Working class heroes missing

Wir glauben nicht mehr an den Fortschritt, der noch in der Epoche der Industrialisierung ein Heilsversprechen für den Wohlstand aller war. Aber wo sind die neuen Helden und Heldinnen der ‹Arbeiterklasse› und wo ihre Aktionsräume? Gedanken während einer Reise nach Manchester.


In Oldham, einem Suburb von Manchester, sieht es recht schäbig aus. Was in Frankreich als Laissez-faire und charmant daherkommt, weil man dort das Geld eher für gutes Essen ausgibt, ist hier einfach nur Armut. Wenig Schönes, wenig Wertes, Vorgärten nicht gegriffen, Fassaden bröckelnd. Die Hinterhausgassen, wo die Mülltonnen stehen, voller Unkraut. Alte Spinnereigebäude überall, wie zum Beispiel die Majestic Mill. Die Epoche der Industrialisierung hat ihre Relikte hinterlassen. Aber keine Kunstschaffenden, die diese Gebäude besiedeln wollten. Auch keine Kunst, und keine Ideen für neue soziale Formen. Innerhalb eines Nachmittags hat man gesehen, was es zu sehen gibt, nämlich, dass Armut eine Diskriminierungsdimension ist. Und ich frage mich, wohin die ‹working class heroes› verschwunden sind. Die Menschen jedoch sind nett, hilfsbereit und offen, wenn auch etwas übergewichtig von Lebensmitteln, die nicht mehr viel Nährwert haben, dafür jedoch billig sind. Aber hier ist man deutlich weniger am Handy als in Deutschland. In den Zügen und Bussen gibt es mehr gemeinsames Gespräch. Die 50 Minuten Fahrt von Oldham nach Manchester Downtown, mit dem Doppeldeckerbus des staatlichen Bee Network, kosten zwei Pfund. Der Bus fährt alle zehn Minuten.

Dann fließt man rein ins Großstadtgewühle, auch nicht viel anders als in London. Die Central Library neben dem Rathaus ist ziemlich gut besucht. Ein alter Mann mit gebeugtem Rücken spielt das Klavier, das in der Cafeteria steht. Am Infopoint gibt es einige Souvenirs, alle mit Bienen versehen. Die Frau am Tresen erzählt mir, dass die Arbeiterbienen seit 1842 das Wahrzeichen von Manchester sind. Sie repräsentieren Solidarität und Resilienz der ‹Arbeiterklasse›. Die Stadt war die ‹Bienenbeute der Industrialisierung›, in der die Arbeitenden für den größeren Wohlstand aller schufteten. Die Biene von Manchester gilt auch als Symbol des Glaubens, dass Gesellschaften schwierige Aufgaben nur bewältigen können, wenn sie zusammenhalten.

In der Manchester Art Gallery ist der Eintritt frei. Auch hier strömt es hin und her. Im ‹Take a breath room› sitzt man abgedunkelt auf einem der zwei Sessel und kann sich bei nur einem Bild im Raum in Ruhe seine Mittagspause vertreiben. Oder man schlendert kurz mal durch die Ausstellung, die neue Narrative von Galerien imaginieren möchte. Alltagsgegenstände sind zusammen mit alten Gemälden aufgehängt, um neue Referenzen zu kreieren. Klimakrise, Arbeit, Migration, Identität, Verbundenheit und Glück sind einige Aspekte, mit denen das Kurationsteam arbeitet. Es hat auch einen Sitz im Stadtrat. In der John Ryland Library hängt ein Textabschnitt aus ‹A bird´s Eye View of Manchester› von 1899, das den Geist der Stadt beschwört: «Radikal und rebellisch, unabhängig und progressiv. Bewundert für seine Industrie und beschimpft für seinen Qualm, nährt die erste Industriestadt der Welt den Glauben an den demokratischen Wandel. Etwas hat in den frühen 1800er-Jahren begonnen, was noch bis ins Jetzt hallt.» Im Haus findet sich ein Archiv von Aktivisten und Aktivistinnen, die diese Welt zu einem besseren Ort machen wollten. Dokumentiert sind lokale und globale Anstrengungen, um Armut zu bekämpfen, Religionen zu reformieren und Ungleichheit zu beenden.

