Im Jahr 2020 wurde zum ersten Mal ein Fragment gebliebener, bisher noch unbeachteter Text Rudolf Steiners veröffentlicht, der Bedeutendes zur Fähigkeit des Menschen enthält, ein anderes Ich als Ich wahrzunehmen.
Im mustergültig herausgegebenen Band von Rudolf Steiners Gesamtausgabe, der die zahlreichen nachgelassenen Abhandlungen und Fragmente sammelt, wird eine bisher noch unbeachtete, auf die Jahre 1903 bis 1909 datierte Skizze zum ersten Mal veröffentlicht. Sie betrifft den Unterschied zwischen dem menschlichen und dem tierischen Organismus.1 In dieser Skizze, wahrscheinlich auch um 19102 , sind Anregungen enthalten, die für alle anthroposophisch Forschenden Bedeutendes und vielleicht sogar Neues zur Vertiefung des anthroposophischen Menschenbildes beitragen.
Steiner betont in der gemeinten Skizze, dass der Mensch sich als selbstständiges Geistwesen deshalb erleben kann, weil er durch eine teilweise Mineralisierung des eigenen physischen Wesens aus seiner Organisation den Geist ‹herausholen›, und somit eine bewusstere ‹Vergeistigung› erleben kann. Diese Vergeistigung hängt damit zusammen, dass der Mensch einerseits im gegenwärtigen Entwicklungsstadium «weniger von ihm [das heißt vom Geist] durchsetzt ist, aber dafür sein Anteilnehmer» sein kann, andererseits «Lebensbedingungen» um sich hat, die ihm eine «Sinneswelt» begegnen lassen.3 Demzufolge kann der Mensch an der Außenwelt in einem höheren Grad teilnehmen als das Tier, dessen Organisation mehr vom Geist durchdrungen bleibt. So ist «die Tierheit viel mehr als die Menschheit in sich organisch abgeschlossen» und ihr Leben ist rein seelisch, während «das Menschliche seelisch-geistig» ist: «[…] der Mensch gestaltet sich seinen Organismus geistig und lebt mit ihm in der Welt als Geist».4
Ich und Gestalt
Nach den hier nur angedeuteten einführenden Bemerkungen entwickelt Steiner eine Charakterisierung in Bezug auf die menschliche Gestalt, die einige wesentliche Aspekte späterer, den Sinnesorganismus betreffender Vertiefungen beeindruckend vorwegnimmt.
Nach Steiner kann der Mensch das eigene Ich und ein anderes Ich dadurch erleben, dass seine Gestalt ein gewisses Kräfteverhältnis zwischen Gehirn/Kopf und Rückenmark offenbart, aus dem «heraus auch die Beziehung der Hände und Arme zu den Füßen und Beinen zur Offenbarung» kommt: «Dieses Kräfteverhältnis mit allen seinen Folgen erlebt der Mensch in einem dumpfen Bewusstsein als dasjenige, was sein Ich trägt. Und indem er einem anderen Menschen gegenübersteht, nimmt er dessen Ich unmittelbar in dieser Gestalt wahr. Beide Wahrnehmungen, die des eigenen Ich und die des fremden Ich, leben auf dem Grunde des gewöhnlichen Bewusstseins wie die Erlebnisse des Schlafbewusstseins. Nur dass das Letztere mit dem gewöhnlichen Bewusstsein abwechselt, das dumpfe Bewusstsein vom ‹Ich› dieses gewöhnliche Bewusstsein stets begleitet».5
Die Tatsache, dass sich nicht der direkt gestaltende geistige Gedanke, sondern das beschriebene ‹Gleichgewichtsverhältnis› in der menschlichen Gestalt offenbart, ermöglicht dem Menschen «die Fähigkeit des Denkens als eine besondere Seelenkraft». Die menschliche Organisation ist, anders gesagt, nicht so gebildet, dass «der Gedanke in die organische Gestalt restlos einfließt». Deshalb trägt der Mensch gleichsam das Wesen des Denkens «gestaltenlos als lebendiges Weben seines Denkens in sich», sodass «die menschliche Seele […] leibfrei gestaltenlos ein Eigenleben» leben kann.6
