Aktive Anthroposophie

Das soziale Leben liegt zwischen Punkt und Umkreis. Eurythmie entsteht aus diesem Pendeln. Ist sie deshalb im Zwischenmenschlichen besonders fruchtbar? Noëmi Böken arbeitet seit vielen Jahren als Eurythmistin und lotet das Potenzial von Eurythmie in Unternehmen, Organisationen und der Fortbildung für ‹Bewegte Prozessbegleitung› aus. Das Gespräch führte Franka Henn.


Franka Henn Liebe Noëmi, in einem Wort: Was bedeutet für dich Eurythmie?

Noëmi Böken Aktive Anthroposophie.

FH Wie kommst du darauf?

NB Ich bin oft in Nepal und konnte dort mit einem Rinpoche arbeiten. Er sagte zu mir, dass Eurythmie Meditation mit dem Willen sei. Davon war ich vollkommen begeistert. Wir hatten zwei Stunden miteinander Eurythmie gemacht. Das war seine Erkenntnis. Heute denke ich darüber nach, je nachdem, wen ich vor mir habe, wie ich Alltagssituationen durch Eurythmie bewusster gestalten kann und wie ich Eurythmie so vermittle, dass man durch sie einen Erkenntnisgewinn hat. Sei das im Sozialen oder für sich selbst.

FH Das klingt nach etwas, das wir heute gut gebrauchen könnten. Wenn du an deine Kindheit zurückdenkst, war dieses Motiv, das dich in eurythmische Arbeitsfelder geführt hat, damals schon zu erahnen?

NB Ich habe bereits mit vier Jahren Eurythmie im Waldorfkindergarten gemacht, obwohl meine Eltern nicht anthroposophisch interessiert waren. Und auch später in der Waldorfschule, wo man als Schülerin die Eurythmie auch nicht immer mag. Ich erlebte an meiner Lehrerin immer einen heiligen Ernst in der Eurythmie gegenüber dem Urbild der Eurythmie. In ihm verbinden sich für mich alle Arbeitsfelder mit der Bewusstseinsarbeit. Das heißt aber nicht, dass man bei mir in der Eurythmie immer ernst sein muss …

FH Was bedeutet denn dieser «heilige Ernst»?

NB Eines meiner ersten Bücher, das ich von Rudolf Steiner gelesen habe, war ‹Wie erlangt man Erkenntnisse höherer Welten?›. Darin spricht er gleich zu Beginn von der Ehrfurcht, die man als Kind erleben muss. Eine solche Ehrfurcht hatte ich, glaube ich, mitbekommen. Zum Beispiel durch meine Großeltern, die aus Ungarn stammen, und ihren religiösen Einfluss. Ich wollte sogar eine Zeit lang Nonne werden. Als ich das mit Anfang 20 bei Steiner las, hat es mich an meine Verehrungskräfte erinnert und ich glaube, die fand ich in der Eurythmie wieder. Man kann das so in Europa heute fast nicht sagen, weil es schnell versponnen oder sektiererisch klingt. Aber als ich mit jugendlichen Gefangenen in Thailand eurythmisch gearbeitet habe, sagten diese mir: «Die Eurythmie ist eine Wesenheit und sie erlaubt es nicht, dass man negativ denkt.» Darin liegt heiliger Ernst.

FH Heute arbeitest du sehr viel mit Eurythmie im und am Zwischenmenschlichen, unter anderem in Unternehmen, Betrieben, sozialen Projekten oder auch in Schulen. Ist die «Meditation mit dem Willen», also dein inneres Anliegen, in solchen Arbeitssituationen vermittelbar? Wie gehst du da ran, wenn Menschen vor dir stehen, die danach nicht fragen?

