In gemeinsamer Wirklichkeit aufwachen

Im Krieg schlagen Interessen aufeinander. Hinter Interessen stehen Bilder und Konstruktionen der Wirklichkeit. Der Krieg zerstört Wirklichkeit – physisch durch Bomben, seelisch durch Propaganda. Es lohnt sich gerade jetzt, die Frage zu beantworten, wie wir zu einem wahren Bild der Wirklichkeit kommen können. Eine Antwort wäre eine Philosophie des Friedens – denn sie würde zum Dialog über verschiedene Wirklichkeiten fähig machen, die zu einer gemeinsamen Wirklichkeit werden können. Ein Studienvorschlag.


Die Wissenschaftswelt – ob philosophisch, psychologisch oder neurophysiologisch, sucht seit einigen Jahren verstärkt nach einem Verständnis von dem, was wir Wirklichkeit nennen. Buch- und Zeitungstitel wie ‹Wer hat Angst vor der Wirklichkeit? – Die Philosophie tut sich schwer mit dem Realismus. Vielleicht ist die Welt ja ganz anders, als wir sie sehen.› (nzz, 18. August 2018) und ‹Was ist real? Am Übergang von Wissenschaft und Philosophie› (Spektrum der Wissenschaft kompakt, 2020) und ‹Warum es die Welt nicht gibt?› (Buchtitel 2013) zeugen davon. Auf der Suche nach einer Lösung schlägt das Pendel zwischen Angst vor und Bedürfnis nach der Realität aus. «Jedenfalls sind die Reflexion über unser Verhältnis zur Welt und die Suche nach einem unvermittelten Bezug zur Wirklichkeit, die uns umgibt, legitime urphilosophische Unternehmen – und allgemein menschliche Bedürfnisse, die Aufmerksamkeit verdienen», schreibt im Sommer 2018 der Philosoph Willy Hochkeppel im erwähnten Artikel in der NZZ.

Die Quantenphysik hat schon längst die Materie ihrer Materialität enthoben. Die Neurophysiologie ist auf dem Weg von einem passiv-repräsentierenden Verständnis der Sinnesphysiologie zu einer kreativen Beteiligung von uns Menschen an der Wirklichkeit, die Phänomenologie sucht einen objektiv-subjektiven Zugang zur Wirklichkeit. Die Ergebnisse dieser Forschungsperspektiven liefern vielversprechende Ausblicke auf dem Weg zu einer Lösung! Mit diesem Essay möchte der Autor eine Lösung für die Suche nach der Realität anbieten und sie an Fallbeispielen erproben.1

Die Konstitution der Wirklichkeit

Die philosophische Debatte auf der Suche nach der Realität spielt sich zwischen ‹naivem Realismus› und ‹Relativismus› und ‹Konstruktivismus› ab. Der naive Realismus geht von einer ‹an sich› gegebenen Gegenstandswirklichkeit aus, die auch ohne den wahrnehmenden Menschen existiert. Wer aber kann von einer Wirklichkeit sprechen, die ‹an sich› sei, wenn sie erst durch den Menschen, der sie wahrnimmt, erscheint? Auch der Konstruktivismus geht einen Schritt zu weit, wenn er der Wirklichkeit, die wir erleben, nur einen relativen und nicht wahrhaftigen Wert gibt. Der Mensch lebe in ‹seiner› Wirklichkeit; wie die wahre Wirklichkeit aussehe, bliebe ungewiss. Letztlich also lebe der Mensch in einem selbstgemachten Scheinbild. – Doch, so sei gefragt: Wieso glauben wir diesem Zweifel und nicht der Bejahung der Wirklichkeit? Worauf baut das Urteil, dass das, was sich durch den Menschen als Wirklichkeit ereigne, nur subjektiven Charakter trage?

