge des Betrachters hervorzurufen.»10 Newton erklärt die Farberscheinungen demzufolge als subjektive Empfindungen, die durch bestimmte Dispositionen im homogenen Lichtstrahl hervorgerufen werden. Mit dieser Erklärung gerät die Farbe als reales («objektives») Phänomen in der Welt im Zusammenspiel von Licht, Finsternis und einem trübem Medium nicht in den Blick.
Was Phänomene erzählen
Goethes Farbenlehre ist nicht bloß als eine alternative Erklärung für die Farbentstehung zu verstehen, sondern als Zeugnis eines grundlegend anderen Wissenschaftsverständnisses. Seine Theorie basiert auf anderen methodischen und erkenntnistheoretischen Voraussetzungen – ja, man könnte sagen, sie steht außerhalb der Paradigmen der theoretischen Physik, die durch ihn infrage gestellt werden. Während Newton das Licht unter anderem mechanisiert, quantifiziert und nach Kausalerklärungen dafür sucht, wie die Farbe aus dem Licht entsteht, richtet Goethe seinen Blick auf das Werden und die Gesetzmäßigkeiten der Phänomene selbst – das heißt auf ihr Erscheinen für ein wahrnehmendes Bewusstsein.11 Goethe lehnt die gewöhnliche physikalische Kausalerklärung der Phänomene ab: «Denn hier wird nicht nach Ursachen gefragt, sondern nach Bedingungen, unter welchen die Phänomene erscheinen», fordert Goethe in seinem Essay über das ‹reine Phänomen›12. Sein Ansatz beruht auf der Annahme, dass das Phänomen selbst dem Beobachter einen unmittelbaren Hinweis auf die zugrunde liegenden Bedingungen seines Erscheinens gibt. Mit Blick auf Goethe bemerkt die Husserl-Schülerin und Phänomenologin Hedwig Conrad-Martius (1888–1966) treffend, dass im Licht und in den Farben «die sinnliche Gegebenheit unmittelbar das aus[drückt], was mit ihr bedeutet werden kann; es liegt in ihr!».13
Goethes Frage nach dem ‹Wie› des Erscheinens der Farbe verweist – im Gegensatz zu Newtons Ansatz – auf eine ursprünglich phänomenologische Herangehensweise. Diese erfordert, die Phänomene vorurteilsfrei zu betrachten, das heißt ohne jegliche wissenschaftlich-theoretische (physikalische), metaphysische oder naiv-lebensweltliche Annahmen. Die Phänomene sind zunächst in ihren vielfältigen subjektiv-objektiven Erscheinungsweisen zu beobachten und zu beschreiben, um sie schließlich in ihrem Wesen geistig zu erfassen. Dieses Vorgehen führt stets zum Wesen dessen zurück, dem etwas erscheint: dem Betrachter, dem Subjekt. Die Untersuchung des Wechselverhältnisses zwischen den Farben und dem sehenden Menschen eröffnet Goethe zugleich eine Annäherung an die Frage, was Farbe ist – und damit an ihr Wesen. Dieses subjektiv-objektive Wesen der Farbe fasst Goethe unmittelbar nach der oben zitierten Textstelle in den folgenden Worten zusammen: «Denn es bleibt uns auch nichts übrig, als zu wiederholen: die Farbe sei die gesetzmäßige Natur in Bezug auf den Sinn des Auges.»14
Goethe konkretisiert sein Vorhaben, sich ausgehend von den Wirkungen dem Wesen der Farbe anzunähern, im didaktischen Teil der ‹Farbenlehre› weiter, und zwar im Zusammenhang mit seiner Theorie des Urphänomens. In der Einleitung kündigt Goethe an, dass im didaktischen Teil «die unzähligen Fälle der Erscheinungen unter gewisse Hauptphänomene zusammengefaßt [werden], welche nach einer Ordnung aufgeführt werden»15. Diese Ordnung der mannigfaltigen Farbphänomene gliedert sich in physiologische, physikalische und chemische Farben sowie in die sinnlich-sittliche Wirkung der Farbe. Eine leitende Idee – in seinen Worten eine «theoretische Ansicht»16 – lenkt von Beginn an den Prozess des Ordnens der Phänomene. Für die Fragestellung, wie von den Wirkungen potenziell zum Wesen zu gelangen sei, sind insbesondere die sogenannten dioptrischen Farben der ersten Klasse von Interesse. In diesem Kontext entwickelt Goethe seine Lehre vom Urphänomen der Farben, die wir im weiteren Verlauf noch näher betrachten werden.