Ich-Sinn und freies Wollen
Die hier betrachteten Ausführungen vermitteln also weitere Evidenz dazu, dass Steiner sich schon mehrere Jahre vor der Ausführung in Vorträgen mit der Tätigkeit des Sinnesorganismus befasst hatte, die mit dem Ich-Sinn, das heißt mit der Wahrnehmung des anderen Ich in der physischen Begegnung zwischen Menschen verbunden ist.7 Diese Tätigkeit, die er schon in den Jahren um 1909 auf das Urbild/den Typus des Wahrnehmungsorgans, und somit die menschliche Sinnestätigkeit bezieht8, verbindet er erst im Vortrag vom 2. September 1916 ausdrücklich mit der ausgehend vom Kopf betrachteten menschlichen Gestalt, die dort als Organ vom Ich-Sinn bezeichnet wird9. Im genannten Vortrag wird diese Verbindung doch nicht weiter expliziert, wie es dagegen in der hier behandelten Skizze geschieht. Und erst im Vortrag vom 29. August 1919 verbindet Steiner die Tätigkeit des Ich-Sinns – in dem Vortrag die längste erhaltene Beschreibung davon gebend –, und somit die Wahrnehmung des fremden Ich, wie es in dieser früheren Skizze geschieht, explizit mit dem Abwechseln von Schlaf- und Wachbewusstsein im Augenblick der Wahrnehmung.10
Dabei ist das Neue in der hier besprochenen Skizze, dass die Wahrnehmung des eigenen und des anderen Ich explizit auf eine einzige gemeinsame Quelle, beziehungsweise auf die oben angedeuteten Kräfteverhältnisse in der menschlichen Gestalt zurückgeführt wird. Dies ergänzt das Bild späterer Ausführungen, in denen die Wahrnehmung des eigenen Ich nur mit dem Tastsinn sowie mit dessen organischem Hintergrund verbunden wird.11 Denn die menschliche Gestalt ist in dieser Skizze ausdrücklich als Grund der Ich-Wahrnehmung in Bezug sowohl auf die rein innere Erfahrung des eigenen Ich als auch auf die Öffnung des Ich für die unmittelbare Wahrnehmung eines anderen, zunächst rein äußeren Ich bezeichnet. Die menschliche Gestalt bewirkt, in anderen Worten, die stimmige, dynamische Einheit von Innen/Innerlichkeit und Außen/Äußerlichkeit gerade im Verhältnis zu den zwei entscheidenden Begegnungen in einem menschenwürdigen Leben: Die Begegnung mit dem eigenen Ich-Erlebnis und die Begegnung mit der Gegenwart des anderen Ich im eigenen wahrnehmenden Ich.12
Ausgehend vom Gleichgewichtsverhältnis, das seine Gestalt durchdringt, kann der Mensch außerdem das eigene freie Wollen in der Welt offenbaren. In seiner Wahrnehmung hat der Mensch nämlich das Bewusstsein, «er stehe mit seinem in seine Tat übergehenden Wollen als geistiges Wesen in derselben Welt, in welcher er durch das Erleben des Gleichgewichtsverhältnisses mit seinem Ich steht. Als Geist lebt der Mensch in der Empfindung des Weltengleichgewichts und in seinem durch das Wollen bestimmten Handeln».13
Die Kräfteverhältnisse der Gestalt ermöglichen dem Menschen, anders formuliert, ein freies sowohl Ich- als auch Weltwesen zu sein. Sein Wollen ist deshalb frei, weil es außerhalb des Leibes als «welthemmend oder wetlfördernd» wirken kann, «in die objektive Geistwesenheit» dringend14: Im Menschen ist das Wollen kein «unmittelbares Ergebnis der Leibesorganisation und deren Bestimmtsein durch die Außenwelt. Beim Menschen wird das Erleben der Außenwelt bestimmend für das Wollen. Im Willen schaltet der Mensch seine Leibesorganisation aus. Er vollbringt durch sein Wollen, was mit seiner Leibesorganisation nichts zu tun hat».15