Die Wahrheit liegt zwischen diesen beiden Extremen: Wir haben einen wahrhaftigen Bezug zur Welt, auch wenn dem Bild davon, das uns durch die Sinne entgegentritt, ‹nur› Erscheinungscharakter (die östliche Philosophie würde von ‹Maya› sprechen) zukommt. Was hier mit ‹Welt› gemeint ist, ist nicht mit der Vorstellung, die wir uns von der Welt bilden, zu verwechseln. Welt ist der innere, geistige Gehalt dessen, was uns sinnlich erscheint. Ein ‹empirischer Rationalismus›!2

Das ist vertraut vom Lesen. Die Buchstaben sind Anlass, um den Inhalt des Buches in mir zu finden. Alle Protagonisten, alle Orte, Bilder und Zusammenhänge spielen sich in mir ab – die Buchstaben: nur blasser Schein. Dieser Schein aber ist Anlass dafür, dass sich in mir eine Geschichte zu ereignen beginnt, die mich existenziell vereinnahmt und dadurch auch ihre Wahrheit verbürgt. Dass wir dabei das Objektive des Buches – oder eben der Sinneswirklichkeit – erfassen, ist unfraglich: Wir wissen, dass wir ‹Nachtzug nach Lissabon› von Pascal Mercier und nicht ‹Der Tod auf dem Nil› von Agatha Christie lesen, und können uns darüber mit anderen Menschen austauschen – austauschen über etwas, was wir jeweils in unserem Inneren auffinden können.

In philosophischer Sprache: Wirklichkeit ist das Zusammenkommen der menschlichen Innenwelt mit der wie äußerlich erscheinenden Sinneswelt. Die menschliche Innenwelt verleiht der äußeren Sinneswelt Bedeutung, jene Bedeutung, mit der wir es real zu tun haben. Der Mensch versteht den Buchstaben sinnvollen Inhalt zu geben. Das gilt auch für die ‹Buchstabenwelt› der Sinneswirklichkeit. Dass wir sie (zudem sinnvoll) erfahren, zeugt von dieser Fähigkeit des Lesens.

Wirklichkeit ist also das Zusammenkommen von Wahrnehmung und Begriff – und zwar so, dass sich die dadurch zustande gekommene Wirklichkeit im Menschen abspielt, hier ihre Existenzialität und Wahrheit verbürgt. Wir blicken in die Sinneswirklichkeit als wahren Schein dessen, was sich in unserem Inneren offenbart. Genauso wenig, wie wir die Buchstaben im Buch als den Ort seiner Geschichte auffassen, genauso wenig ist der Sinnesschein Ort der Wirklichkeit.

Hierbei liegt dem Sinnesschein keine – in welcher Form auch immer – materialistisch vorgestellte Materie zugrunde. Die Stofflichkeit der Wirklichkeit sind die verschiedenen Sinnesqualitäten und die damit verbundenen Sinnesempfindungen. Und: Hierbei tritt aus unserem Inneren nicht ein subjektives Konstrukt an die Sinnesseite heran, vielmehr zeigt sich in uns der wahre Gehalt, das Objektive der Welt. – Das Subjekt ist das Tor zur wahren Wirklichkeit.

Wirklichkeit ist also das Zusammenkommen von Wahrnehmung und Begriff, von Erfahrung und Idee oder von Sinnlichem und Übersinnlichem, von Stoff und Geist im menschlichen Inneren – ohne zugrunde liegende Materie und ohne die Gefahr einer subjektiven Konstruktion. Die folgenden ‹Fallbeispiele› dienen dazu, diesen Lösungsvorschlag verständlicher zu machen. Sie sind – so ist zu hoffen – Erprobungen und Prüfung dieses Lösungsvorschlags.