Goethes Aperçu
Der Physikalismus in der Optik, den Goethe mit entschiedener Kritik insbesondere Newton zuschreibt, beruht auf der Annahme, dass Farberscheinungen durch eine hypothetische, nicht anschauliche Ursache bedingt sind. Dieser kausale Zusammenhang wird experimentell zu rekonstruieren und theoretisch zu untermauern versucht. Wird die Hypothese durch das Experiment bestätigt, erscheint der Zusammenhang zwischen der postulierten Ursache und ihrer Wirkung als hinreichend erklärt. Aus diesem Grund, so Goethes Kritik, richtet Newton seine wenigen Experimente hauptsächlich darauf aus, seine Hypothese zu verifizieren. Ein berühmtes Beispiel für dieses Vorgehen ist sein ‹experimentum crucis›, das die zentrale Annahme von der unterschiedlichen Refrangibilität als vermeintliche Ursache ‹farbiger Lichter› bestätigen soll.
Goethe schildert rückblickend in seiner ‹Konfession des Verfassers› (1809) ein wegweisendes Erlebnis aus dem Jahr 1790 – ein «entschiedenes Aperçu»17, wie er es nennt –, das ihm beim Experimentieren mit dem Prisma widerfuhr. Dieses hatte er sich 1789 von Christian Wilhelm Büttner (1716–1801), einem Naturforscher aus Jena, ausgeliehen. Goethe schreibt: «Es bedurfte keiner langen Überlegung, so erkannte ich, daß eine Grenze notwendig sei, um Farben hervorzubringen, und ich sprach wie durch einen Instinkt sogleich vor mich laut aus, daß die Newtonische Lehre falsch sei […].»18 Der Irrtum in Newtons Theorie über die Farben wird ihm plötzlich offenbar, als er beim Blick durch das Prisma die Farbspektren nicht – wie von Newtons Lehre erwartet – auf der weißen Wand, sondern nur an den Kanten seines Fensters erblickt.
Goethe zufolge entsteht Farbe nicht durch das Hinzufügen des Prismas zum Licht. Vielmehr bildet die Finsternis nach dem Licht die erste notwendige Bedingung für die Entstehung von Farbe, während das Prisma lediglich eine untergeordnete Rolle spielt. Goethe bezeichnet die drei grundlegenden Bedingungen in seinen Schriften zur Optik als Licht und Dunkel, Helles und Dunkles sowie als Grenze oder trübes Medium. Diese Bedingungen können variieren: Künstliche Lichtquellen oder die Sonne repräsentieren den Lichtpol, ein abgedunkelter Raum oder die Finsternis des Weltraums den Pol der Dunkelheit, während atmosphärische Trübungen, Rauch, Wasser, das Prisma oder das menschliche Auge als trübe Medien fungieren.
Diese Bedingungen, die für jede Farbentstehung unverzichtbar sind, resultieren aus der Reduktion vielfältiger Fälle auf ihre einfachsten Elemente; sie bilden, zusammen mit den aus ihnen entstehenden Farben, ein besonderes Phänomen. Dieses erfüllt zugleich die Wesensmerkmale von Goethes «reinem Phänomen», wie sie in seinem Aufsatz ‹Erfahrung und Wissenschaft› von 1798 dargelegt sind. Im didaktischen Teil seiner ‹Farbenlehre› von 1810 bezeichnet er dieses Phänomen als ein «Grund- und Urphänomen»19. Angesichts dieses außergewöhnlichen Phänomens wird – um es vorwegzunehmen – das phänomenologische Gesetz der Farbgenese für den Beobachter unmittelbar geistig anschaulich, da das Urphänomen selbst nicht sinnlich erfassbar ist. In diesem Evidenzerlebnis drückt sich für Goethe, wie schon beim «reinen Phänomen», das zugrunde liegende Naturgesetz in seiner reinsten und elementarsten Form aus.
Farbentstehung durch Licht, Finsternis und Trübe
In den §§ 150 und 151 der ‹Farbenlehre› entwickelt Goethe das einfachste, für jeden nachzuvollziehende Grundphänomen der Farbentstehung anhand zweier polarer, sich ergänzender Erscheinungen. Das erste Phänomen beschreibt, dass Sonnenlicht, durch ein von der Finsternis beschattetes trübes Medium gesehen, gelb erscheint, auch gelbrot oder rubinrot. Die Steigerung vom Gelben zum Rubinroten hängt vom jeweiligen Ausmaß der Trübung des Mediums ab. Den entgegengesetzten Fall schildert Goethe unmittelbar anschließend: «Wird hingegen durch ein trübes, von einem darauffallenden Lichte erleuchtetes Mittel die Finsternis gesehen, so erscheint uns eine blaue Farbe […].»20 Die geschilderten Grundphänomene werden im lebensweltlichen Zusammenhang besonders augenfällig an den atmosphärischen Farben der Morgen- und Abendröte sowie der blauen Himmelsfarbe, die Goethe jeweils in den §§ 154 und 155 der ‹Farbenlehre› beschreibt. «Die Sonne wird durch eine Röte verkündigt, indem sie durch eine größere Masse von Dünsten zu uns strahlt. Je weiter sie heraufkommt, desto heller und gelber wird der Schein.»21 Weiter heißt es: «Wird die Finsternis des unendlichen Raums durch atmosphärische vom Tageslicht erleuchtete Dünste hindurch angesehen, so erscheint die blaue Farbe.»22 Diese Zitate verdeutlichen exemplarisch, wie Goethe die Entstehung von Farben aus den Wechselwirkungen zwischen Licht, Finsternis, der Atmosphäre und Trübungen beschreibt.
