Von der Innenwelt der Außenwelt zur Außenwelt der Innenwelt

Durch diszipliniertes Beobachten gelingt es, einem anderen Lebewesen im eigenen Innenleben Raum zu schaffen. Auf solchem ‹Denken mit den Augen› gründet eine Wissenschaft, die den sich stets entwickelnden Prozessen im Lebendigen gerecht wird.


Stellen wir uns vor, wir lebten in einer Welt, in der fortwährend leuchtend Wolkenartiges mal dichter, mal weniger dicht Gebilde webt, in der Klänge von fernen Wesen erschallen und jede Pflanze von sich emsig bewegenden Wesen begleitet ist. Hat man sich daran gewöhnt, lässt es sich damit zurechtkommen. Aber zu bemerken, dass die Menschen in der Umgebung nur von einem Bruchteil der Dinge sprechen, die man selbst sieht, nur von den wenigen, festen Erscheinungen, die den Sinnen zugänglich sind, wird doch befremdlich sein. So muss sich Rudolf Steiner als junger Mensch gefühlt haben. Gut verständlich, dass er sehr aufmerksam und neugierig alles verfolgte, was die Menschen erzählten. Aber sie gaben ihm keine Hinweise auf die Geisteswelt, die in selbstverständlicher Anschauung vor ihm stand. Gefühlsmäßig schien ihm, dass mathematisches Denken und die Exaktheit der Geometrie Vorbild sein könnten für ein Denken, das zwar frei von Sinneseindrücken ist, aber an das Wesen der Naturerscheinungen heranreicht. Traumbildhaft nahm er die Darbietungen des Schulunterrichts auf. Wirklich wach erlebte er nur, was er selbst ausführte, wie etwa sonntäglich angefertigte präzise geometrische Zeichnungen oder was er sich selbst aktiv aneignete.

Bald begann er, die Denkformen seiner Mitmenschen zu beobachten. Er wollte erfahren, wie sie die Fähigkeiten des Denkens einschätzten und wie sie die für ihn selbstverständlichen geistigen Phänomene einordneten. Kants ‹Kritik der reinen Vernunft› nutzte der junge Steiner als Anleitung, um im eigenen Denken Sicherheit zu gewinnen, indem er übte, von einfachen überschaubaren Begriffen zu Vorstellungen über die Natur zu kommen. Um die lebendigen geistigen Anschauungen in seiner Seele in verständliche und mitteilbare Gedanken fassen zu können, schien es ihm unabdingbar, auch zum Wesen der äußeren Natur ein sicheres gedankliches Verhältnis zu gewinnen. Wirkliche Erkenntnis schien ihm nur möglich, wenn er von der Tätigkeit seines eigenen ‹Ich› ausging, in der er ein unabweisbares Erlebnis eines geistigen Wesens sah. Deshalb wurde Fichte zum Denkverwandten, dessen ‹Wissenschaftslehre› es wert schien, umgeschrieben zu werden. In diesem Umschreiben wurde Steiner immer deutlicher, dass er mit diesem ‹Ich›, das seine eigene vorangegangene Denktätigkeit bewusst beobachten konnte, einen Angelpunkt der Weltauffassung erfasst hatte: In der Aktivität des ‹Ich›, das seinen Denkakt mit durchsichtiger Klarheit durchschauen kann, eben weil es vollkommen sein eigener ist, schien ihm unmittelbar geistige Realität verbürgt. Diese Gewissheit verlieh auch seinen anderen inneren Wahrnehmungen Realitätscharakter.

Aus solchen Erlebnissen heraus verortete er die eigentliche Wirklichkeit in der Ideenwelt, die sich auch in der Sinneswelt manifestiert und jedem Menschen in seinem Inneren als Abglanz des Geistigen zugänglich ist.1 Nun wollte er zeigen, dass der Mensch mit der Beobachtung des eigenen Denkens einen bewussten Zugang zum Kosmos der Ideen erüben und dadurch frei sein kann. Jede und jeder kann unabhängig von äußeren Gesetzen in Freiheit seine und ihre Ziele setzen und verfolgen.2