1. Ein hartnäckiges Gerücht

Das moderne Bewusstsein scheint schwerlich ohne die Vorstellung einer atomaren Materiewelt auszukommen, die den Sinnesdingen zugrunde liegen soll. Anders ist kaum nachvollziehbar, warum sich die Vorstellung von Stoffpartikeln, aus denen sich die Materie zusammensetze, gegen alle längst vollzogenen Einsichten der Quantenphysik so hartnäckig aufrechterhalten kann. «Die Schulbuchvorstellung von Atomen und Molekülen als kleinen Billardkugeln, die die Welt aufbauen, ist grundsätzlich falsch.»3 Zu diesem Schluss kommt nicht nur der Kernphysiker Martin Wigand, auch die Astrophysiker Josef Gaßner und Harald Lesch wiederholen in ihrem Buch ‹Urknall, Weltall und das Leben›: «Materie besteht nicht aus Materie.»4 Was heißt das? Wir sollten der sinnlichen Seite der Wirklichkeit nicht eine Vorstellung von ‹Partikeln an sich› unterlegen, sondern die Sinneswelt als den Stoffaspekt der Wirklichkeit (wieder) begreifen und erleben lernen. Die Stoffseite der Wirklichkeit besteht aus den verschiedenen Sinnesempfindungen. Diese sind das Tableau, auf dem die aus unserem Inneren herandrängenden Ideen, Begriffe, mithin ‹Gestaltkräfte› zur Erscheinung kommen bzw. dieses Sinnestableau sogar formkräftig gestalten, wie der nächste Abschnitt zeigen wird.5

Bild: Philip Stoll, Ohne Titel, 2019/20, 80 × 80 cm, C-Print

2. Der Necker’sche Würfel – bloße Illusion?

Vexierbilder wie der Necker’sche Würfel werden von der Wahrnehmungsphysiologie und -psychologie als Illusion gedeutet und damit in Bezug auf die Suche nach der Realität als irrelevant abgewertet. Das Gegenteil ist der Fall. Solcherlei Erfahrungen sind der Schlüssel zum Verständnis der irdischen Wirklichkeit.6

Wer angesichts der obigen Skizze – statt der ‹wirklichen› Linien auf weißem Grund, die in Form eines Sechseckes arrangiert sind, das in Tortenstücke unterteilt ist – einen Würfel sieht, der unterliege einem illusionären Effekt seines Sehsystems, wenn auch einem ‹zauberhaften›, so ist die Meinung derjenigen, die in solchen Erfahrungsfällen von einer ‹optischen Täuschung› sprechen. Sowohl die Physiologie als auch die Psychologie argumentieren mit Vektoren des Nerven-Sinnes-Systems: Das Gehirn konstruiere sich einen Würfel. Oder: Die Seele unterliege eingeübten Wahrnehmungsschemata, die sich uns dank der Gehirnverschaltungen aufdrängten. Neuerdings reüssiert die «Theorie der Vorhersagemaschine»,7 nach der solcherlei Wahrnehmungen zwar ernst zu nehmen seien, sie seien aber – nach dieser Ansicht – Folge der intelligenten Gehirnalgorithmen. Das Gehirn antizipiere wie ein Computer unsere Realität und würde nicht – wie bislang die klassische Vorstellung – aus der Sinneswahrnehmung ein bloß repräsentierendes Bild einer wahren Wirklichkeit konstruieren, sondern umgekehrt: Es würde gestaltend in die Sinneswahrnehmung – gemäß solchen Erfahrungen wie mit dem Necker’schen Würfel – eingreifen. Es gestaltet auf diese Weise die Wirklichkeit für den Menschen.

Außer dass diese Auffassung eine mechanistische Erklärung (das Gehirn als Computer) zu Hilfe nimmt, kommt sie dem hier vorzustellenden Lösungsansatz sehr nahe, der seinerseits durchaus an das anknüpfbar ist, was Franz Brentano (1838–1917) unter dem Begriff ‹Intentionalität› einführte. Übertragen wir diesen von Brentano rein innerseelisch verstandenen Begriff auf unser Bezogensein auf die sinnliche Wahrnehmung, ergibt sich: Unsere Wahrnehmung ist gerichtet, wir blicken immer mit einer bestimmten Realisierungsaufmerksamkeit in die Welt, die sich uns dadurch in der Art und Weise zeigt, wie wir sie sinnlich wahrnehmen. Um dieses Intentionalisiertsein in den Blick zu bekommen, bedarf es der Introspektion, der seelischen Beobachtung. Im Sinne des hier vertretenen Lösungsansatzes: Die Phänomene werden im Moment ihres Zustandekommens auf dem Grund der menschlichen Organisation erfasst und als irdische Wirklichkeit realisiert. Sich dessen bewusst zu werden, bedeutet darüber hinausgehend, sich zu fragen: Was ist sinnlich gegeben und was gesellt sich aus unserem Inneren als seelisch-geistige Gestaltungskraft zum Sinnlichen hinzu und wie geschieht das?

