Spiritualität des Weinens

Welche Bedeutung können Tränen heute haben? Was bringt uns heute zum Weinen, zu unserem Ich? Wo kommen wir durch Tränen zu uns selbst? Eine kleine Phänomenologie einer Spiritualität des Weinens.


Als der Papst am Ostermontag starb, weinten in Rom die Gläubigen. Manch einen mochte das befremden. Es war ja kein dramatischer Tod, etwa eines Kindes. Für viele, die die Kirche kritisch sehen, kam hier bloß eine religiöse Sentimentalität zum Ausdruck. Doch wenn wir weinen, verbirgt sich oft mehr dahinter. Vielleicht nicht gerade in diesem Fall, wo das individuell Ereignishafte, das Jähe, das zum Weinen gehört, verdrängt wird vom kollektiven Berührtsein von der eigenen Institution; für die rituell Trauernden fehlte jetzt eben der Vater, Gottes Stellvertreter.

Rudolf Steiner hat hier und da über die menschenkundlichen Dimensionen des Weinens und Lachens gesprochen. Sie sind ein Ausdruck des Ich. Im Weinen (weit mehr als im Alkohol) liegt Wahrheit. Nicht ‹die› Wahrheit, nicht eine. Aber etwas Wahres. Im Weinen kommen wir zur Ruhe. Wir kommen aber gewissermaßen auch zur Unruhe, denn das Weinen ist ja nichts, womit wir uns vor der Welt verschließen, um ‹unsere Ruhe› zu haben, sondern wir zeigen uns ihr im Weinen. Wir öffnen uns in unserer Angewiesenheit auf Trost, in unserem Uns-ein-Rätsel-Sein. Und wenn wir allein, nur für uns, weinen, zeigen wir uns der geistigen Welt, vielleicht den Engeln, den Verstorbenen, ganz sicher auch Christus.

Im Weinen berührt uns unser Schicksal. Worte versagen oft beim Bemühen, zu vermitteln, was nur in den eigenen Knochen, in der eigenen Haut, der eigenen Seele erlebt werden kann. Tränen deuten an, dass und wie sehr man unter einem Schicksal leidet. Vielleicht kann man sogar weinen aus Wut über sich selbst, weil man nicht weinen kann.

Dabei gibt alles Weinen aus sich heraus zu verstehen, ob es echt ist. Es ist kein Garant für Mitleid. Nicht das Jammern berührt uns, nicht automatisch die laut schluchzende Klage, wo man mit der Fassung stets auch ein wenig an Würde verliert. Eher das leise Weinen, dasjenige, das nichts will. Weinen kann aufdringlich, kann sogar gespielt, kann eine emotionale Erpressung sein. Fußballer etwa, die wegen des Geldes den Verein wechseln und vor der Kamera bittere Abschiedstränen vergießen, wirken eher peinlich.

Wir werden im Weinen von uns selbst berührt. Man kann aus Dankbarkeit weinen, vor Erleichterung, überwältigt vom Leben. Oder aus Bewunderung gegenüber der Schönheit der Natur oder einem Kunstwerk. Es können uns in der Meditation plötzlich Tränen kommen, weil man etwas erlebt, mit dem man nicht gerechnet hat. Manchmal kommt das Weinen zu uns fast so, wie uns eine Erkenntnis kommt

Schleier lüften

Was geschieht hierbei seelisch? Weinen öffnet ein Tor, lüftet einen Schleier. Es macht auch etwas mit dem, der es bemerkt. Er zögert vielleicht im Streit, hält inne, lässt es wirken, verlangsamt seine Wut. Phänomenologisch kommt beim Weinen etwas in Fluss. Verhärtetes löst sich auf, ohne dass deshalb schon eine Lösung des damit zusammenhängenden sozialen oder seelischen Problems in Sicht wäre.

Müssen wir uns zum Weinen bringen? Bringen wir uns dann zum Bewusstsein unserer selbst, auch als Gesellschaft? Gewiss nicht als eine Art Programm. Zu weinen ist etwas Intimes, das mit Scham zu tun hat. Die Redewendung, in der ich ‹eine Träne verdrücke›, ist noch kein Bewusstseinswandel. Aber aufmerksam sein in Begegnungen, wo ein anderer vielleicht nicht grundsätzlich ‹nah am Wasser gebaut›, aber wo er in seinem Wesen getroffen und verletzt ist, wo er sich als Ich zeigt, der Moment, in dem der andere zwar noch nicht faktisch weint, aber sein Auge feucht wird, er sich ‹zusammennimmt›, sich beherrscht, alle Kraft aktivieren muss, um eben gerade nicht zu weinen, in diesem Kurz-davor-Sein kann sich ein Raum der Liebe auftun, wenn ich ihn für den anderen wahrnehme, wenn ich ihn für den anderen öffne.

«Die Träne quillt, die Erde hat mich wieder», heißt es in Goethes ‹Faust›. Es ist der Oster-Moment, in dem Faust in letzter Sekunde von seinem Vorsatz, sich das Leben zu nehmen, ablässt. Zu weinen hat etwas zu tun mit unserer Existenz als ‹gefallene›, irdische, schuldfähige Menschen, mit der Gabe des Gewissens.

Als von dem CDU-Kanzlerkandidaten Armin Laschet im vorletzten Bundestagswahlkampf ein Video viral ging, in dem er, ausgerechnet bei einem Besuch von Opfern einer Flutkatastrophe, mit neben ihm stehenden Mitarbeitenden lachte, galt dies als Paradebeispiel einer persönlichen Medienkatastrophe, und seine Chancen gingen von da an ‹den Bach hinunter›. Dass Laschets Lachen nur eine kurze allzu menschliche Regung gewesen sein mochte, die nicht im Geringsten im Zusammenhang stand mit dem Anlass seines Besuchs, war egal. Die Reaktion war fassungslose Entrüstung. Bei jenen, die es gut mit ihm meinten, Mitgefühl angesichts des Fauxpas, und beim politischen Gegner Schadenfreude. Gibt es zu ihr ein Pendant? Gibt es tiefste Freude darüber, dass jemand den Zusammenhang mit sich selbst wiederfindet?

Im Evangelium der Auferweckung des Jünglings zu Naïn (Lukas 7, 11-17), wohin Jesus «auf seinem Weg» gelangte, bietet das Griechische für Christi ‹Erbarmen› auch die Übersetzung ‹innerlich bewegt sein› an. Christi Mitgefühl gibt ihm die Kraft, zu heilen, Totes zum Leben zu erwecken. Bewegtsein impliziert, dass Christus in dem Moment am Stadttor, an einer Schwelle, fühlte, wie das Göttliche auch in ihm selbst auferweckt, wie es erregt wurde, und er konkret ‹weinte› oder erzitterte, wenn auch kaum merklich.

Wahrnehmen, wo einem anderen nach Weinen zumute ist, anerkennt, dass wir als Menschheit gemeinsam auf einem Weg sind. Es bewertet nicht. Auf dem Weg sein kann dem unfehlbaren Papst so zugesprochen werden wie dem Politiker, der gefehlt hat. Neue Wege fangen oft gerade im ‹Fehlen› an. Es ist die innere Verbindung mit dem anderen, das jähe Bewusstwerden einer geistigen Sehnsucht, die im Phänomen des Weinens ‹exoterisch-physiologisch› auf ein esoterisches Geheimnis aufmerksam machen: auf die unendliche Tiefe des Ich eines jeden Menschen.


Bild Trauernder vom Grabmal Johanns ohne Furcht. Foto: Own work Shonagon, 2013

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