Erstaunlich wenige anthroposophisch orientierte Menschen kennen Rudolf Steiner als Wirtschaftswissenschaftler – noch weniger als ernst zu nehmende Stimme im Hinblick auf aktuelle geldpolitische Fragen.
Steiners Ruf als Wirtschaftswissenschaftler wird im Stillen durch Magister- und Doktorarbeiten getragen. Mitglieder der Wirtschaftskonferenz des Goetheanum begründen akademisch seine Aktivitäten. Ob in Campinas (Brasilien), an der Delft University (Niederlande), an der Buckingham University (Großbritannien) in Fribourg (Schweiz) oder in der Nähe der Bank of England, diese Arbeiten haben nicht nur gute Noten erhalten, sondern wurden von Expertinnen und Experten auf ihrem Gebiet betreut. Jedoch musste die Relevanz und Gültigkeit Rudolf Steiners als Stimme der Moderne nachgewiesen werden, was in der modernen akademischen Welt keine leichte Aufgabe ist.
Ein Großteil dieses Werks dreht sich um zwei Themen, mit denen sich Steiner nach dem Debakel des Versailler Vertrags von 1920, der von den Siegern ‹Der Frieden› und von Deutschland ‹Das Diktat› genannt wurde, eingehend beschäftigt hat. Das erste Thema betrifft das Ende des Goldes als Zahlungsmittel. Das zweite ist Steiners Idee, dass die Welt eine einheitliche Währung braucht, die aber die Form von ‹Geld als Buchhaltung› annehmen sollte, das heißt, dass das Geld anstelle von Münzen und Scheinen die Form von Buchhaltung, gemeinsamen Büchern und einer gemeinsamen Sprache oder eines Kontenplans hat. Diese beiden Themen nahmen die zweite Hälfte von Steiners Volkswirtschaftslehre ein. Aufgrund der Komplexität seines Themas – wie von Günther Wachsmuth, Emil Leinhas und anderen mit dem Finanz- und Wirtschaftswesen verbundenen Mitarbeitenden Steiners bezeugt – führte er Seminarsitzungen ein.
Steiner gehörte zu Mitteleuropa, während der Schauplatz der Währungsentwicklung London war und blieb. Dort hatte Steiner damals keine Stimme, und die monetäre Entwicklung verlief ohne seine Ideen, und erst recht ohne seinen Rat. Hundert Jahre lang war dieser Mangel offensichtlich, aber nun gibt es vielleicht eine neue Chance. In meinem Buch ‹Beyond Gold: Hayek, Keynes and Steiner in Concert› schreibe ich darüber.
Hayek und Keynes
Friedrich von Hayek wuchs in Österreich-Ungarn auf und kannte die mitteleuropäische Welt mit Wien als Zentrum, von der Steiner sprach, die aber 1914 zusammenbrach. Hayek verbrachte einen großen Teil seines Lebens in London als Ökonom und trat für die Entstaatlichung des Geldes ein. Er wollte damit Sinn und Aufgabe des Geldes vor politischer Einmischung und unverantwortlichem Verhalten der Banken schützen. Insbesondere sprach er sich gegen die Gelddruckerei von Regierungen oder die staatliche Rettung von Banken durch Rettungspakete aus. 1944 war Hayek Mitbegründer der Mont Pelerin Society – jener Gruppe von Menschen, die Anfang der 1980er-Jahre wohl oder übel in Margaret Thatcher und Ronald Reagan ihre Verfechter fanden. Dadurch wurde die Kommerzialisierung des größten Teils der nicht kommunistischen Welt eingeleitet.
Keynes ist der berühmteste britische Wirtschaftswissenschaftler. Der Germanophile trat 1919 aus der britischen Regierung aus, um sein Buch zu veröffentlichen, in dem er gegen die Ungerechtigkeiten und die letztendliche wirtschaftliche Sinnlosigkeit des Versailler Vertrags protestierte. Steiner bezog sich 1920 mehrfach auf ihn. Wie Steiners ‹Die Kernpunkte der Sozialen Frage› war auch Keynes’ Buch damals ein Bestseller. Er begleitete das gesamte 20. Jahrhundert als einer der bedeutendsten Kommentatoren und Gestalter der Wirtschaftspolitik, insbesondere mit seiner Idee einer internationalen Clearing-Union, in der die Länder der Welt durch die Verwendung einer nicht nationalen Währung, des Bancor, gemeinsam für ein Gleichgewicht von Handel und Kredit sorgen sollten.
Hayek und Keynes gerieten heftig aneinander, als Hayek zum ersten Mal in London auftrat und sich sozusagen in Keynes’ Revier einmischte. Von der Zivilgesellschaft wurden die beiden als zerstritten erlebt und ihre Ansichten als diametral entgegengesetzt. Dies entspricht jedoch nicht der historischen Wahrheit, da sie später in ihrer Laufbahn eine fruchtbare und harmonische Arbeitsbeziehung pflegten.
Über den Goldstandard hinaus
Aus der Perspektive der im Ersten Weltkrieg entstandenen Eine-Welt-Wirtschaft waren sich beide Ökonomen darüber im Klaren, dass Gold und der Goldstandard und damit die westliche Hegemonie ihr Verfallsdatum überschritten hatten. Und beide versuchten, dies zu überwinden, jeder auf seine Weise. Hayek schlug die freie Ausgabe von Geld durch wen auch immer vor, wobei die Akzeptanz, nicht die Ausgabe, der entscheidende Faktor für die Verwendung des Geldes sein sollte. Damals wie heute war dies eine große Herausforderung für die Zentralbanken. Keynes veröffentlichte 1923 sein bahnbrechendes Werk ‹A Tract on Monetary Reform›, dessen Thesen sich mit Steiners Wirtschaftsvorlesungen decken. Tatsächlich führte damals wie heute der Weg britischer Ökonomen zu Steiner. Und der Weg von Steiners Ideen in die angelsächsische Welt führte über Keynes.