Schaut man sich sogenannte Vexierbilder wie den Necker’schen Würfel unter diesem Aspekt einmal an, so heißt das: Wir haben eine (äußere) sinnliche Wahrnehmung (die Farben Schwarz und Weiß), und mit diesem Wahrnehmungsangebot verbindet sich im Sehen eine Gestaltkraft aus unserem Inneren, und zwar so, dass sich daraus die sinnliche Wirklichkeit ergibt, mit der wir es je aktuell zu tun haben. Die innere – man kann auch sagen: übersinnliche oder geistige – Gestaltkraft zeigt sich und beschreibt sich selbst durch ihre sinnliche Erscheinung.8 In diesem Sinne sind weder das in Tortenstücke geteilte Sechseck noch der Kubus wirklicher, beides sind für sich bestehende, alternative Realitäten, in denen ein Geistiges, Inneres, Übersinnliches zur sinnlichen Wahrnehmbarkeit drängt.

3. Halluzination – unkontrollierte Wahrnehmung

Die Vertreter der ‹Theorie der Vorhersagemaschine› meinen auch Phänomene wie Halluzinationen erklären zu können. Hier würde die Gehirnmaschine in einen kranken Zustand geraten und fehlgerichtet antizipieren, wodurch sich «unkontrollierte Wahrnehmungen» ergäben. Im Prinzip aber gebe es keinen Unterschied zwischen Halluzination und normaler Wahrnehmung, Letztere könne man reziprok auch als «kontrollierte Halluzination» bezeichnen.

Auch in diesem Fall kommt es auf die von Brentano propagierte Introspektion oder seelische Beobachtung an. Wir können mit dem obigen Beispiel des Sechseckes auch den Blick von oben auf einen Sonnenschirm verbinden. Das ist durchaus machbar, aber wir bemerken dabei, dass diese Anwandlung weniger ‹sitzt› wie der Kubus oder das Sechseck. Die Verbindung dessen, was aus unserem Inneren hervortritt, ist in diesem Fall nicht restlos überzeugend. Es macht nicht so ‹klick› wie bei den anderen ‹Einsichten›. Also: Keine Halluzination, sondern einfach etwas, was aus unserem Inneren Bedeutung verleihend auftaucht, was sich aber nicht so entschieden mit der (äußeren) Wahrnehmungsseite verbindet, dass es uns so überzeugt, dass wir es als die Wirklichkeit des Bildes bezeichnen wollen.

So zeigen sich aus unserer Innenwelt auftauchend ‹Gestalten›, die wir als Erfahrung ernst nehmen, die sich nur nicht so recht überzeugend mit der sinnlichen Wahrnehmung verbinden können. Die Verbindung ist flüchtiger, vorübergehender Natur und nicht dauerhaft.

