Der französische Staat hat vor drei Jahrzehnten eine ‹Interministerielle Mission zur Überwachung und Bekämpfung von Sektenentgleisungen› eingerichtet. Ihr letzter Tätigkeitsbericht für den Zeitraum 2022 bis 2024 ist am 8. April 2025 erschienen. Darin werden erneut die Waldorfschulen angeprangert und das Misstrauen in der Öffentlichkeit geschürt. Hier eine Zusammenfassung.
«Aus Respekt vor allen Glaubensrichtungen und dem Prinzip des Laizismus hat sich der Gesetzgeber immer geweigert, die Begriffe Sekte und Religion zu definieren, um die Gewissens-, Meinungs- und Religionsfreiheit nicht zu verletzen», schreibt die Mission interministérielle de vigilance et de lutte contre les dérives sectaires (MIVILUDES) auf ihrer Website. Sie erklärt, dass «die französischen Gesetze nicht Sekten an sich, sondern Sektenentgleisungen verhindern und bekämpfen wollen», und gibt eine Definition für «Sektenentgleisungen»: «Die Ausübung von Druck oder Techniken durch eine organisierte Gruppe oder eine einzelne Person, unabhängig von ihrer Art oder Tätigkeit, mit dem Ziel, bei einer Person einen Zustand psychischer oder physischer Abhängigkeit zu schaffen, aufrechtzuerhalten oder auszunutzen, der sie eines Teils ihres freien Willens beraubt und schädliche Folgen für diese Person, ihr Umfeld oder die Gesellschaft hat.»
Jeder vernünftige Mensch wird zustimmen, dass die Ausnutzung psychischer oder physischer Abhängigkeit, die Einschränkung der Willensfreiheit und jede Handlung, die einer Person, ihrem Umfeld oder der Gesellschaft schadet, bekämpft werden müssen. Waldorfschulen wollen genau Unabhängigkeit, Kreativität, freien Willen fördern und zu einem gesunden sozialen Leben beitragen. Im Prinzip können sie die Ziele der MIVILUDES nur begrüßen. Warum werden sie dann immer wieder in ihren Berichten angeprangert?
Die MIVILUDES stützt sich auf anonyme Aussagen. Der Bericht beginnt mit der Schilderung, dass während eines Chemieunterrichts ein Feuer aus Laub im Klassenzimmer entfacht worden sei, während die Kinder 5 bis 10 Minuten lang im Rauch stehen mussten. Weiter hätten andere Eltern gesagt, dass sie «nicht ausreichend über die Grundlagen und Ziele der angebotenen Pädagogik informiert worden seien». Auch ein Mangel an Betreuung wird kritisiert, insbesondere durch die Aussage einer jungen Frau, die bemängelt, dass das Lehrpersonal nicht reagiert habe, als einer ihrer Mitschüler sie mehrere Monate lang sexuell belästigt habe. Weiterhin verweist der Bericht auf eine Untersuchung des Nationalen Aktionskomitees für Laizismus (CNAL), einer privaten Organisation, die sich auf Inspektionsberichte des Bildungsministeriums stützt. Das CNAL erklärt, dass es nur vier Berichte bekommen konnte. Darin stellt es Praktiken fest, die nicht den Anforderungen des nationalen Bildungsstandards entsprechen, Konditionierungsrituale, Ablehnung von Technologie, Verwirrung zwischen historischen Fakten und Mythen, zwischen Glauben, Interpretation und Wissenschaft. Da steht auch, dass Waldorfschulen außer Eurythmie keinen Sport anbieten, dass «kein Platz für die persönliche Entfaltung der Kinder bleibt», dass «Naturwissenschaften nicht unterrichtet werden» oder sogar «keine Aktivitäten zur Förderung der künstlerischen Kreativität der Schüler beobachtet werden konnten». Beobachtungen, die absolut im Widerspruch zu allem stehen, was man über die Waldorfpädagogik kennt! Die MIVILUDES stützt sich auch auf staatliche Geheimdienste, um vage Kritik mit undurchsichtigen Quellen zu formulieren: Sicherheits- und pädagogische Mängel sowie eine «Strategie der Verschleierung der Lehrinhalte». Der Bericht lässt weder die Schulen noch den Verband, der sie offiziell vertritt, zu Wort kommen. Das Dokument ist ausschließlich belastend und missachtet den Grundsatz des Widerspruchsrechts.
Diese Kritik an den Waldorfschulen reicht nicht aus, um sie als Sektenentgleisungen zu bezeichnen, deshalb geht es nur um Verdächtigungen. Die schwachen Argumente und das Fehlen eines kontradiktorischen Verfahrens sollten diesen Bericht eigentlich hinfällig machen. Da es sich aber um eine staatliche Einrichtung handelt, schauen viele Journalisten und Politikerinnen nicht genauer hin und stempeln die Schulen ohne Vorbehalt als «Sektenentgleisungen» ab. Die Schulen erleiden so trotz der schwachen Argumente einen großen Schaden in der Öffentlichkeit. Deshalb will der Verband der Waldorfschulen in Frankreich etwas tun, damit die Ungerechtigkeit dieser Methoden anerkannt wird.
Wie kann das im Land der Rationalität und der Menschenrechte passieren? Es scheint, als würden wir hier an die Grenzen des Universalismus stoßen. Die französische Geschichte ist geprägt von zwei Formen des Universalismus: dem der (katholischen) Universalkirche und dem der Aufklärung. Der Universalismus der Kirche führte zu Bannflüchen, Hexen- und Ketzerverfolgung. Der Universalismus der Aufklärung wurde mit dem Staat gleichgesetzt: Alles, was nach Autonomie und Unabhängigkeit aussieht, vor allem im Bildungsbereich, wird als rückständig und ‹antiaufklärerisch› angesehen. So wendet sich ein schlecht durchdachter Universalismus gegen die Freiheit des Geisteslebens und zeigt totalitäre Züge.
Angesichts dieser Situation produziert die Fondation Paul Coroze, die in Frankreich die Ausbildung junger Menschen in praktischen Ansätzen der Anthroposophie unterstützt, seit zwei Jahren ein Filmprojekt mit dem Titel ‹Mensch und Erde pflegen›. Gerade wurden in einem kleinen Pariser Kino drei Filme von jeweils etwa 50 Minuten Länge zum ersten Mal gezeigt: einer über biodynamische Landwirtschaft, einer über Waldorfpädagogik und einer über Heilpädagogik und Sozialtherapie. Die beiden erfahrenen Regiefachleute Kaori Kinoshita und Alain Della Negra haben sich vor Ort begeben, um Menschen in ihrem Alltag zu zeigen, ohne theoretische Erklärungen abzugeben. Auch wenn Rationalität Vorurteile nicht ausräumen kann, besteht die Hoffnung, dass konkrete, direkte Eindrücke dazu beitragen, ein realistisches Bild von den Projekten der anthroposophischen Bewegung zu vermitteln. Die Filme sind sehr bewegend, ästhetisch und zutiefst menschlich. Weitere Vorführungen sind in ganz Frankreich geplant und bald sind die Filme auf Youtube verfügbar.
Foto Sitz der französischen Nationalversammlung – Palais Bourbon in Paris. CC BY 3.0.