Aus dem eigenen Mythos befreien

Gefangen in der Selbst­verklärung – diese typische Hybris eines Diktators zeichnet der Militär­analytiker Freedman vom russischen Präsidenten. Was im Doppel­gänger verdrängt und verdunkelt ist, ist in der strahlenden Überhöhung nicht weniger pathologisch. Sie in Gemeinschaften und in der eigenen Seele zu erkennen, das schafft Frieden.


«Die Sinnlosigkeit des russischen Krieges gegen die Ukraine wird nur noch von seiner Brutalität übertroffen.» Mit diesem Satz beginnt Lawrence Freedman, emeritierter Professor am Institut für War Studies in London, seine Analyse zu den Friedensmöglichkeiten des wütenden Krieges.1 Der Militäranalytiker scheint schon vor drei Jahren in seinem Buch ‹Ukraine and the Art of Strategy› einen solchen Konflikt geahnt zu haben. Am Ende seines aktuellen Artikels schreibt er, dass Wladimir Putin in seinen eigenen Lügen und Mythen über das Wesen der Ukraine gefangen sei, und zeigt dann den Weg zum Frieden: Beide Seiten hätten große Zugeständnisse zu leisten, die von Moskau ausgehen müssten. Zum Frieden führe eine realistische Einschätzung der Tragödie, die Putin der Ukraine und auch Russland zugefügt habe. Angesichts der Massaker in den Kiewer Vorstädten scheint das allerdings jetzt schwer vorstellbar. Was kompliziert klingt, lässt sich in einem Dreischritt fassen: Verblendung als Ursache, Sinnlosigkeit als Folge und Wirklichkeitssinn als Weg zum Frieden. Dieser Dreischritt hat nicht nur eine politische Dimension, die naturgemäß nach politischen Lösungen fragt, sondern wirft ein Licht auf all die Felder, wo sich in der Seele oder in Gemeinschaften die Selbsterzählung von der Wirklichkeit entfremdet. Die Verblendung, die Gefangenschaft im eigenen Mythos, dass ein Präsident von einem Grossreich träumt und dafür morden lässt, erlaubt nur die historischen Schreckensvergleiche. Unmenschlich ist es, was geschieht und ist doch der Anfang, die Verblendung, ein menschliches Phänomen. Sie ist auf allen Ebenen bis in die eigene Seele hinein zu finden. Friedfertigkeit bedeutet deshalb, sich der eigenen Selbsterzählung bewusst zu werden. Wie geht das?

Die Deutungshoheit

An der Michaelikonferenz 2000 machte Manfred Schmidt-Brabant diese Frage zum Thema. Er verwendete dazu Rudolf Steiners Topos der ‹Okkulten Gefangenschaft›. Die Fesseln, die man nicht bemerke, diese unsichtbaren Schlingen seien die schlimmsten, beschrieb er. Seine Vorstandskollegin Virginia Sease ergänzte, dass es häufig die ‹anderen› seien, die zu dem so selbst gebauten Gefängnis den Schlüssel hätten.

Auf einer Studienreise durch die Mongolei zur Sonnenfinsternis am Altaigebirge fragte die mongolische Führerin, was es denn mit ‹Anthroposophie› auf sich habe. Bevor ich selbst als Reiseleiter antworten konnte und vermutlich eines meiner Register gezogen hätte, setzte Helge Reitz, der Chef der mongolischen Trekkingfirma, an. Als ehemaliger Entwicklungshelfer kannte er Demeterhöfe und hatte sich daraus ein Bild über Anthroposophie gebaut. Er traf so den Kern – vermutlich besser, als ich oder andere Insider und Insiderinnen es hätten tun können. Es gehört wohl zur Verblendung jeder Gemeinschaft, gerade wenn ihr Ideenkosmos komplex ist, dass sie meinen, nur selbst beschreiben zu können, wer und was sie sind. Dieser gefühlten Deutungshoheit steht dann gegenüber, dass von anderer Seite gerade diejenigen für urteilsfähig erklärt werden, die diese Innensicht nicht haben.