Flüchtige, vorübergehende, sich aufdrängende Gestalten9 suchen uns auf, und wir können sogar ihr Herannahen in und Verschwinden aus unserem Gesichtskreis beobachten. Mit dieser Zugangsweise kann man auch Erfahrungen wie die folgenden ernst nehmen: Angesichts einer Pflanze kann man erleben, dass man sich leichter und beweglicher fühlt, als wenn man einen Stein ansieht. Man sieht die Pflanze gleichsam umflort von einer ‹Lebensaura›. Das wird umso deutlicher, wenn man umgekehrt auf einen frisch belaubten Frühlingswaldhang schaut und sich nun vorstellt, das ganze Grün bestehe aus Plastik. Unmittelbar entschwindet die Leichtigkeit aus unserem Blick und wir sehen nur noch erstarrtes ‹Kunstwerk›. Oder: Beim Anblick eines verstorbenen Menschen hat man oft noch den Eindruck, dass er sich im nächsten Moment wieder zu bewegen beginnen könne. Dennoch bleibt der Leichnam unbewegt. Über und um diesen herum aber ‹webt› es so, dass der geschilderte Eindruck entsteht. Aus unserem nicht-sinnlichen Inneren drängt sich das ‹Leben›, das vormals zu diesem Leichnam gehörte, immer wieder in unseren Gesichtskreis, es kann sich noch nicht ganz von seinem vormaligen physischen Zuhause trennen, auch wenn es kein Zurück in den Leib mehr gibt.

In diesen Kontext gehören auch die vielleicht alltäglicheren auratischen Phänomene wie die Atmosphäre einer Landschaft, eines Gebäudes oder die Ausstrahlung eines Menschen.10 Solcherlei Erfahrungen gehören zum Wesen der Sache; es handelt sich keineswegs um Halluzinationen.

4. Persönlicher Exkursionsleiter

Oft wird aus solchen Erfahrungen wie mit dem Necker’schen Würfel der voreilige und resignative Schluss gezogen, man sähe ohnehin nur das, was man schon kenne, man könne nur das wahrnehmen, womit man früher schon Erfahrung gemacht habe. Demgegenüber stellt der hier vorgestellte Ansatz drei Argumente zur Verfügung:

Bild: Philip Stoll, Ohne Titel (saftgrün), 2019, 130 × 130 cm, C-Print auf Aluminum

• Alles das, was wir in diesem Sinne (im Leben widerfahrene) Erfahrung nennen, basiert auf einer Zusammenkunft unseres Inneren mit dem (äußeren) Sinnlichen – und zwar so, dass diese Zusammenkunft zu einem überzeugenden Ereignis wird, zu einer Einsicht. Erkenntnisgleich leuchtet es mir ein – und ich sehe das, was ich zuvor nicht gesehen habe. Wirklichkeitserfahrung ist Erkenntnis. Das gilt auch für solche Wirklichkeitserfahrungen, die wir früher einmal gemacht haben (also für das, was wir gemeinhin ‹Erfahrung› nennen). Insofern ist die ‹im Leben gemachte Erfahrung› keinesfalls ein Gegenargument. Man verweist mit dem Bezug auf früher schon gemachte Erfahrungen nur auf eine der gegenwärtigen Wirklichkeitserfahrung entsprechende Erfahrung in der Vergangenheit.

• Auch die gegenwärtige Wirklichkeitserfahrung basiert auf solchem einleuchtendem, erkenntnisgleichem Zusammenkommen von Innen und Außen. Ein inneres Ideenlicht ergreift die Sinneswahrnehmung und ‹zaubert› dasjenige vor uns hin, mit dem wir es jeweils aktuell zu tun haben.

• Solche einleuchtenden Momente haben wir jeden Tag: Jedes Mal, wenn wir etwas Neues sehen, was wir bisher nicht gesehen haben, ist das der Fall. Man bekommt eine neue Einsicht geschenkt. Man lernt Neues sehen. Solche Momente widerfahren jedem Menschen – individuell. Der Physiker und Phänomenologe Georg Maier (1933–2016) nannte den insgeheimen Inspirator für solcherlei Erfahrungen den «persönlichen Exkursionsleiter»; in der christlichen Tradition heißen solche Wegbegleiter ‹Engel›. Nicht eine Gehirnmaschine antizipiert, sondern der persönliche Exkursionsleiter, dessen Tätigkeit wir durch dasjenige wahrnehmen können, was uns als Wirklichkeit widerfährt.