In den §§ 174 bis 177 legt Goethe rückblickend ausführlich seine Forschungsmethode dar, mit der er schließlich zu einem Gewahrwerden des Urphänomens gelangt. Von Anfang an orientiert er sich an seinem hypothetischen Leitfaden einer Dreiheit – bestehend aus der Polarität von Licht und Finsternis sowie dem trüben Medium –, um diese von ihm angenommenen notwendigen Bedingungen des Erscheinens auch empirisch aufzuweisen. Goethe beschreibt einen Erkenntnisweg, der zunächst von den einzelnen Fällen der Erfahrung, der gewöhnlichen Empirie, ausgeht. Diese ordnet er in einem stufenweisen Fortschreiten unter «allgemeine empirische Rubriken»23, die gewissermaßen Erfahrungsstufen höherer Allgemeinheit darstellen. In einem nächsten Schritt der Verallgemeinerung handelt es sich, so Goethe, um «wissenschaftliche Rubriken»24, denen in der Terminologie von 1798 das «wissenschaftliche Phänomen»25 und die mit ihm korrespondierenden Naturgesetze entsprechen. Die letzte Erkenntnisstufe vermittelt Einsicht in die notwendigen oder «unerläßliche[n] Bedingungen des Erscheinenden»26. Dabei handelt es sich nicht um eine weitere Hypothese, Abstraktion oder Konstruktion einer Theorie ‹hinter› den Erscheinungen, wie es aus der Sicht der herkömmlichen Wissenschaften zu erwarten wäre. Vielmehr konkretisieren und realisieren sich sowohl das Phänomen als auch das Denken im Durchgang durch das wissenschaftliche Phänomen, indem beide erneut geistig anschauend (intuitiv) werden. Goethe fährt in § 175 fort: «Von nun an fügt sich alles nach und nach unter höhere Regeln und Gesetze, die sich aber nicht durch Worte und Hypothesen dem Verstande, sondern gleichfalls durch Phänomene dem Anschauen offenbaren.»27 Dieses Zitat bedarf jedoch eingehender Erläuterung, die nun folgt.
Das Urphänomen – Anschauung des Gesetzes
Goethe ordnet denkerisch die vielfältigen Bedingungen, unter denen Farben erscheinen – also die unterschiedlichen Versuche seiner Farbenlehre – gemäß ihren inneren Gesetzmäßigkeiten und Zusammenhängen. Auf diese Weise können in einem verallgemeinernden Gedankenprozess die gemeinsamen Bedingungen erkannt werden. Auf der ‹objektiven› Seite tritt schließlich das Urphänomen in seiner einfachsten Form als ein besonderes Phänomen unter gewöhnlichen Phänomenen hervor, insofern Licht, Finsternis und ein trübes Medium (bzw. eine Grenze) als Bedingungen zusammentreffen. Das Urphänomen ist insofern außergewöhnlich, als es durch sein Erscheinen den gesetzmäßigen Zusammenhang einer Vielzahl gewöhnlicher Phänomene beleuchtet. Es ist laut Goethe die «schönste» der Perlen einer «Perlenschnur»28. Das Urphänomen stellt somit ein Naturgesetz in Sinne Goethes dar, das sich im Gegensatz zu einem Naturgesetz der herkömmlichen Wissenschaften innerhalb der erscheinenden Welt aufweisen und erfahren lässt. Es unterscheidet sich von abstrakten Begriffen, ‹kritischen› oder ‹spekulativen› Ideen, auch von Newtons spekulativer Erklärung der Farben durch die im Licht enthaltenen unterschiedlichen ‹farbmachenden› Wellenlängen, vor allem dadurch, dass es unter den hier beschriebenen methodischen Bedingungen in der sinnlichen Welt erscheint und beobachtet werden kann. Zu diesen Bedingungen gehört, dass das naturforschende Bewusstsein die Phänomene nach bestimmten Prinzipien ordnet und beobachtet.29
Der höchsten Stufe des Erkenntnisprozesses, dem Urphänomen, entspricht demnach eine Theorie (vom altgriechischen theoria, θεωρίᾱ) im ursprünglichen Sinne des Wortes – nämlich als Anschauungsseite des Naturgesetzes im Gebiet der Farben. Dieses Anschauen umfasst die (‹subjektive›) Tätigkeit des Bewusstseins, durch die zugleich die gegenständliche, also ‹objektive› Seite der Erscheinung der Anschauung erscheint. Wie bereits angedeutet, erweist sich diese Anschauung als eine innerlich in Bewegung befindliche und – vor dem Hintergrund Goethes sämtlicher vorausgehender Versuche – experimentell erfüllte Erfahrung. Dadurch tritt die Vielfalt der Farben, die aus dem Zusammenspiel von Licht, Dunkelheit und Trübe – also aus den dynamischen, farbhervorbringenden Wechselwirkungen dieser drei Faktoren – resultiert, dem forschenden Bewusstsein als ein gesetzmäßig erklärtes Phänomen entgegen. Goethe schreibt hierzu:
«Ein solches Urphänomen ist dasjenige, das wir bisher dargestellt haben. Wir sehen auf der einen Seite das Licht, das Helle, auf der andern die Finsternis, das Dunkle, wir bringen die Trübe zwischen beide, und aus diesen Gegensätzen, mit Hülfe gedachter Vermittlung, entwickeln sich, gleichfalls in einem Gegensatz, die Farben, deuten aber alsbald durch einen Wechselbezug unmittelbar auf ein Gemeinsames wieder zurück.»30
Der dynamische Charakter des Urphänomens ergibt sich daraus, dass der Forschende die Farben aus den gemeinsamen Grundbedingungen heraus entwickelt und sie in ihren ‹Wechselbezug» zu diesen Bedingungen setzt – idealerweise anhand eigener experimenteller Praxis. So wie aus der Idee der Urpflanze alle möglichen Pflanzen hervorgehen können, lassen sich aus dem Urphänomen sämtliche Einzelfälle ableiten – bis hin zum «gemeinsten Falle[s] der täglichen Erfahrung»31. Analog zur Morphologie werden hierbei alle Erscheinungen als Variationen eines Grundmusters erklärt. Das Urphänomen stellt somit die Einheit dar, in der sämtliche Einzelfälle enthalten sind.
Wo sich die Theorie verkündet
Auch nach der Darstellung seiner Farbenlehre wendet sich Goethe wieder dem Urphänomen zu. In einem Aphorismus bringt er es prägnant zum Ausdruck: «Man sagt gar gehörig: das Phänomen ist eine Folge ohne Grund, eine Wirkung ohne Ursache. Es fällt dem Menschen so schwer, Grund und Ursache zu finden, weil sie so einfach sind, daß sie sich dem Blick verbergen.»32 Goethe lehnt demnach sowohl die physikalischen als auch metaphysischen – ‹hinter› den Erscheinungen liegenden – Auffassungen von ‹Grund› und ‹Ursache› ab. Gleichwohl scheint er hier alternative Begriffe von ‹Grund› und ‹Ursache› einzuführen, die sich zunächst dem menschlichen Erfassen entziehen. In der ‹Farbenlehre› von 1810 hatte sich das Urphänomen am Ende eines komplexen Forschungsweges als ein phänomenologischer ‹Grund› erwiesen. Der Begriff ‹Grund› besagt hier, dass das Urphänomen die gesamte Vielfalt der Farberscheinungen in ihrem Entstehen aus den einfachsten, elementarsten Faktoren hervorgehen lässt. Die Farben wiederum deuten auf das Urphänomen zurück und gründen somit in diesem.
Gemäß Goethes Wissenschaftsansatz sollten daher Grund- oder Urphänomene nicht weiter hinterfragt werden. Im Gegensatz zu einer physikalischen oder metaphysischen Ursache ist der von Goethe entdeckte, phänomenologische Grund der Phänomene als Naturgesetz innerhalb der phänomenalen Welt zu erhellen und zu erkennen. Den Zusammenhang von Ursache und Wirkung erläutert Goethe daher in einem Aphorismus von 1829 mit den Worten: «sie beide zusammen machen das unteilbare Phänomen»33. Nicht etwa, weil Goethe an der sinnlichen Wahrnehmung haftet oder theoriefeindlich wäre, sondern weil er von einer gesteigerten Fähigkeit des Bewusstseins ausgeht, mit der Phänomene in der naturforschenden Praxis betrachtet, geordnet und beobachtet werden – nur so können diese nach Goethe selbst ihre ‹Theorie› verkünden, die das Bewusstsein ergreift. In einem bekannten Aphorismus von 1829 heißt es: «Das Höchste wäre zu begreifen, daß alles Faktische schon Theorie ist. Die Bläue des Himmels offenbart uns das Grundgesetz der Chromatik. Man suche nur nichts hinter den Phänomenen, sie selbst sind die Lehre.»34
Fußnoten
- Johann Wolfgang Goethe, Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe, hrsg. von Karl Richter in Zusammenarbeit mit Herbert G. Göpfert, Norbert Miller und Gerhard Sauder, München 1998. Im Folgenden zitiere ich Goethes Werke aus dieser Ausgabe mit dem Kürzel MA sowie der entsprechenden Band- und Seitenzahl (MA 4.2:326).
