Dem Ewigen Gegenwart schenken

Für die ‹Faust›-Inszenierung am Goetheanum laufen jetzt die Proben. Was ist das für ein Entwicklungsraum? Ein Gespräch von Wolfgang Held mit Andrea Pfaehler, Regisseurin und künstlerische Leiterin der ‹Faust›-Produktion.


20 Schauspielerinnen und Schauspieler spielen im Oktober gemeinsam mit der Eurythmie Goethes ‹Faust›. Wie wird aus ihnen ein Ensemble?

Andrea Pfaehler Wir proben mit dem Zielpunkt Premiere am 10. Oktober. Das ist mit jedem Spieler und jeder Spielerin eine ganz eigene Reise – unendlich verschieden. Und doch ist das Ziel für uns alle das gleiche. Das ist ein Geheimnis, dass wir alle, auf so vielen verschiedenen Wegen, uns dann doch zur Aufführung gemeinsam treffen. Dabei ist nicht nur der Weg für jeden eine eigene Sache, sondern auch das Tempo dieser Reise. Um im Bild zu bleiben: Auch das Vehikel dieser Reise ist für jeden anders.

Gibt es bei dieser Reise auch Sprünge?

Ja, in den Proben, aber interessanterweise auch in den Zeiten, in denen das Gearbeitete ruht und sich senkt. Die Szenen entwickeln sich dann weiter. Darauf müssen wir bauen und können doch nicht voraussagen, was da innerlich geschieht. Da gibt es keine Sicherheit.

Was gibt dir dann Vertrauen?

Es ist mir manchmal selbst etwas rätselhaft, was mir, was uns den Boden schenkt, und es gibt auch Zeiten, in denen sich die Fragen und Baustellen dieser neunstündigen Inszenierung ziemlich auftürmen – hier fehlt dies, dort fehlt das. Ich glaube, das Vertrauen kommt von zwei Seiten: einmal von dem, was die Spieler und Spielerinnen in sich tragen, welchen Schatz da jeder mitbringt, und dann von Goethes ‹Faust› selbst – dem Stück. Das ist so groß, dass es uns alle trägt. Und: Wir fangen ja auch nicht bei null an, sondern können mit der neuen Besetzung auf die bestehende Inszenierung von 2020 zurückgreifen.

Da schenkt etwas Vertrauen und gleichzeitig bedeutet Ensemblearbeit, sich Vertrauen zu geben – oder?

Zu proben bedeutet für die Spielenden, sich vollständig zu offenbaren. Die Spielenden geben ihr Ganzes, alles, was sie in diesem Moment zur Verfügung haben. Und das geht nur in einem Vertrauensraum – einem umfassenden Ja zueinander. Als Regisseurin sehe ich, wohin es sich entwickeln sollte. Viel wichtiger für mich ist es, ganz offen zu sein für jeden Einzelnen, denn aus ihm oder ihr geschieht das Spiel. Das ist es, was Regie für mich ausmacht: im Gespräch, im gemeinsamen Sehen und Hören Bedingungen zu schaffen, unter denen jeder sein Potenzial entfalten kann. Ich bin übrigens sehr froh über die gemeinsame Arbeit mit Rafael und dem Eurythmie-Ensemble. Das ist eine Bereicherung!

Es geht um das gegenseitige Vertrauen – das Vertrauen der Spielenden untereinander und das zu mir. Das ist ein hohes Gut, dass ich in den Einzelnen die Stärke sehe und nicht etwas verlange, was schadet. Das ist auch eine Vertrauensfrage an mich. Ich muss darauf vertrauen, dass das wird. Es ist ein Vertrauensraum, und deswegen ist es auch so schwierig, wenn in Proben jemand zuschaut, der nicht involviert ist. Wer so frisch hereinkommt, möchte – und das verstehe ich gut – das Ziel sehen, das die Probe erreicht. Er oder sie schaut ergebnisorientiert. Und das ist heikel, weil jede Probe ein Stückchen Weg ist und überhaupt kein Ergebnis. Es ist ein Weg, auf dem die Gegenwart des Ziels irgendwie aufleuchtet. Und zugleich darf ich das nicht als Endpunkt nehmen. Das Ziel muss immer vor Augen sein und zugleich sollten wir uns hüten, in der Gegenwart davon zu sprechen, wo es hingehen soll, wie dieses Ziel aussehen könnte. Dann verlieren wir diese Alchemie der Gegenwart.

Welche Rolle spielen Fehler bei der Suche nach dem richtigen Ausdruck?

Das Ding ist, man kann keine Fehler machen! Es gibt in den Proben keine Fehler. Es ist alles so offen. Wenn Dynamik, Gedankenführung, Ausdruck und Handlung zusammenspielen, dann stimmt‘s. Das immer wieder zu erzeugen, bedeutet, weiter, tiefer, exakter zu werden. So sind im besten Fall die Probenschritte bis zur Aufführung.

Jede Probe ist eine Aufführung?

Nirgends steht, wie es richtig sein sollte. Weil das Richtige erst aus dem Tun im Moment entsteht. Und dieser Moment ist morgen schon wieder ein bisschen anders. Was gleich bleibt, ist der Text. Die Nadel im Kompass ist der Text. Aber wie wir den Text spielen, in welcher Stimmung und in welcher Lautstärke, in welcher Kraft und inneren Bewegung, da gibt es nicht richtig und falsch. Fehler können wir wohl nur da machen, wo wir zuvor schon eigentlich wissen, wie es gut ist. Das ist im Schauspiel anders. Man kann nur sagen: ‹Das war jetzt vielleicht ein bisschen zu sehr von … › oder ‹Hier sollte weniger sein von …›. Dieses Gebäude, in dem wir sonst unterwegs sind, wo wir wissen, das ist die richtige Tür und die ist jetzt falsch – dieses Gebäude gibt es auf der Bühne nicht.