NB Sowohl bei Menschen, die Eurythmie kennen, als auch bei denen, die sie nicht kennen, gibt es sehr große Vorurteile, und zwar ganz unterschiedlicher Art. Es ist nicht unbedingt einfacher, mit Menschen darüber zu sprechen, die sie kennen und ein festes Bild von ihr haben. Wir könnten viel mutiger über Spiritualität sprechen. Zugespitzt gesagt: Eurythmie ist ein moderner Schulungsweg – ein Weg von vielen und für mich ‹der› Weg. Ich muss immer wieder aufpassen, damit in der Erwachsenenbildung freilassend umzugehen. Aber einen Funken von dem Potenzial, das die Eurythmie in sich trägt, überspringen zu lassen, ist mir wichtig. Da ist auch «heiliger Ernst» drin, aber nicht gleichbedeutend damit, dass man selbst nur ernst sein darf. Der Mangel an Humor ist in der Eurythmiewelt eher ein Problem. Für die Vermittlung braucht es Fingerspitzengefühl: Wie spreche ich mit wem? Und wie kann mein Gegenüber ein Erlebnis haben, sich damit verbinden und es auch reflektieren? Wenn dies gelingt, ist der Funke schon übergesprungen.

FH Egal, mit wem du Eurythmie machst, sorgst du als Erstes für einen Erlebnisraum? Das ist dann ein Same für die Menschen, um sich auf einen spirituellen Weg zu machen? Nicht zwangsläufig mit Anthroposophie, sondern mit Spiritualität.

NB Ja, genau. Wenn man sich mit Waldorfpädagogik zum Beispiel beschäftigt, ging es doch nie darum, Anthroposophie in den Unterricht einfließen zu lassen, sondern dass den Kindern – auch durch den Eurythmieunterricht – eine seelische Grundlage geschaffen wird, um später einen eigenen spirituellen Weg gehen zu können. Oder auch nicht; die Freiheit muss natürlich bleiben. Aber dafür muss man der Seele erst mal Erlebnisse bieten, die ihr diese Sphäre öffnen und wodurch sie sich später entscheiden kann.

FH Das führt zu Missverständnissen. Du hast betont, dass die Freiheit, sich für oder gegen eine spirituelle Schulung zu entscheiden, bleiben muss. Auf dein Beispiel bezogen: Es gibt häufig den Vorwurf, dass Kinder in der Waldorfschule mit Anthroposophie indoktriniert würden. Und wir kennen leider auch Beispiele, die sehr negativ sind, weil sie nicht freilassend waren. Aber das ist nicht die ursprüngliche Intention dahinter. Du hast diese Parallele gerade mit Bezug auf die Eurythmie gezogen. Wenn du mit Eurythmie als modernem Schulungsweg arbeitest und hauptsächlich mit Erwachsenen, wie verhältst du dich dann, um diese Erfahrungen und auch die Freiheit zu gewährleisten? Was sind dafür wichtige zwischenmenschliche Voraussetzungen?

NB Das ist vor allem immer eine Mutfrage. Manchmal hat man eine Vision. Und ich würde jedem Menschen anraten, seine Visionen ernst zu nehmen, auch wenn sie einem oft Angst machen. Mit der Eurythmie in die Welt zu gehen, stellt ganz klar diese Mutfrage. Weil Eurythmie nicht leere Bewegung, sondern auch seelisch-geistig ist. Und doch kann jeder Mensch Eurythmie machen, egal welche Voraussetzungen er oder sie körperlich mitbringt. Und mein Sport ist, zu schauen, wie ich die Menschen erreiche, wie ich es schaffe, dass sie einsteigen können. Ich bekomme einen Arbeitsauftrag, dann gibt es einen Raum und dann die Menschen. Und ich muss die Voraussetzungen schaffen, mit den Menschen, die mir gegenüberstehen, dass der Raum von uns ergriffen wird und dass Eurythmie sein kann, dass der «heilige Ernst» anwesend sein kann – sei es auch nur für einen kurzen Moment.

FH Welche Situation erinnerst du, in der du mutig sein musstest?

NB Oh, Tausende! Zu Beginn meiner sozialeurythmischen Arbeit habe ich mit einem Mediator zusammengearbeitet, der mich eigentlich auf diesen Weg gebracht hat. Ich habe ihn bei einem Seminar für asiatische Führungskräfte begleitet. Er hat hauptsächlich geredet und ich habe assistiert. Plötzlich flüsterte er mir zu: «In zehn Minuten bist du dran! Thema: Führung.» Er hat mich richtig ins kalte Wasser geschubst, weil ich mir ganz schnell eine Übung dazu für diese 40 Führungskräfte ausdenken musste. Und das ist bis heute eine meiner schönsten Übungen.