Es ist jedoch schwieriger, Hayek mit Steiner in Einklang zu bringen, weil die Schlüsselfrage lautet, wie der moderne Mensch die heutigen wirtschaftlichen Realitäten in der Welt in den Griff bekommen kann. Hayek und Steiner stimmten zwar darin überein, dass der Einzelne dazu nicht in der Lage ist, aber sie waren sich nicht einig, wie das Problem zu lösen sei. Hayek behauptete, dass die Grenzen des Wissens uns zwingen, auf das Diktat des Marktes zu hören und ihm zu gehorchen. Steiner vertrat die Auffassung, dass es keine Grenzen des Wissens gibt, und formulierte das, was heute als ‹assoziative Ökonomie› bekannt ist, dass nämlich die beteiligten Parteien miteinander reden und arbeiten und nicht alles den ‹Marktkräften› überlassen.
Dort endet die Geschichte größtenteils damit, dass die Menschheit in einer scheinbar endlosen Debatte zwischen dem Staat und den Märkten feststeckt. Die assoziative Ökonomie kommt bestenfalls am Rande vor, als Ausreißer weit weg vom Zentrum des politischen Einflusses oder von den Lehren der Wirtschaftsschulen. Alle drei – Hayek, Keynes und Steiner – lassen sich jedoch um das Thema ‹Geld als Buchführungssystem› versammeln. Es ist der Weg jenseits des Goldes und all dessen, was das Festhalten am Gold impliziert: die Ungewissheit vieler Zentralbankreserven, die Störung des Goldmarktes und vor allem die Unfähigkeit, von der blinden, instinktiven Ökonomie zu dem überzugehen, was Keynes ein «bewusstes und wissenschaftliches» Management des Wirtschaftslebens nannte. Mit anderen Worten, ein Bewusstsein, das das unsichtbare Wirken des Goldes verdrängt, um schließlich zu einem gewissensgeleiteten Bewusstsein zu gelangen.
Sowohl Hayek als auch Keynes waren mit der Buchhaltung vertraut, aber beide waren in eine Sackgasse geraten. Hayek, weil er nie Unternehmer war und daher die Buchhaltung nicht als gelebte Erfahrung kannte. Keynes, weil er nicht über das ‹Buchhaltungsgeld› hinauskam, das durch die fraktionierte Reservekreditvergabe geschaffen wurde, bei der die Banken Geld in beträchtlichem Umfang über ihre Einlagen hinaus verleihen und so scheinbar Geld ‹aus dem Nichts› schaffen, in Wirklichkeit aber die Kreativität der Menschen widerspiegeln, indem sie Kredite nicht zum Kauf von Dingen, sondern zur Finanzierung dieser Kreativität bereitstellen. Wäre einer von beiden Steiner und seiner Idee von ‹Geld als Buchhaltung› begegnet, wären die Dinge vielleicht anders gelaufen. Und sie könnten auch heute noch anders gegriffen werden.
Instrumente der Wahrnehmung
Es ist möglich, dass durch die Begegnung mit Steiner die scheinbar unterschiedlichen Ziele von Hayek und Keynes erreicht worden wären, denn die Buchführung ist eine neutrale Wissenschaft und ein objektiver Prozess, auf dem das globale Finanzsystem selbst beruht. Wenn sie nicht von engstirnigen nationalen Interessen vereinnahmt wird, kann sie als die Voraussetzung dafür angesehen werden, dass das Wirtschaftsleben nach seinen eigenen Prinzipien abläuft. Dies ist das zentrale Argument von Steiners Sichtweise. Die Buchführung ist überall auf der Welt gleich und ermöglicht so die Existenz verschiedener Währungen (heute gibt es mehr als 180), die alle denselben gemeinsamen Rahmen nutzen. Es werden keine Zentralbanken und keine übergreifende Regulierung benötigt: Die Buchhaltung erledigt die Arbeit. Auf diese Weise sind die Währungen der Welt nicht länger Waffen der wirtschaftlichen Rivalität und Kriegsführung. Sie werden zu Instrumenten der Wahrnehmung der Funktionsweise und Dynamik der vielen Sektoren und Regionen in der heutigen Eine-Welt-Wirtschaft.
Ist es naiv oder ehrgeizig, Rudolf Steiner in dieser Weise zu positionieren? Ich denke nicht. In der Tat sehe ich keine andere Möglichkeit, die Richtung der modernen Ökonomie und damit die Richtung des Wirtschaftslebens als solches zu korrigieren, geschweige denn ihr Tempo zu verlangsamen oder das Schiff zu wenden. Eine ehrliche Umfrage in der Welt der Ökonomen und Ökonominnen wird nicht feststellen, dass Steiners Ideen Einfluss haben oder an Boden gewinnen. Das werden sie auch nur, wenn Steiner einen Platz am ‹oberen Tisch›, als ein Ökonom unter anderen, innehat.
Mit ‹Rudolf Steiner als …› überschreiben wir eine Reihe von Artikeln zum 100. Todesjahr Rudolf Steiners.