- Brief Goethes an Charlotte von Stein, 9./10. Juli 1786, in: Johann Wolfgang von Goethe, Briefe an Charlotte von Stein, in: Goethes Werke, hrsg. im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen (Weimarer Ausgabe), IV. Abteilung: Briefe, Band 4, Weimar 1907, S. 239.
- Zu Goethes Begriff der Form vgl.: David Wellbery, Form (Form), in: Goethe-Lexicon of Philosophical Concepts 1 (29. Januar 2021).
- Siehe Aristoteles: Metaphysik, Buch Z, 1032b und Buch H, 1042a.
- MA 10:9.
- Ebd.
- MA 10:21.
- Isaac Newton, Opticks or, A Treatise of the Reflexions, Refractions, Inflexions, and Colours of Light. Hrsg. Nachdruck der 4. Auflage von 1730, von G. Bell and Sons, 1930, New York 1952, S. 125. (Für eine neuere wissenschaftliche Ausgabe siehe: Isaac Newton, The Optical Papers of Isaac Newton. Band 2: The Opticks (1704) and Related Papers ca. 1688–1717, hrsg. von Alan E. Shapiro, Cambridge 2021).
- Ebd., S. 124.
- «For the Rays to speak properly are not coloured. In them there is nothing else than a certain Power and Disposition to stir up a Sensation of this or that Colour.» (ebd., S. 124 f.).
- Eine prägnante Gegenüberstellung von Newtons und Goethes Wissenschaftsansatz in der Farbenlehre findet sich bei Rudolf Steiner im III. Band seiner Einleitungen zu Goethes naturwissenschaftlichen Schriften (1890), in ders.: Einleitungen zu Goethes naturwissenschaftlichen Schriften. Zugleich eine Grundlegung der Geisteswissenschaft (Anthroposophie). Dornach 1987, S. 258–301.
- MA 6.2:821.
- Hedwig Conrad-Martius, Farben. Ein Kapitel aus der Realontologie. In: Festschrift für Edmund Husserl. Ergänzungsband zum Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische Forschung, hrsg. von Moritz Geiger, Halle 1929, S. 339–370; hier S. 344.
- MA 10:21. Zu Goethes Begriff des Urphänomens siehe Sebastian Meixner: Urphänomen (Orignal/Primordial Phenomenon. In: Goethe-Lexicon of Philosophical Concepts 3 (19. Dezember 2022).
- MA 10:10.
- Ebd.
- MA 10:914.
- MA 10:910.
- MA 10:68.
- MA 10:67.
- MA 10:68.
- MA 10:69.
- MA 10:74.
- MA 10:74.
- MA 6.2:820.
- MA 10:74.
- MA 10:74.
- In einem Aphorismus Goethes heißt es: «Ein Phänomen, ein Versuch kann nichts beweisen, es ist das Glied einer großen Kette, das erst im Zusammenhange gilt. Wer eine Perlenschnur verdecken und nur die schönste einzeln vorzeigen wollte, verlangend, wir sollten ihm glauben, die übrigen seien alle so, schwerlich würde sich jemand auf den Handel einlassen.» (MA 17:745).
- Rudolf Steiner betont in seiner Analyse von Goethes Methode diesen Punkt: «Wer sich aber wirklich klar darüber geworden ist, daß Erklären der Erscheinungen nichts anderes heißt, als dieselben in einem von dem Verstande hergestellten Zusammenhange beobachten, der muß die Goethesche Farbenlehre im Prinzipe akzeptieren.» (Rudolf Steiner, Einleitungen […], S. 279).
- MA 10:75.
- MA 10:74.
- MA 17:923 f.
- MA 17:924.
- MA 17:824.
