Im Oktober feiert die ‹Faust›-Inszenierung von Andrea Pfaehler am Goetheanum ihre Premiere. Diesmal mit Rafael Tavares als Eurythmie-Regisseur.
Es ist das Alltäglichste. Es geschieht fortwährend und ist doch jedes Mal ein Geheimnis, ein Wunder. Die Gegenwart eines Menschen – seine Stärke, seine Verletzlichkeit, sein Blick, seine Regung. Theater hebt diesen Zauber, zeigt ihn, öffnet ihn, hält ihn an. «Es geht mir um diese Schnittstelle, um diesen Berührungspunkt von dem Menschen mit seinem ganzen Rucksack an Leben, Erfahrungen, Gefühlen, Gedanken, Taten», so eröffnet Andrea Pfaehler unser Gespräch. Tatsächlich, die Gegenwart eines Menschen ist sein Jetzt und zugleich all das, was an Erfahrung und Zielen, an Vergangenheit und Zukunft in ihm ist. Was Menschen mit Nahtoderfahrung als Lebenspanorama beschreiben, das geschieht unbewusst bei jeder Begegnung. Das ist die Gegenwart des Menschen! Es gibt die Gegenwart seiner Vergangenheit. In sie entführt uns Goethe im ‹Faust› gleich dreifach: Zuerst erzählt der Dichter selbst, wie es ihm beim Verfassen des großen Werkes ging: «Ihr naht euch wieder, schwankende Gestalten, die früh sich einst dem trüben Blick gezeigt.» Gemeint sind Faust, Helena, Gretchen und Mephisto – Gestalten, die sich schon dem kindlichen Blick Goethes zeigten, noch undeutlich, durch den Schleier früher Ahnung.
Dann öffnet sich der Himmel und führt in die Urzeit der Schöpfung, die Gegenwart der großen Vergangenheit: «Die Sonne tönt nach alter Weise!» Und dann, wie bei einem Tempel, bei dem drei Tore in sein Heiligstes führen, folgt die dritte Gegenwart des Vergangenen, jetzt von Faust in seinem Studierzimmer. Um ihn türmen sich Bücher und Pergamente, die Fülle des Wissens, die Fülle der Vergangenheit, und er zählt im ersten Satz auf, was er studiert hat und wie es ihn mehr gefesselt als befreit habe. All dies Gewordene und Erfahrene mündet in den Moment der Gegenwart, in den Augenblick, den Wimpernschlag des Jetzt. Im alltäglichen Leben ist dieser wirklichste Moment des Zeitflusses, das Jetzt, immer schon vorbei, wenn er sich ereignet. Anders im Theater: Andrea Pfaehler: «Auf der Bühne, im Spiel, da kann man die Zeit anhalten. Mit einer Regung, einem Atemzug zwischen zwei Zeilen, einem Blick zum Gegenüber bleibt alles stehen – auf der Bühne und im Publikum. Das ist die Stille des Augenblicks, in der das eigene Leben von uns, zu sprechen beginnt.» Die dritte Gegenwart gilt unseren Wünschen und Zielen, Ängsten und Hoffnungen. Es ist die Gegenwart der Zukunft. «Drum hab’ ich mich der Magie ergeben», kündigt Faust seine Befreiung ins Unbestimmte an. Dass Befreiung oft neue Fesseln um die Füße schlägt, ist dann einer der vielen Widersprüche, die das Leben bereithält, wenn man sich ihm ganz überlässt. Mit Mephistos Versprechen brandet die Gegenwart der Zukunft ein:
«In diesem Sinne kannst du’s wagen.
Verbinde dich; du sollst, in diesen Tagen
Mit Freuden meine Künste sehn,
Ich gebe dir, was noch kein Mensch gesehn.»