Demzufolge kann das Wollen das Wirken des freien Ich offenbaren, und somit das Gute frei wollen, worauf die im Jahr 1924 gegebene ‹Wärme-Meditation› urbildhaft hindeuten wird.16
Ich als Quadratur des Kreises
«Im Ich-Bewusstsein lebt der Geist in den durch das Menschliche bedingten Gleichgewichtsverhältnissen. Er lebt im Physischen; aber nur durch im Physischen wirksame Kräfte». Mit dieser Formulierung bricht die hier betrachtete Skizze ab17: Sie bleibt eben Fragment. ‹Fragment› bedeutet wortwörtlich ‹Ergebnis eines Abbrechens/Abbruchs›. Dieses Abbrechen impliziert jedoch nicht den Abbruch des Forschungswegs, den Steiner hier voraussetzt. Dieser Weg ist ihm so wichtig, so essenziell, dass er – nicht so lange nach der Verfassung dieser nicht genau datierbaren Skizze, oder sogar in ihrer zeitlichen Umgebung? – ein Buch schreiben will, das einerseits schlichtweg den Titel ‹Anthroposophie› trägt. Andererseits klingt darin in vielerlei Hinsicht eine Anknüpfung nicht nur an die letzten Worte dieser Skizze, sondern auch an ihren impliziten Hinweis auf die Sinneswahrnehmung und den Sinnesorganismus als Voraussetzung einer tieferen Vergeistigung des Menschen. Sinneswahrnehmung und -organismus sind die entscheidende Voraussetzung für die Begegnung mit der Sinneswelt, die in dieser Skizze, wie oben angedeutet, mit jener Vergeistigung verbunden wird.18
Das Fragment gebliebene Buch ‹Anthroposophie› kann nämlich, wie insbesondere seine Kapitel III und VI zeigen19, als Versuch wahrgenommen werden, die Sinneswahrnehmung und die Sinne ausgehend vom Ich und vom Ich-Erlebnis zu vertiefen20, und sie somit immer mehr als Feld verständlich zu machen, in dem das freie Leben eines geistigen Wesens im Physischen gegenwärtig werden kann.
Trotz der späteren Vertiefungen, die Steiner dem Sinnesorganismus widmen wird, bleibt jedoch, soweit mir bekannt, ein entscheidender Hinweis der hier behandelten Skizze doch einmalig: Die hier hervorgehobene Verbindung jeglicher Ich-Wahrnehmung – sei es derjenigen des eigenen, sei es derjenigen eines anderen Ich – mit den Kräfteverhältnissen, die in der menschlichen Gestalt einerseits die Beziehung von Gehirn/Kopf und Rückenmark, andererseits die Beziehung der Hände und Arme zu den Füßen und Beinen bestimmen. Den Gedanken, Steiner hätte irgendwann diese Verbindung nicht mehr als stimmig beachtet, empfinde ich als absurd. Eher ist anzunehmen, dass er sie deshalb nicht mehr aufgriff, weil sie auf das außerordentlich komplexe Thema der Quadratur des Kreises hindeutet, und vielleicht niemand ihm eine Frage nach dem Verhältnis dieses Themas zum Menschen stellte. Wie Kaspar Appenzeller zeigte, wird die Antwort auf diese Frage in den Grundverhältnissen der menschlichen Gestalt gegenwärtig, auf die Steiner in dieser – von Appenzeller natürlich nicht bekannten! – Skizze hindeutet, und die wiederum im sogenannten, von Leonardo aufgegriffenen vitruvianischen Menschen offenbar werden.21 In anderen Worten: Die menschliche Gestalt vergegenwärtigt deshalb eine transzendente, eine unabgeschlossene und unabschließbare Zahl – die Kreiszahl Pi –, weil diese Gestalt nicht den ‹waltenden Gedanken› ausdrückt, sondern Gleichgewichts- beziehungsweise Kräfteverhältnisse vergegenwärtigt, die den Menschen wesentlich weniger organisch abgeschlossen machen als andere Lebewesen.