Iris Hennigfeld beschreibt in diesem Essay das in Goethes Farbenlehre und zieht Parallelen zu seinen morphologische Studien: „So wie aus der Idee der Urpflanze alle möglichen Pflanzen hervorgehen können, lassen sich aus dem Urphänomen sämtliche Einzelfälle ableiten […] Analog zur Morphologie werden hierbei alle Erscheinungen als Variationen eines Grundmusters erklärt.“ Diese Analogie stimmt so nicht, sie trifft nur zum Teil zu. Die organische Natur braucht eine andere Vorgehensweise als die anorganische. Für die organische Natur müsste man die Überschrift abändern: „Von den Wirkungen zum Wesen und zurück zu den Wirkungen und nochmals von den Wirkungen zum Wesen und zurück usw.“ Goethe hat ein Aspekt der Urpflanze erfasst, lässt man sich auf seinen Schriften ein und bleibt nicht bei seinem „Versuch die Metamorphose der Pflanze zu erklären“ stehen, dann kann man feststellen, dass Goethe die Idee der Urpflanze zwar entdeckt hat, aber ihr Wesen nur unvollkommen erfasst hat, bzw. erfassen konnte, weil die Morphologie erst noch in ihren Kinderschuhen stand.
Vielen Dank für Ihren Kommentar und die angeregte Auseinandersetzung. Sie sprechen einen wichtigen Aspekt an: Die Unterscheidung der methodischen Zugänge in organischer und anorganischer Natur ist für Goethe zentral.
In meinem Text geht es jedoch nicht um eine Gleichsetzung dieser Bereiche, sondern um eine analoge Denkform, wie sie Goethe selbst vorschlägt: Vom Einzelnen zum Ganzen und zurück – ein „beseeltes“ Verstehen aus der Bewegung der Erscheinungsformen heraus. Für ihn steht stets die Idee am Anfang jeder Forschung. Die Formulierung „analog zur Morphologie“ ist daher nicht als methodische oder naturwissenschaftlich-strukturelle Gleichsetzung gemeint, sondern als Hinweis auf eine strukturelle Vergleichbarkeit im erkennenden Zugang: Auch im Bereich der Farben lässt sich – bei eigener experimenteller Praxis – eine Einheit bzw. „Einfachheit“ entdecken, das Urphänomen, aus dem sich die Vielfalt der Erscheinungen ableiten lässt, wie Goethe sie bei der Urpflanze verfolgt, die er als Idee versteht.
Goethes wissenschaftliches Bestreben zielte nie darauf ab, eine Biologie oder systematische Naturlehre im heutigen Sinne zu begründen. Ihn interessierten vielmehr die methodischen Prinzipien lebendiger Erkenntnis – darin liegt das tertium comparationis, das verbindende Prinzip – zwischen Morphologie und Farbenlehre: In beiden Fällen geht es um das Verhältnis zwischen dem Mannigfaltigen und dem Allgemeinen, nicht als logische Subsumtion oder induktive Abstraktion, sondern als ideierende, intuitive Erfassung eines Wesenszusammenhangs auf empirischer Grundlage.
In diesem Zusammenhang, so betont Rudolf Steiner in seinen Einleitungen zu Goethes naturwissenschaftlichen Schriften, ergibt sich auch der eigentliche Unterschied zwischen organischer und anorganischer Natur bei Goethe nicht vordergründig aus einem unterschiedlichen Verhältnis zwischen Besonderem und Allgemeinem, sondern aus dem Wesen der Bedingungsverhältnisse: In der Farbenlehre (als Teil der anorganischen Natur) sind diese sinnlich nachvollziehbar und innerhalb des Phänomenzusammenhangs erfahrbar. In der organischen Natur hingegen wirken nicht-sinnliche Prinzipien wie Ideen, die sich nicht unmittelbar im Phänomen zeigen, sondern nur durch ideierendes (übersinnliches) Denken erschlossen werden können.
Die Bemerkung, Goethe habe das „Wesen der Urpflanze nur unvollkommen erfasst“, weil die Morphologie noch in ihren „Kinderschuhen“ stand, verwechselt meines Erachtens die erkenntnistheoretische Ebene mit einer historischen oder empirischen. Goethe wollte keine systematische Botanik aufbauen, sondern das allgemeine Bildeprinzip erfassen, das allem Lebendigen zugrunde liegt – ein Zugang, der die Entwicklung neuer Bewusstseinsorgane beim Forscher erfordert. Gerade weil seine Morphologie nicht bloße Systematik, sondern lebendige Wesensschau und das Erfassen von Grundprinzipien ist, kann man schwerlich sagen, er habe diese Prinzipien der Urpflanze „unvollkommen“ erfasst – es sei denn, man misst seine Erkenntnis mit Maßstäben, die seinem Denken fremd sind.