Drei Gegenwarten in jedem Menschen, in jedem Augenblick. Rudolf Steiner nennt sie kosmisch ‹Mond› als das Gewordene, ‹Sonne› als das Mögliche und das ‹Tor› als Gegenwart der Gegenwart zwischen ihnen als Moment möglicher Befreiung und Freiheit. Was Faust in diesem Spiel von Erfahrung und Erwartung, von Wunden und mutigem Aufbruch von uns unterscheidet, ist wohl das beinahe völlige Fehlen von Angst. Sagt er bei der Erscheinung des Erdgeistes noch: «Weh! ich ertrag’ dich nicht!», will er beim Anblick des Teufels, wenn nicht das Böse, sondern die Quelle des Bösen sich zeigt, dessen Namen wissen:
«Bei euch, ihr Herrn, kann man das Wesen
Gewöhnlich aus dem Namen lesen,
Wo es sich allzu deutlich weist,
Wenn man euch Fliegengott, Verderber, Lügner heißt.
Nun gut, wer bist du denn?»
Wenn in der Hexenküche, die Höchste oder vielmehr Abscheulichste dort mit einem Trank das Rad der Zeit zurückdreht, Faust Jugend schenkt, kommentiert er lakonisch:
«Nein, sage mir, was soll das werden?
Das tolle Zeug, die rasenden Gebärden!»
Faustischer Mut, faustische Angstfreiheit ermöglicht die dritte Gegenwart, die Gegenwart der Zukunft. Gerade mit dieser Perspektive, dem Blick auf das, was kommt, was wird, tut sich unsere Zeit schwer. Das Versprechen der Wohlstandsgesellschaft, Angst und Schmerz nehmen zu können, ist mit dem bröckelnden Fortschrittsglauben brüchig geworden. Andreas Reckwitz beschreibt in seinem Buch ‹Verlust›, dass die modernen Gesellschaften mit Unsicherheit in Natur, Kultur und Seele eine Verlusteskalation erleben. Umso interessanter ist deshalb die Figur des Faust, dessen Welt zerbricht – oder genauer, der selbst sie zerstört –, dabei aber seinen Mut nicht verliert. Dieses Gewebe im Faust aller drei Zeiten, dem Vergangenen, Gegenwärtigen und Zukünftigen, hebt das Stück aus der Zeit, macht es zum Mythos.
Faust 2025 im Goetheanum
10.–12. Oktober
18.–19. Oktober
25.–26. Oktober
Tickets faust.jetzt
Inszenierung: Andrea Pfaehler, Eurythmie: Rafael Tavares, Co-Regie: Isabelle Fortagne, Dramaturgie: Wolfgang Held, Musik: Balz Aliesch, Licht: Thomas Stott / Dominique Lorenz, Bühnenbild: Nils Frischknecht, Kostüme: Julia Strahl
Foto Xue Li
Betrifft den Artikel: Die Gegenwart von uns Menschen
Guten den Artikel Tag zusammen,
ich lese diesen Artikel und stoße in der fünften Zeile auf das Wort „Schnittstelle“: „Es geht mir um diese Schnittstelle, um diesen Berührungspunkt von den Menschen…t“.
Schon vor ein paar Tagen stieß ich (wieder) auf dieses Wort „Schnittstelle“. Und es fiel mir wieder ein, was wahrscheinlich das für mich sehr wichtig war während meines Ingenieur-Studiums und auch danach. Ich weiß den Wortlaut nicht mehr genau, aber es war ungefähr so: . Ein Dozent sprach uns an: wir sollten nicht von Schnittstellen ( der Begriff Schnittstellen war in vieler Munde damals. Ein Fachausdruck, eine Fachterminologie ) sprechen, sondern von Verbindungsstellen. Wenn wir ein Gerät entwickeln wollen, dass aus einzelnen Bauteilen, Modulen besteht, dann müssen wir sie verbinden, dass es nachher auch funktioniert. Auf Verbindungen kommt es an, nicht nur in der Technik.
Mit verbindenden Grüßen, Lothar Flachmann, Bielefeld