5. Quantenphysik: Auf der Suche nach dem, was zur Erscheinung kommt

Die Quantenphysiker laufen in der Deutung ihren eigenen Ergebnissen immer noch hinterher. Und: Sie haben sich in ihrer ‹Phänomen›-Welt längst von der im Sinnlichen erfahrbaren übersinnlichen Gestaltungs- und Wirkungskraft entfernt. Das tritt deutlich am Phänomen ‹Licht› zutage. Der Nobelpreisträger Max Planck (1858–1947) hat sich dazu paradigmatisch geäußert:11 «Diese […] Lichtstrahlen sind es, welche die Domäne der physikalischen Forschung bilden. Und in der Tat: Welche Behauptung könnte für den Unbefangenen einleuchtendere Gewissheit besitzen als die, dass Licht ohne ein empfindendes Auge undenkbar, ein Nonsens ist? Aber was in diesem letzten Satze unter Licht zu verstehen ist, […] ist etwas ganz anderes als der Lichtstrahl des Physikers. Wenn auch der Name der Einfachheit halber beibehalten worden ist, so hat doch die physikalische Lehre vom Licht oder die Optik, in ihrer vollen Allgemeinheit genommen, mit dem menschlichen Auge und mit der Lichtempfindung so wenig zu tun wie etwa die Lehre von den Pendelschwingungen mit der Tonempfindung.»12

Mit was aber hat es die Quantenphysik dann zu tun? Man darf nicht vergessen, dass ihre Forschung ja sehr wohl wirkmächtig ist, was sich in so tragischer Weise durch die Atom- und Wasserstoffbombe dokumentiert. Offenbar vermag es die Quantenphysik, übermenschliche, ja ‹übernatürliche› Gewalten loszubinden. Da sie aber den Blick auf die Miniaturwelt ihrer Vorstellungen gerichtet hält, anstatt auf die Phänomene, die durch sie in der sinnlichen Welt zur Erscheinung kommen, kann sie bislang die Blickwendung auf die übersinnliche Makrowelt nicht bewerkstelligen. Würde sie es tun, so würde sie eben auf gigantische Makrowesen stoßen, die die christliche Tradition z. B. mit ‹Gewalten› (Exusiai) oder ‹Thronen›, ‹Seraphim› und ‹Cherubim› bezeichnet hat. Hiermit ist keine Gemütsreligion gemeint, sondern vielmehr soll auf die Perspektive hingewiesen werden, die sich bei einer sachgemäßen, phänomenologischen Blickwendung der Quantenphysik in einer gediegenen seelischen Introspektion ergeben könnte. Man würde entdecken, dass man es mit wirkmächtigen Entitäten des Geistigen oder Übersinnlichen zu tun hat, und dass man diesen mit den subatomaren Vorstellungen ein unpassendes Kleid verleiht und daher ihr Wesen verkennt. – In Wirklichkeit hantiert die Quantenphysik mit Makrowesen, mit machtvollen Schöpferwesen.13

6. Parallelwelten

Als eine letzte Erprobung des hier vorgeschlagenen Lösungsansatzes diene die Frage nach den sogenannten ‹Parallelwelten›, über die Science-Fiction-Community, Astro-Wissenschaftler, Psychologen und Wahrnehmungsphysiologen hypothetisieren. Der in diesem Essay vorgestellte Erkenntniszugang zur irdischen Realität führt aus einem bloßen Hypothetisieren heraus. Parallelwelten gehören konsequenterweise zu diesem Ansatz dazu – denn: Das Zusammentreten von (äußerer) Sinnesseite und (innerer) Geistseite zur Wirklichkeit findet für jeden Menschen individuell statt. Dass wir uns dennoch in einer gemeinsamen Wirklichkeit erleben, beruht darauf, dass wir in unserem Inneren die Intention des anderen Menschen aufzusuchen und auf die Sinnesseite zu beziehen vermögen. Wir stellen uns an den geistigen Ort, an dem der andere Mensch steht, und blicken damit ins Sinnliche, wo sich dieser geistige Standort dann zeigt. Wir ‹ver-stehen› den anderen und uns. Dadurch werden wir un- bzw. überterritorial, dialog-, mithin friedensfähig.