Eine Weiterentwicklung von Goethes morphologischer Naturbeobachtung und -beschreibung müsste meines Erachtens im Sinne der Anthroposophie Rudolf Steiners heute auch darin bestehen, die Metamorphose von der Naturbeobachtung zur Bewusstseinsbeobachtung zu vollziehen. So würde die lebendige Erkenntnis, die Goethe begründete, in einen zeitgemäßen Kontext gestellt und erweitert. Deshalb habe ich in meiner Betrachtung des Urphänomens den Blick bewusst auch auf das seelische Erleben des Forschers gerichtet.
Danke für Ihre Antwort. Ich lade Sie ein zu einer vertieften Auseinandersetzung.
Ich bin einverstanden mit Ihrer Aussage, dass Goethe sich insbesondere für die methodischen Prinzipien lebendiger Erkenntnis interessierte. Ich verstehe Ihre Formulierung «analog zur Morphologie», auch nicht im Sinne einer Gleichsetzung für die methodischen Vorgehensweisen in der anorganischen und organischen Natur. Diese Vorgehensweisen sind unterschiedlich. Den Vergleich halte ich für problematisch, weil er an ein Verständnis der Urpflanze appelliert, der zwar allgemein akzeptiert ist, aber Goethe nicht gerecht wird.
Diskussionsbedarf besteht bei der Auffassung, dass Goethe die Idee der Urpflanze vollumfänglich erfasst hat. Mit Goethes Idee der Urpflanze, wie er sie in seinem «Versuch die Metamorphose der Pflanzen zu erklären» darlegt, war Goethe nachweislich selbst nicht zufrieden. Goethe verstand das Verhältnis zwischen der Sporenbildung der Farne und der Blütenstaubbildung der Blüte nicht. Für ihn war das ein Rätsel. Dieses Rätsel konnte Goethe nicht lösen, weil die Morphologie noch nicht so weit war. Goethe hatte als These, dass die Samen möglicherweise direkt vergleichbar seien mit den Sporen der Farne. Ihm war es dabei aber nicht wohl. „Mir ist für nichts bange als für der zweiten Hypothese welche zwar dem Werke die Krone aufsetzen muss aber auch gar leicht zur Dornenkrone werden könnte.“ Das zeigt, dass Goethe die Prinzipien der Urpflanze noch nicht vollkommen erfasst hat bzw. erfassen konnte.
Goethe unterscheidet zwei, sich ergänzende Wege für das Studium der Pflanze. Er unterscheidet eine Betrachtungsart, die ausgeht von den Teilen und zum Ganzen hinführt und umgekehrt von einer Betrachtungsart, die vom Ganzen in die Teile strebt. Auf Grund von Goethes Metamorphose der Pflanzen schreibt Steiner (in Goethes Weltanschauung) «Hat man die Idee der sinnlich-übersinnlichen Urpflanze in sich ausgebildet, so wird man sie in allen einzelnen Pflanzenformen wiederfinden. […] Der einzelne Organismus besteht aus Organen, die auf ein Grundorgan zurückzuführen sind. Das Grundorgan der Pflanze ist das Blatt mit dem Knoten an dem es sich entwickelt.» Goethes Versuch die Metamorphose der Pflanzen zu erklären setzt beim Blatt an. Er erklärt die Metamorphose hauptsächlich aus der Perspektive des Blattes. Gleichzeitig hat Goethe den Anspruch die Lebewesen ganzheitlich zu betrachten. Das Blatt aber ist ein Glied des Ganzen und das Verhältnis zu den anderen Gliedern wird in der Metamorphose der Pflanzen nicht thematisiert. Hier verhält sich Goethe in Bezug auf die Pflanze atomistisch. Ausgehend vom Blatt, kann man nicht zur ganzen Pflanze kommen. An dieser Stelle braucht es den Wechsel von einer atomistischen Betrachtung zu einer dynamischen oder ganzheitlichen Betrachtung, Begriffe die Goethe selber verwendet. Goethe betont sogar, in einem von ihm nicht selbst veröffentlichten Text, dass man zwischen einer atomistischen und einer dynamischen sprich ganzheitlichen Sichtweise wechseln soll und beide ihre Berechtigung haben (Goethe 1964 S. 129 ff.). Dieser Text entstand 1798 und hat von Dorothea Kuhn die Überschrift bekommen. Der Text ist eine ausführliche und inhaltlich durchkomponierte Unterlage für einen Vortrag oder eine Vortragsreihe von Goethe. Goethe reflektiert darin sein methodisches Vorgehen.