Sich selbst im anderen und den anderen in sich selbst erkennen

FH Um solche Momente mutig ergreifen zu können, spielt es immer eine Rolle, wie man selbst gewachsen ist. Wie bist du denn zur Eurythmie überhaupt gekommen und hast diesen Mut gefunden?

NB Ich frage meine Heileurythmie-Patientinnen oder -Patienten oft, was ihr wichtigster Moment im Leben war. Meiner war mit 16 Jahren, als ich – ohne Wissen meiner Klasse – ein Eurythmiesolo einstudiert habe und das dann bei einer Monatsfeier zeigen sollte. Ich hatte es einstudiert, ohne mir klarzumachen, was es für mich heißen würde, mich später vor 800 bis 1000 andere zu stellen und mich in meiner Schule öffentlich zur Eurythmie zu bekennen. Als ich dann auf die Bühne musste, sah ich diesen vollen Saal und sah meine Mitschülerinnen und Mitschüler, und sie sahen mich und sie fingen alle an zu lachen. Das war der schlimmste Moment meines Lebens. Und ich fragte mich im Bruchteil einer Sekunde, der zugleich sehr lang war, ob ich jetzt auch lachen sollte oder ob ich mir selbst treu bleibe und dazu stehe. Das war eine lebensentscheidende Situation, und ich habe mich für die Treue zu mir und zur Eurythmie entschieden. Danach wurde ich nie wieder gehänselt und ich wusste auch ab dem Moment, dass ich Eurythmistin werden möchte. Und mit 21 Jahren habe ich dann das Studium begonnen. Mit 28 Jahren hatte ich abermals eine Krise, in der ich mich fragte, ob es wirklich der richtige Beruf für mich war. Und: Ja, war es! Bis heute. Es gibt keinen besseren!

FH Du hattest in deiner Krise Zweifel? Was hat dich darüber hinweggetragen?

NB Ich habe über anderthalb Jahre eine andere nebenberufliche Tanzausbildung gemacht, die recht intensiv war. Da ging es vor allem um Improvisation. In der Eurythmieausbildung gibt es ja sehr vieles, das man nicht darf, und ich wollte vieles einfach mal ausleben. Diese Fortbildung machte ich als einzige Eurythmistin mit lauter Tanzschaffenden und es war noch einmal eine Art Sterben. Wenn die Musik angestellt wurde, hieß es: «Bewegt euch!», und alle konnten sich bewegen, nur ich nicht. Ich war es gar nicht gewohnt, weil wir in der Eurythmie immer einen seelischen Inhalt für die Bewegung brauchen. Und ich habe in dieser Zeit gemerkt, dass der Tanz auch beschränkt ist, dass es viel um Zählen, Perfektion, Choreografie geht, aber wenig um seelischen Inhalt. Und in dieser Ausbildung, die ich als eine Art Rebellion für mich gemacht hatte, habe ich noch mal den Wert Eurythmie erkannt. Nämlich: dass die Seele tanzt. Und das darf im Tanz auch sein, ist aber nicht so zentral wie die Äußerlichkeit, die wir in der Eurythmie vielleicht weniger präsent haben. Diese Zeit war für mich eine ganz wesentliche Phase, weil ich mich befreien und ausleben konnte, aber dadurch dann umso mehr zur Eurythmie zurückgekommen bin. Und heute habe ich meine Freiheit in der Eurythmie gefunden.

FH Und dieser Wert oder das Potenzial in der Eurythmie heute, wie würdest du das konkret beschreiben? Was ist das Besondere daran, oder ist es in etwa dasselbe, Eurythmie oder Tai-Chi in einem Unternehmen anzubieten?