Dennoch sind diese individuellen Welten verschieden – womit wir zur Frage nach der Existenz von Parallelwelten zurückkehren. Ein Botaniker realisiert die Wirklichkeit anders als eine Zoologin, eine Musikerin anders als ein Mechaniker. Ein Aufmerksamkeitsexperiment von Daniel J. Simons mit dem Titel ‹The monkey business illusion› treibt diese Sicht auf die Spitze: In einem Video wird den Probanden eine Basketballspiel-Szene vorgeführt. Drei weiß gekleidete Spielerinnen und drei schwarz gekleidete Spielerinnen wechseln nur im jeweiligen Team den Ball (es sind also zwei Bälle im Spiel). Die Probanden sollen nun zählen, wie oft der Ball zwischen den weißen Spielerinnen wechselt. Etwa die Hälfte der Probanden realisiert nicht, was die andere Hälfte zu sehen bekommt: einen durch dieses Ballspiel hindurchstapfenden, als Gorilla verkleideten Menschen. Angesichts einer solchen Tatsache, dass gut 50 Prozent der Probanden so etwas massiv Auftretendes wie einen ‹Gorilla- Menschen› nicht sehen, muss man sich fragen: Was realisieren wir wohl sonst noch alles nicht? Was bleibt im Inneren der Welt und wird keine sinnliche Erscheinung? Was zeigt sich nur wenigen oder vielleicht auch nur hin und wieder … und, und, und. Wer und was wäre noch alles um uns herum zu sehen, wenn unsere Aufmerksamkeitsausrichtung eine andere sein würde!?

Hans-Christian Zehnter

7. Phänomenologie

Der First-Person-Perspektive der Phänomenologie wird vorgeworfen, sie sei ein subjektives Konstrukt. Sie entbehre der Objektivität. – Der hier gemachte Lösungsvorschlag macht gerade deutlich, dass wir nur durch das Subjekt zum objektiven Wesensgehalt der Wirklichkeit vorstoßen können. Ja, es lässt sich sogar sagen: Wir können gar nicht um das Subjekt umhin, da sich ja in ihm der objektive Wesensgehalt der Welt zeigt. Andererseits mangelt es der Phänomenologie oft an einer klaren Position zu dem, was als Wirklichkeit vor den Menschen hintritt. Wie ist es um diese Welt bestellt? Aus dieser Unsicherheit lässt sie sich oft unbewusst doch wieder auf ein ‹an sich› Gegebenes materielles Wirklichkeitsdasein ein – und unterminiert sich damit selbst. Würde sie entsprechend der obigen Darstellungen zum Lesen eines Buches die Wirklichkeit erleben und begreifen lernen, so würde sie die wahre Wirklichkeit nicht außen suchen, sondern im Innern des phänomenologisch beobachtenden Menschen selbst.

Damit wäre die First-Person-Perspektive der Phänomenologie der Forschungsansatz schlechthin. Wir Menschen wären damit nicht ein die Forschungsergebnisse kontaminierendes Subjekt mehr, sondern der Beobachtungsgrund, die Bühne, auf der das Objektive der Wirklichkeit zu finden wäre.

Es sollte abschließend noch betont werden, dass mit dem vorgeschlagenen Verständnisansatz von Wirklichkeit immanent verbunden ist, dass es nicht nur eine Wahrheit gibt und auch keine endgültige Wahrheit. Die Welt ist in ständiger Entwicklung. Es gibt so viele Wahrheiten, wie es Wirklichkeiten gibt. Dass dem so ist, lässt sich erkennen und antizipieren, wenn der richtige Weg zum Verständnis von Wirklichkeit gefunden wird. An diesem erkenntnismethodischen Weg zur wahren Wirklichkeit allerdings führt – so scheint es mir – kein Weg vorbei. Was dadurch dann konkret und inhaltlich zu Wirklichkeit wird, das ist vielfältig, aterritorial, gemeinschafts- und friedensfähig – und entwicklungsoffen.