Gemäß dem Goethe-Wörterbuch gibt es nur eine einzige Textpassage, in der Goethe das Wort Grundorgan verwendet. Diese Passage findet sich in der erwähnten Vortragsunterunterlage unter III Organische Einheit: „Bei Betrachtung der Pflanze wird ein lebendiger Punkt angenommen, der ewig seines gleichen hervorbringt. Und zwar tut er es bei den geringsten Pflanzen durch Wiederholung eben desselbigen. Ferner bei den vollkommeneren durch progressive Ausbildung und Umbildung des Grundorgans in immer vollkommenere und wirksamere Organe um zuletzt den höchsten Punkt organischer Tätigkeit hervorzubringen, Individuen durch Zeugung und Geburt aus dem organischen Ganzen abzusondern und abzulösen. Höchste Ansicht organischer Einheit.“ In dem Kapitel IV Organische Entzweiung kommt zu der Blickrichtung der Blattmetamorphose eine andere hinzu. Der Ausgangspunkt für die Betrachtung ist jetzt die empirische Einheit, die zu einer idealen Einheit wird, wenn die mannigfaltigen Teile aus einem idealen Urkörper entsprungen und ausgebildet gedacht werden. Das führt dann zu den Begriffen der Organischen Einheit und der Organischen Entzweiung.
Sie schreiben, Goethe wollte «das allgemeine Bildeprinzip erfassen, das allem Lebendigen zugrunde liegt – ein Zugang, der die Entwicklung neuer Bewusstseinsorgane beim Forscher erfordert.» Ich halte dem entgegen, dass es mehrere Bildeprinzipien gibt und mit dieser Aussage bin ich im Einklang mit Goethes Denken.
Sie regen die Weiterentwicklung von Goethes morphologische Naturbetrachtung und -beschreibung im Sinne der Anthroposophie Rudolf Steiners an, der auch darin besteht die Metamorphose von der Naturbetrachtung zur Bewusstseinsbeobachtung zu vollziehen. Ich bin einverstanden mit dieser Ansicht. Das Thema habe ich öfters angesprochen, so auch in meinem Buch «Sieben Getreide» (2020).
Eine Weiterentwicklung von Goethes morphologischer Naturbeobachtung und -beschreibung sehe ich einerseits in ein vertieftes Studium der Phänomene, die zu neuen Einsichten und neuen seelischen Erlebnissen des Forschers führen kann. Ich wünsche mir, dass von philosophischer Seite, die bis anhin nicht thematisierten Aspekte in Goethes Denken, angeschaut werden.
Vielen Dank für Ihre Rückmeldung. Ich bin überzeugt, dass Goethes Ansatz nicht in erster Linie an der Vollständigkeit empirischer Durchdringung gemessen werden sollte, sondern an seiner methodischen Originalität und Fruchtbarkeit für eine lebendige „anschauende“ Wissenschaft vom Zusammenhang des Einzelnen mit dem Ganzen sowie von Wirkung und Wesen. Mein Beitrag zielte darauf ab, diesen erkenntnistheoretischen Zugang – exemplarisch am Urphänomen – zu beleuchten. Die in Ihrer Antwort angeführten Überlegungen verschieben meines Erachtens den Fokus auf empirische Randfragen, die die zentralen erkenntnistheoretischen Intentionen Goethes und meiner Ausführungen unberührt lassen. Ich überlasse es gerne den Leserinnen und Lesern, sich hierzu ein eigenes Bild zu machen.
Ich stelle nicht Goethes Ansatz in Frage. Ich anerkenne „die methodische Originalität und Fruchtbarkeit für eine lebendige «anschauende» Wissenschaft von Zusammenhang des Einzelnen mit dem Ganzen sowie von Wirkung und Wesen.“ Meine Frage bezieht sich auf die Urpflanze, die immer wieder, von vielen Autoren, als Beispiel für eine gelungene Darstellung des Wesens der Pflanze herhalten muss. Goethes Metamorphose der Pflanzen ist in sich widersprüchlich, diese Widersprüchlichkeit kann man erleben. Geht man diese Widersprüche nach, dann befasst man sich nicht mit «empirischen Randfragen».
Das führt zu der Frage: Wie sieht Goethes Erkenntnis des Wesens der Urpflanze aus? Nochmals, die Methode stelle ich nicht in Frage. Meine Frage lautet einerseits wie weit ist Goethe mit seinem Ansatz in Bezug auf das Wesen der Pflanze gekommen und andererseits gibt es Ansätze, Intentionen, bei Goethe, die er nicht ausführen konnte, die aber einen wichtigen Beitrag zum Verständnis der Pflanzen liefern. Aus meiner Erfahrung kann ich sagen, dass man die Lebendigkeit der Pflanzen, ihre Plastizität, vertieft und gesteigert erleben kann, wenn man sich auf die Phänomene, auf die Wesensäusserungen der Pflanzen einlässt, auch solche, die Goethe noch nicht kannte.
Das Thema braucht eine ausführlichere Diskussion als in diesem Rahmen möglich ist.