Der Mensch als unabgeschlossene Gegenwart
Die gerade angesprochene organische Unabgeschlossenheit ermöglicht dem Menschen ein Leben als freies Ich, als freies geistiges Wesen im Physischen. Die Aufmerksamkeit auf dieses Unabgeschlossene als Grund für die Gegenwart des Ich in sich selbst und im anderen Menschen ist vielleicht das fruchtbarste Vermächtnis, das wirklich Neue, das wir der Skizze verdanken, die hier nur ansatzmäßig vertieft wurde. Immer mehr Instanzen und Tendenzen unserer Zeit möchten uns davon überzeugen, dass Streben nach immer mehr abgeschlossener Einheit in allen Gebieten des Lebens Frieden und Glück schenken würden. Immer mehr soll dies durch die Ersetzung des Sinnesorganismus, und mithin der freien Wirkung der menschlichen Gestalt erreicht werden, die Steiner revolutionär als Ich-Organismus und Ich-Gestalt vertiefen wollte. Wäre die gemeinte, immer mehr abgeschlossene Einheit jedoch nicht immer mehr Verzicht auf Gegenwart und Zukunft, immer mehr Sog in Richtung eines Vergangenen. Abgeschlossenes kann nur Ergebnis eines Vergangenen sein! –, das sich als Vorwegnahme der Zukunft mehr oder weniger geschickt maskiert? Kann sich Gegenwart nämlich wirklich ereignen, wenn nicht als schöpferischer Abbruch eines Vergangenen, dessen fortrollende, unbestimmte Fortsetzung keine Zukunft, sondern nur geistlose Wiederkehr des Identischen als immer mehr abgeschlossene Einheit bedeuten würde? Nur wenn Vergangenes schöpferisch Fragment-Abbruch, das heißt Diskontinuität, werden kann und darf, wird Gegenwart im Physischen, und somit Schwelle zu einer wirklichen Zukunft des Irdischen, möglich: Schwelle zu einer stimmigen Verwandlung, die als Stimme des Ich erklingen kann, dessen Gegenwart, die Gegenwart des Menschen sich nie als Abgeschlossenes, als nur Quadrat oder als nur Kreis, ereignen kann.
Bild Irene Melito, Aurea Quadratura (Goldene Quadratur), Öl und Pigment auf Leinwand (100 x 120 cm), 2023.
Fußnoten
- Rudolf Steiner, Nachgelassene Abhandlungen und Fragmente. GA 46, Fragment 50, Basel 2020, S. 486–498.
- Am 10. und 17.11.1910 hält Steiner in Berlin Vorträge zu ‹Menschenseele und Tierseele› und ‹Menschengeist und Tiergeist› (in: Antworten der Geisteswissenschaft auf die großen Fragen des Daseins, GA 60, Dornach 1983).
- Ebd., S. 489.
- Ebd., S. 490.
- Ebd., S. 492.
- Ebd. sowie S. 494.
- Zum Ich-Sinn vgl.: Salvatore Lavecchia, Ich-Sinn und Ich-Bild. Wahrnehmen jenseits von Innen und Außen. Stil 46-4 (2024), S. 71–77; sowie Sebastian Lorenz, Der Ich-Sinn und sein Organ. Anthroposophische Sinneslehre und heutige Neuropsychologie. Stil 44-1 (2022), S. 35–41; Detlef Hardorp, Rudolf Steiners Wirken um das Jahr 1910: «Von den Anthroposophie-Vorträgen des Jahres 1909 zum Fragment gebliebenen Buch ‹Anthroposophie› (1910). Eine Untersuchung der Textgenese im Lichte bisher unveröffentlichter Notizbucheintragungen, Archivmagazin 13/2023, S. 74–132, insb. S. 101–124.
- Vgl. Rudolf Steiner, Anthroposophie. Ein Fragment. GA 45, Dornach 2002, S. 186; sowie Salvatore Lavecchia, Anthroposophie als Revolution der Sinne. Goetheanum 25/26 (21. Juni 2019), S. 6–9; ders., Ich als Gespräch. Anthroposophie der Sinne. Stuttgart 2022, S. 37–43.
- Rudolf Steiner, Das Rätsel des Menschen. GA 170, S. 242.
- Rudolf Steiner, Allgemeine Menschenkunde als Grundlage der Pädagogik, GA 293, Basel 2019, S. 133–135.
- Vgl. z. B. Rudolf Steiner, Vortrag vom 29.11.15, in: ‹Mitteleuropa zwischen Ost und West›. GA 174a, Dornach 1982, S. 86; Vortrag vom 2.9.16, GA 170 (zit.) S. 249–251.
- Zu dieser Gegenwart vgl. GA 45 (zit.), S. 186–199; GA 293 (zit.), S. 133–135; sowie: Die Philosophie der Freiheit, GA 4, 1. Anhang 1918, Dornach 1995, S. 260–261.
- GA 46, S. 493.
- Ebd., S. 495.
- Ebd., S. 496.
- Rudolf Steiner, Mantrische Sprüche. Seelenübungen II. GA 268, Dornach 1999, S. 296–297.
- GA 46 (zit.), S. 497.
- Ebd., S. 489.
- GA 45 (zit.), S. 34–42 und 62–65.
- Vgl. dazu Hardorp (zit.).
- Kaspar Appenzeller, Die Quadratur des Zirkels. Ein Beitrag zur Menschenerkenntnis, Basel 1979. Zum vitruvianischen Menschen vgl. das informative Wikipedia.