NB Allgemein glaube ich, wenn Unternehmen etwas außerhalb der Arbeit für ihre Mitarbeitenden anbieten, ist das schon sehr modern. Und da sind Tai-Chi, Eurythmie oder Pilates etc. sicherlich alle förderlich. Der Unterschied ist dann in der Reflexion: Geht es hier nur um mein gutes Körpergefühl oder geht es auch um das Wir? Gerade neulich hatte ich eine Situation in einem Unternehmen, in der es auch schnell in einen Selbstfindungsworkshop hätte abdriften können, das war aber nicht mein Auftrag gewesen. Das kann die Eurythmie auch anbieten, aber der Fokus auf das Wir ist wirklich besonders an der eurythmischen Arbeit. Und wenn das Team oder die Gruppe halbwegs gesund ist und zusammen Eurythmie macht, kann man sehr schnell Klartext miteinander reden. In manchen Situationen lohnt es sich, das in Kombination mit einem Mediator oder einer Mediatorin zu machen, und zwar da, wo es besonders starke Spannungen gibt. Das übersteigt dann vielleicht die Eurythmiearbeit. Aber in der eurythmischen Arbeit ist dieser Spiegel für das Zwischenmenschliche und die Prozesse ebenso da. Wir sehen darin ganz klar all unsere Stärken und Schwächen. Wie ich es in dem thailändischen Jugendgefängnis gehört habe: Eurythmie braucht und arbeitet mit Wahrhaftigkeit. Eurythmie lügt nicht. Und so sieht man durch Eurythmie im Sozialen – wenn man will – sehr tief. Aber man muss es auch nicht sehen; man darf es auch leicht nehmen.

FH Also, mit Eurythmie können wir in die Selbsterfahrung und Selbsterkenntnis gehen. Auch im besten Sinne ist das eine Möglichkeit, sich selbst im anderen, den anderen in uns selbst und das Wir in uns zu erkennen.

NB Ja, genau. Darum geht es für mich in der Anthroposophie in der modernen Welt. Dass wir uns und unsere Aufgaben erkennen. Und dass wir einander erkennen und uns gegenseitig fördern und nicht hindern in unseren Aufgaben.

‹Präparate› für den sozialen Prozess

FH In der Eurythmie im Sozialen sind eigentlich das Feld der Kreativität und das Feld der Gesundheit im ständigen Austausch miteinander, weil das Soziale davon lebt, dass der einzelne Mensch eine Individualität ist und dass wir alle im permanenten Austausch miteinander stehen, worin wir uns fördern wollen. Das wäre die positive Ambition zumindest. Und im sozialen Leben wird eben auch sichtbar, welche Zusammenhänge gesund sind und welche gerade eine Krankheit erleiden oder auch sterben. Bei dir habe ich biografisch gesehen, dass du in jüngeren Jahren sehr stark dein Interesse an der Bühneneurythmie ausgelebt hast, dann aber später Heileurythmistin wurdest. Du machst diese Klammer zwischen Kreativität und Gesundheit eigentlich innerlich zu und bist sehr aktiv im sozialen Feld. Sicher gehst du nicht in eine Gruppe und sprichst über Gesundheit oder Heilung von Beziehungen in diesem Kontext, aber ist die Eurythmie für das Soziale nicht auch eine Therapie?

NB Da muss man sehr vorsichtig sein und man sollte es keinesfalls so nennen. Denn ein Team in einem Unternehmen kommt nicht wegen eines Therapiewunsches zur Eurythmie. Aber was ist denn ein gesunder Organismus? Was ist denn ein Unternehmen, in dem die Menschen mit Begeisterung unter dem Leitbild arbeiten? Welches Charisma trägt man als einzelner Mitarbeiter zum Beispiel, wenn man Teil einer Organisation ist? Wenn man neu einsteigt irgendwo, ist man oft sehr motiviert, aber nach einigen Jahren flacht das ab. Wie kann man die Begeisterung warmhalten und mit anderen entdecken und teilen? Dass ich entflammt bin für das, was ich tue, und nicht nur ‹arbeite›, ist ein riesiges, noch unausgeschöpftes Potenzial.

FH Das heißt, dass man sein Potenzial ausschöpft, auch zum Wohle der Gemeinschaft, in der man arbeitet? Und durch die Eurythmie, die du zum Beispiel in solchen Arbeitsumgebungen anbietest, wird sichtbarer, dass dieser lebendige Zusammenhang besteht und wir nicht nur Funktionen bedienen?