Goethes Art der Erforschung der Natur führte den jungen Steiner auf eine neue Stufe des Erkennens. Wie Goethe ganze Kreise von Versuchen zum gleichen Thema um sich herum aufbaute oder Hunderte von Pflanzenexemplaren in ihrer Entwicklung beobachtete, prägte beim jungen Steiner zunehmend den Stil von Wahrnehmen und Denken. In der Verwandlung der Phänomene zeichneten sich für ihn die schaffenden Kräfte ab, die er zusammen mit den sinnlichen Erscheinungen beobachten konnte. Wie tröstlich, dass Goethe diese verschiedenen Arten des ‹Sehens› nicht prinzipiellen Unterschieden zwischen sinnlicher und geistiger Anschauung zuschrieb, sondern einen Übergang zwischen beiden sah. Endlich war in Goethe ein Seelenverwandter gefunden! Er verlangte von Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen, mit ihrem Denken die vielen sichtbaren Ausdrucksweisen des zu Erforschenden lediglich zu ordnen, unter Zurückhaltung eines eigenen Urteils – und sich selbst dabei von den Dingen verwandeln zu lassen. Durch diszipliniertes Beobachten in geduldiger Wiederholung gelingt es, einem anderen Lebewesen im eigenen Innenleben Raum zu schaffen, um sich in seiner Dynamik darzustellen. Auf solchem ‹Denken mit den Augen› gründet eine Wissenschaft, die den sich stets entwickelnden Prozessen im Lebendigen gerecht wird.

Nach langen Jahren innerer Beobachtung der Geisteswelt erwachte Rudolf Steiners Interesse für die Sinneswahrnehmung. Konnte die Versenkung in ihre Details etwas enthüllen, was die Seele auf keine andere Art gewinnen kann?3 Erkannte er, was Maurice Merleau-Ponty später im 20. Jahrhundert formulierte? Dieser beschreibt die Wahrnehmungstätigkeit als ein Geschehen, in dem mein Leib verschmilzt mit einem Gegebenen. Das ist kein intellektuelles Urteil und kein bewusster Akt, sondern ein unwillkürliches ‹Abtasten› oder ‹Entlanglaufen›, bei dem aus einer Fülle wechselnder Eindrücke bestimmte Konturen herausgegriffen werden. Die Sinneswahrnehmung schenkt uns die Sicherheit, dass ihre Wirklichkeit vor jeder Scheidung in ‹Subjekt› und ‹Objekt› unhintergehbar verbürgt ist und auch der Ort, an dem diese Wirklichkeit stattfindet – nämlich innerhalb oder außerhalb unseres Bewusstseins. Wir wissen, ob wir eine Sinneswahrnehmung oder eine Halluzination haben. Das kommt daher, dass wir selbst mit unserem ganzen wahrnehmenden Körper Teil dieser Wirklichkeit sind. Das Paradox der Wahrnehmung besteht darin, dass wir uns, sobald wir sie reflektieren und fragen, was ‹Wir›, was Ding, was Wahrnehmung oder was Welt ist, in ein Labyrinth von Widersprüchen verwickeln.4

In der Mitte des Lebens fand Steiner zur Philosophie der sinnlichen Wirklichkeitserfahrung: Dass wir in der Wahrnehmung Zugang zur ganzen Welt haben5, in der das Sichtbare eng mit dem Unsichtbaren verwoben ist. Nur sie schenkt uns die Fülle des Besonderen, das Einmalige, das jeder konkreten Erscheinung innewohnt. Keine Einzelheit ist ohne Bedeutung für das Ganze, jede verleiht ihm eine andere Färbung, und wir können die Farbwechsel erleben mit jeder Beobachtung, der wir uns hingeben.

Am Ende seines Lebens hat Steiner bei der Neuauflage seines Frühwerkes ‹Grundlinien einer Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung› der sinnlichen und der geistigen Erkenntnis die gleiche Bedeutung zugeschrieben. Beide Erkenntnisarten brauchen Organe der Beobachtung – einmal die bekannten Sinnesorgane, zum anderen die ‹Lotosblumen›, die als Seelenorgane erst zu entwickeln sind. Beide schaffen im Erkenntnisakt Wirklichkeit.6


Mit Rudolf Steiner als … überschreiben wir eine Reihe von Artikeln zum 100. Todesjahr Rudolf Steiners.

Fußnoten

  1. Rudolf Steiner, Mein Lebensgang (1925), Dornach 1975, Kap II und III.
  2. Rudolf Steiner, Die Philosophie der Freiheit (1886). Dornach.
  3. Rudolf Steiner, Mein Lebensgang (1925). Dornach 1975, Kap. XXII.
  4. Maurice Merleau-Ponty, Das Sichtbare und das Unsichtbare (1986). Wilhelm Fink Verlag, München 2004, S. 17 f.
  5. Hans Rudolf Schweizer, Vom ursprünglichen Sinn der Ästhetik (1976), Verlag Rolf Kugler, Oberwil-Zug (CH), S. 7.
  6. Rudolf Steiner, Grundlinien einer Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung (1886). Dornach 1999, S. 137

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