Verlust eines Versprechens

Am Abend in meinem Fünf-Quadratmeter-Minizimmer in Oldham stelle ich mir vor, wie Rosa Luxemburg in ihrem Gefängnis den Himmel betrachtete. Damals gab es sicher auch Agenden, denen Menschen ihr Leben widmeten, aber sie hatten die ‹Arbeiterklasse› anders im Blick. Fortschritt meinte damals auch den Fortschritt der sozialen Gerechtigkeit. Heute glauben 83 Prozent der Deutschen nicht mehr daran, dass die Zukunft besser wird.1 Scheinbar hat der Kapitalismus sein Versprechen nicht halten können. Der Soziologe Andreas Reckwitz beschreibt in seinem Buch ‹Verlust – Ein Grundproblem der Moderne›, was wir alles verloren haben seit Beginn dieser Epoche. Und doch taugte uns dieses Narrativ weiter. Selbst die immensen Verluste des Zweiten Weltkrieges konnten als ‹vorübergehend› erzählt werden, da das Wirtschaftswunder der 1950er- und 1960er-Jahre das Paradigma des Fortschritts weiterspann. Heute jedoch leben wir laut Reckwitz in einer fortschrittsskeptischen Kultur. Und wohin das führt, sei noch völlig offen. Seit etwa 15 Jahren, meint er, überlagern sich Verlustängste in westlichen Gesellschaften aus verschiedenen Bereichen und steigern sich. Wir haben Angst, unsere Jobs zu verlieren, unsere Heimat, unsere Identität, unseren Planeten, unseren Gemeinsinn. Fortschritt ist nicht mehr der Glaube daran, dass es meine Kinder besser haben werden. Sondern ‹Fortschritt› ist heutzutage der Versuch, zumindest die errungenen Werte zu bewahren. Und wir seien eine ‹Gesellschaft der Singularitäten› geworden, in der sich Fortschritt meist nur noch auf mein persönliches Glück bezieht. Sind uns also die politischen Utopien ausgegangen? Und wo ist das Wir überhaupt?

Entkapitalisierung der Utopie

Alles, was den Menschen kapitalisiert, kann nur zum Verlust führen, denke ich mir. Vielleicht sogar am Ende zum Verlust von Selbstrespekt? Oder anders herum formuliert: Alles, was den Menschen nicht kapitalisiert, wird der Freiraum sein, in dem Utopien gesponnen werden. Vielleicht kann die Schäbigkeit von Oldham auch als Protest gegen den Kapitalismus gelesen werden, der uns die ganze Zeit weismachen will, was wir brauchen, um den Schein des Wohlstands zu wahren.

«A working class hero is something to be. […] If you want to be a hero, just follow me», sang John Lennon, geboren in Liverpool, 74 Kilometer von Manchester entfernt. In den 1980er-Jahren schreibt John Berger in seinem den streikenden Bergarbeitern in Nordengland gewidmeten Text, dass er jeden Helden beschützen würde, der sich gegen die Erbarmungslosen auflehnte. «Doch sollte er während der Zeit, da ich ihm Zuflucht gewähre, mir erzählen, dass er gerne zeichnet, oder angenommen, es ist eine Frau, sollte sie mir erzählen, dass sie immer schon habe malen wollen und niemals die Gelegenheit oder die Zeit dazu gehabt habe. Wenn das einträte, ich glaube, dann würde ich sagen: […] Ich kann dir nicht sagen, was Kunst bewirkt und wie sie es bewirkt, doch ich weiß, dass Kunst oftmals die Richter gerichtet, dass sie zur Vergeltung für unschuldig Erlittenes aufgerufen und der Zukunft gezeigt hat, welches Leid die Vergangenheit mit sich brachte, so dass es niemals in Vergessenheit geriet. Ich weiß auch, daß die Mächtigen die Kunst fürchten, wenn sie das tut, welche Form auch immer sie annimmt, und dass im Volk solch eine Kunst zuweilen wie ein Gerücht und eine Legende umgeht, weil sie einen Sinn stiftet, den die Brutalitäten des Lebens nicht ergeben, einen Sinn, der uns vereinigt, denn er ist letztlich von der Gerechtigkeit untrennbar. Kunst, wenn sie eine solche Funktion hat, wird zu einem Ort der Begegnung für das Unsichtbare, das Irreduzible, das Überdauernde […].»2


Foto Gilda Bartel

Fußnoten

  1. de.statista.com/statistik/daten/studie/168020/umfrage/beurteilung-der-momentanen-verhaeltnisse-in-deutschland/
  2. John Berger, Begegnungen und Abschiede – Über Bilder und Menschen. Hanser, München 1993.
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