NB Zum Beispiel: Wenn ich in einem gemischten Team eine relativ herausfordernde Eurythmieübung mache, von der alle zu Beginn glauben, dass wir sie nicht schaffen können, und dann braucht es 20 Minuten, und wir schaffen es doch. Dann sind alle überrascht, dass das möglich wurde, und sofort entsteht ein teamübergreifender Zusammenhalt. Wenn diese Menschen, die sonst nicht zusammenarbeiten, zurückgehen in ihre Tätigkeiten, sind sie viel beflügelter und wieder verbundener mit dem Ganzen. Das ist ein Potenzial-Tropfen für das ganze Unternehmen.

FH Eigentlich wie biodynamisches Präparate-Ausbringen, nur fürs Soziale! Wenn du aber in ein Unternehmen kommst, in dem die Stimmung gerade nicht so gut ist, weil es Konflikte gibt oder das Feuer verloren gegangen ist, dann schwingt doch die Frage nach der Heilung von bestimmten Beziehungen darin mit. Oder nicht? Dem kann man in der Arbeit im Sozialen nicht ausweichen.

NB In solchen Fällen würde ich es bevorzugen, gemeinsam mit jemandem, der die Mediation übernehmen kann, an die Arbeit zu gehen. Damit habe ich auch Erfahrungen. Und es ist oft so, dass der Mediator oder die Mediatorin dann ganz lange Gespräche in den Gruppen führt. Und meine Rolle ist dann die der Prozessbegleiterin. Ich höre die Gespräche und finde die Übungen für unsere Arbeit, die das, was schon gedacht wird, in die Tiefe, in die Erfahrung, ins Tun bringen. Durch Eurythmie werden solche Prozesse oft viel schneller, weil man zuerst die Gespräche führt, dann kommt eine Übung, die eine Erfahrung bringt, die man dann wieder reflektieren und mit den vorangegangenen Gesprächen vergleichen und verbinden kann.

FH Hast du dafür ein Beispiel, dass dies weniger abstrakt klingen lässt?

NB Einmal war ich mit einem Mediator in einem Unternehmen für drei Tage und am ersten Tag ging es um die Geschichte dieses Unternehmens, den Impuls etc. Am zweiten Tag um die Gegenwart und am dritten Tag um die Zukunft. Das wurde für alle Mitarbeitenden veranstaltet. Es ging sehr viel um Werte und auch um die Frage: Welche Werte lassen wir los und welche nehmen wir mit in die Zukunft? Und wie werden diese veralteten Werte dann erlöst? Die Gruppe hatte dafür Verschiedenes aufgeschrieben. Und wir haben, anstatt die Zettelchen zu verbrennen, mit der Eurythmiemeditation ‹Ich denke die Rede› gearbeitet. Anstatt von ‹Rede› haben wir ihre aufgeschriebenen Worte genommen und sind sie in dieser Eurythmieübung durchgegangen. Alles, was sie loslassen wollten, haben wir auf diese Art in der großen Gruppe in den Raum gestellt und dann zusammen an die geistige Welt ‹übergeben›. Das waren zwölf Sachen und zwölf Durchgänge, und es war eine große Gruppe und es hat Zeit gebraucht, aber es war ein Ritual, das für alle total befriedigend war.

FH Du hast Eurythmie auch als Erfahrungsweg unter den spirituellen Wegen geschildert. Und an deinem Beispiel fällt mir auf, dass das, was früher in Gemeinschaften durch Rituale vollzogen wurde, auch immer etwas war, das getan werden musste. Da kann Eurythmie in einer modernen und vielleicht spontaneren Weise auch einhaken.

NB Ja, und dafür war es wichtig, dass alle 45 Menschen dabei waren und nicht nur die CEOs über die Werte zusammensaßen. Es ist in diesem Moment wirklich durch alle durchgegangen und konnte sich dann auch verwandeln.

Eurythmie mutig in die Welt bringen

FH Das bringt mich zurück zum Begriff ‹bewegte Prozessbegleitung›. Du hast gemeinsam mit Rachel Maeder, Sonja Zausch und Lea Tsangaris 2023/24 dafür eine eurythmische Fortbildung ins Leben gerufen. Ich war bei diesem ersten Durchgang selbst Teilnehmerin. Und jetzt soll es zum zweiten Mal nach dem Sommer stattfinden. Wie kamt ihr dazu, von ‹bewegter Prozessbegleitung› zu sprechen?