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Footnotes

  1. Eine erkenntnistheoretische Herleitung hat Rudolf Steiner u. a. durch seine philosophischen Schriften erbracht: Grundlinien einer Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung (GA 2), Die Philosophie der Freiheit (GA 4), Einleitungen zu Goethes naturwissenschaftlichen Schriften (GA 1). – Ich habe in ‹Lichtmess – Essay zum Wesen des Lichts› (Kapitel: ‹Konstitution der Wirklichkeit›) eine erkenntnispraktische Herleitung des hier vertretenen Wirklichkeitsverständnisses versucht. – Ebenso gibt es auch reiche Erfahrung in phänomenologischer Forschung. Siehe z. B. Gernot Böhme und Gregor Schiemann (Hg.), Phänomenologie der Natur. Frankfurt a. M. 1997, 302 S.
  2. Vgl. Fußnote 11 in: Rudolf Steiner, Grundlinien einer Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung mit besonderer Rücksicht auf Schiller. Dornach 2003, S. 136.
  3. Martin Wigand, Der Ursprung aller Dinge ist der Logos, in: ‹Die Drei› 7–8/2020, S. 25–40; sowie ders., Quantenphysik – Anthroposophie – Logos-Mysterium. Stuttgart 2021.
  4. Harald Lesch, Joseph Gaßner, Urknall, Weltall und das Leben. München 2015, S. 40.
  5. Hierdurch ergibt sich auch eine Nähe zum Ausgangspunkt der Phänomenologie von Maurice Merleau-Ponty.
  6. Weitere Beispiele finden sich in: Hans-Christian Zehnter, Lichtmess – Essay zum Wesen des Lichts. Münchenstein 2018; ders., Der Himmel auf Erden. Vortrags-dvd, Binzen 2020.
  7. Anil K. Seth, Unsere inneren Universen, in: ‹Spektrum kompakt› 4/2020, S. 61–71.
  8. Als rein Innerliches, rein Übersinnliches betrachtet, ist diese Gestaltkraft – oder auch die Idee oder der Begriff – für sich genommen allerdings ohne jede Qualität einer sinnlichen Vorstellung. Das Übersinnliche oder Geistige ist für sich genommen eine vorstellungsfreie Welt. Alle Vorstellungen darüber sind eben Vorstellungen und nicht die rein geistige, vorstellungsfreie Erfahrung.
  9. Vgl. ‹Zueignung› zu Goethes ‹Faust I›: «Ihr naht Euch wieder, schwankende Gestalten / Die früh sich einst dem trüben Blick gezeigt. / Versuch’ ich wohl, euch diesmal festzuhalten? / Fühl’ ich mein Herz noch jenem Wahn geneigt? / Ihr drängt euch zu! nun gut, so mögt ihr walten, […]».
  10. Siehe: Gernot Böhme, Atmosphäre – Essays zur neuen Ästhetik. Berlin 2013, S. 247.
  11. Ohne die hier vorgeschlagenen Konsequenzen zu ziehen.
  12. Max Planck, Das Wesen des Lichtes, in: ‹Die Naturwissenschaften›, 7. Jahrgang, Heft 48, 28. November 1919.
  13. Vgl. z. B. «Das menschliche Denken kann sich umwandeln, sodass es wirklich hinaufdringen kann […]. Man dringt ein in diese materielle Welt und entdeckt, dass diese eigentlich die geistige ist, dass hinter dem Schleier der Natur in Wahrheit nicht materielle Atome sind, sondern geistige Wesenheiten.» Rudolf Steiner im Vortrag vom 24. Mai 1920, in: Die Philosophie des Thomas von Aquino (GA 74). – Der Autor hat hierzu die ausführliche Manuskriptstudie ‹Vom Lichtblitz zum Photon, zurück zum Lichtblitz und darüber hinaus› verfasst, die auf Anfrage zugeschickt werden kann.

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