Und doch gibt es in der Kunst den Ausdruck, der überzeugt, der genau so stimmt, wie er ist, wo in der Freiheit scheinbar etwas Notwendiges erscheint. Das ist doch das Wunder der Kunst – oder?

Das ist für die Person, die schaut und hört, wohl so. Für den Kunstschaffenden gilt immer, dass du es so oder aber auch ganz so oder auch anders machen kannst, weil es eben nicht das Objektive gibt. Vielleicht meinen wir: Wenn dafür nicht gestorben wird, wenn ich innerlich nicht sterbe, dafür, dass das jetzt der richtige Ton war, dann geschieht dieses Wunder nicht. Eigentlich sterbe ich dafür, dass es genau so ist. Aber das weiß ich vorher nicht. Das weiß ich erst dann, wenn es geschieht. Da ist das Schauspiel so frei. Kann ich sagen: ‹Die Form ist jetzt nicht genau gelaufen›? Die Präzision, die Genauigkeit, liegt in der seelischen Schicht. Wir fragen zum Beispiel in der Kerkerszene von Gretchen in jeder Zeile: ‹Aus welcher Schicht denke ich, dass die Figur gerade spricht?› Ich kann hier den Spielenden nur Futter geben, damit sie an eine Schicht in sich herankommen und daraus sprechen, denken, handeln. Meine Aufgabe besteht – neben dem, dass ich das Ganze zusammenhalte, eine Richtung gebe und die Schauspielenden herausfordere – für eine vertrauensvolle Stimmung zu sorgen, die einlädt, innere Räume zu erforschen und künstlerischen Grenzen auszuloten.

Sie begegnen sich da auch neu?

Ja, ich hoffe, ich denke, im besten Fall. Da kann das Grundkonzept einer Szene stehen. Da kann ich mir im Kopf alles ausmalen, was wir mit der Szene erzählen wollen, wie die Beziehung der Figuren zueinander ist, und diese konzeptionelle Arbeit ist natürlich wichtig – für mich. Und dann fängt Gretchen, Faust oder Mephisto da vorn an, zu spielen, und dann ist vieles ganz anders. Die Gedanken haben sich gelohnt, alles Reden war wichtig, aber wie die Szene wird, das ergibt sich in dieser tieferen Quelle.

Da fällt manchmal ein Kartenhaus zusammen?

Ja, weil die Gegenwart so stark ist. Wenn es in einer Probe einen anderen Weg geht, als wir dramaturgisch überlegt haben, dann ist die Frage ja, sagst du jetzt: ‹Nee, das haben wir anders gedacht›, oder sagst du: ‹Ja, gehe da weiter und schaue, wo es dich hinführt›? Ich würde einen Schauspieler immer darin ermutigen, seinen Impulsen zu folgen. Ich muss froh sein, wenn er Impulse hat, Angebote macht und aus dem schöpft, was im Moment aus ihm spricht. Damit er darin ganz Künstler sein kann. Es gibt schon genug Einschränkungen. Er trägt ein Kostüm, das er nicht selbst aussuchen kann, kriegt eine Rolle, die er nicht selbst aussuchen kann. Er spielt in einem Stück, das er nicht selbst gewählt hat und und und … Dann gibt es diese eine Freiheit, und das ist die Probe, das Spiel. Da ist er oder sie ganz frei, im Moment des Spiels.

Was lieferst du für diesen Moment?

Meine Aufmerksamkeit. Dann stelle ich Fragen, um die Spielenden darin zu unterstützen, diesen inneren Ort zu finden. Oder ich erzähle ihnen eine Geschichte oder beschreibe, was die Szene will. Die Schuhe, die die Rolle trägt, sind wichtig – und gerne sonst ein Kleidungsstück der Figur. Dann habe ich da ein Textbuch vor mir und entdecke darin Notizen von 1907. Da hat jemand vor 100 Jahren Gretchen gespielt, auf ihre Weise, hat gelitten, gesucht, gefunden – auf ihre Weise. Es war der gleiche Text. Da zeigt sich das Ewige des ‹Faust›! Und diesem Ewigen schenken wir Gegenwart.

Gibt es noch ein Drittes, was zum Menschen und zum Text auf der Bühne, zu dieser Alchemie hinzukommt?

Ich weiß nicht, ob das in solch einem Gespräch hier am Platz ist. Nach jeder Aufführung danke ich meinem verstorbenen Vater. Ich habe das Gefühl, das hängt alles nicht nur von uns ab, ob es gelingt oder nicht. In der Probe, da kämpfen wir, da ist es menschlich. Bei der Aufführung geschieht dann noch etwas ganz anderes. Ja, dann braucht es eine Gnade von der anderen Seite. Da sage ich dasselbe wie Anatevka, die Tochter von Zeitel, als sie ihren geliebten Schneider Mottel heiraten darf: «Danke, Papa.» 


Faust 2025 im Goetheanum

10.–12. Oktober
18.–19. Oktober
25.–26. Oktober

Tickets faust.jetzt

Inszenierung: Andrea Pfaehler, Eurythmie: Rafael Tavares, Co-Regie: Isabelle Fortagne, Dramaturgie: Wolfgang Held, Musik: Balz Aliesch, Licht: Thomas Stott / Dominique Lorenz, Bühnenbild: Nils Frischknecht, Kostüme: Julia Strahl


Foto Xue Li

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