NB Unser erster Jahrgang war ein ganz gemischter. Es gab frisch diplomierte Eurythmistinnen, aber auch ältere mit viel eigener Berufserfahrung. Und der Fokus lag deutlich auf der perspektivischen Arbeit mit Erwachsenen und darauf, wie ich in diese Arbeit mit Erwachsenen meinen Einstieg finde. Darauf bezieht sich der Titel einerseits. Andererseits geht es aber auch um die Haltung bei der Arbeit, dass wir mit der Eurythmie nicht im Zentrum, sondern begleitend zur Seite stehen. Dass wir auf die Prozesse hören, die gerade dran sind und daraus die Eurythmie für die Gruppe ableiten.

FH Was auch ein innovativer Teil eurer Ausbildung ist, ist die Zusammenarbeit mit einem sehr erfahrenen Organisationsberater, nämlich Hans Ruijs, der einige Module unterrichtet hat und bei dem die Teilnehmenden sich anfänglich im ‹Spiral Dynamics›-Modell für die Arbeit mit Organisationen und Unternehmen schulen können.

NB Ja, mit ‹Spiral Dynamics› kann man lernen, Werte einer Organisation zu erkennen. Und wir bauen das aus, indem wir uns dann fragen, wie wir sie durch eurythmische Übungen in einen Prozess bringen. Man bekommt also Werkzeuge an die Hand, um selbst mit der Eurythmie kreativ zu werden und das Richtige für jede Situation zu finden.

FH In meiner Erfahrung war es auch eine Herausforderung oder Forderung, die eigene soziale Intuition zu entwickeln. Einerseits wahrzunehmen, was sozial an einem Ort läuft, genau hinzuhören und hinzusehen, aber darauf nicht nur mit Gedanken oder Gefühlen zu antworten, sondern mit eurythmischer Fantasie, einem Griff.

NB Ja, genau! Es ist ein Feingefühl, das eigentlich fast jeder Mensch hat und mit dem wir noch viel wacher umgehen und es kultivieren könnten. Eurythmie ist im Grunde etwas sehr Nüchternes. Ich ‹versinke› nicht im Feingefühl, sondern mache daraus etwas nützliches. Eurythmie zeigt Situationen auf, an denen alle etwas lernen können. Und dann ist die Eurythmie einfach zwischen uns.

FH Gibt es etwas, das ihr als Dozentinnen gelernt habt aus dem ersten Durchlauf, was ihr jetzt im zweiten verändern werdet, was neu dazukommt?

NB Wir fangen im September mit einer neuen Konstellation in unserem Team an. Was wir auf jeden Fall mehr in den Blick nehmen möchten, ist die sogenannte Didaktik. Und auch die Kommunikation wird stärker im Fokus stehen – wie ich meine Eurythmie kommunizieren kann. Dafür wollen wir noch mehr Werkzeuge als beim letzten Mal anbieten. Insofern geht es noch ausdrücklicher um das Wie und nicht nur um das Was in dieser neuen Runde. Und wir veranstalten es jetzt international, das heißt auf Englisch. Wenn es gebraucht wird, auf Englisch und Deutsch. Sodass dann noch andere Leute aus dem europäischen Raum teilnehmen können.

FH Klingt gut. Zum Ende: Wenn du einen Rat hast für junge Eurythmisten und Eurythmistinnen, die sich auf diesen Weg begeben wollen, welcher ist das?

NB Mutig mit der Eurythmie überall hinzugehen, ganz kurz still zu werden und dann einfach zu machen!


Link youwithme (Anmeldeschluss für die Fortbildung ‹Bewegte Prozessbegleitung› ist der 15. Juli.)

Dieses Gespräch können Sie auch im Podcast ‹Anthroposophie zur Sache› hören. Auf unserer Webseite dasgoetheanum.com oder beim Podcast-Anbieter Ihrer Wahl.


Bilder Eurythmie am Arbeitsplatz mit dem Küchen- und Hauswirtschaftsteam der Klinik Arlesheim, Fotos: Nicolai Rissmann

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