Bild: Der Trekkingführer Helge Reitz (rechts) im Gespräch mit dem anthroposophischen Sozialunternehmer Walter Hahn; Foto: Wolfgang Held

Auf Augenhöhe

Als sich die Goetheanum-Meditationsinitiative vor einigen Jahren am Goetheanum zu einer großen Konferenz traf, da fragte Arthur Zajonc, ehemaliger Generalsekretär der Anthroposophischen Gesellschaft in den USA, die 150 Teilnehmenden, wer etwas unternehmen wolle, um das meditative Leben in der Anthroposophie zu steigern. «Ich will mit einigen Freunden die Klassenstunden Rudolf Steiners eurythmisieren!», erklärte eine junge Teilnehmerin. Da meldete sich Werner Barfod und bot seine Unterstützung an. Seit 30 Jahren arbeite er an diesen Fragen. «Nein danke», antwortete sie freundlich. Der Saal lachte und Werner Barfod auch. Schöner hätte nicht ins Bild kommen können, dass er mit 30 Jahren Studium den Jungen nicht unbedingt helfen kann, ja vielleicht nicht einmal ihnen etwas voraushat. Nicht im 21. Jahrhundert. Dass lebenslanges Studium an Rudolf Steiners Texten selbstverständlich Nähe und Kompetenz zur Anthroposophie bedeute, dieser Glaubenssatz, diese Selbsterzählung löste sich für die Versammelten auf. Dass dies damals so heiter geschehen konnte, lag wohl an der spirituellen Gegenwärtigkeit aller und Werner Barfods großem Herz. Feste Bilder lösen sich und damit verschwinden die Gräben, die diese Bilder geschaffen haben – in der Schreinerei am Goetheanum damals der Graben zwischen den Anthroposophieerfahrenen und den -unerfahrenen. Plötzlich saßen alle in einem Boot.

Vor zehn Jahren fragte die Journalistin Babara Heitger den Konzernchef von Novartis, Daniel Vasella, wo er sich Feedback hole, wo er das Gespräch auf Augenhöhe finde.2 «Vergessen Sie das. Das bekommen Sie nicht, weil alle eine Agenda haben», war seine Antwort. Jeder habe und verfolge eigene Interessen und deshalb gebe es auf dieser Führungsebene keine Freundschaft, das war die Aussage. Muss nicht gerade dort, wo die Entscheidungen weitreichend und schwerwiegend sind, gerade das möglich sein? Müsste nicht zur Kompetenz von Führungspersönlichkeiten gehören, solche Augenhöhe herstellen zu wollen und zu können? Dort, wo Entscheidungen manchmal Leben oder Tod bedeuten können, fand man die Antwort: Im Operationssaal und im Cockpit, so der Lufthansa-Pilot Hans Rahmann. Mindestens drei Fehler müssten zusammenkommen, damit ein Flugzeug abstürze. Das Statusgefühl der Piloten mache es schwer, sich gegenseitig auf Fehler aufmerksam zu machen und Fehler einzugestehen. Erst mit weiblichen Kollegen in der Fliegerkanzel, so Rahmann, lernten die Piloten ihre Selbsterzählung der Unfehlbarkeit hinter sich zu lassen und ein offenes Verhältnis zu Fehlern zu entwickeln. Es klingt schlicht: Unfall und Krieg zu verhüten, beginnt damit, dass ein Klima herrscht, in dem man die Selbsterzählung oder schlimmer noch, die Gefangenschaft im eigenen Mythos, auflöst. Die Selbsterzählung erweitert sich durch die Erzählung des Mitmenschen. Wo wir zum Nächsten sagen, wie wir ihn sehen, und ihm so die Möglichkeit geben, seine Selbsterzählung zu erweitern, wächst der Frieden.

Print Friendly, PDF & Email

Footnotes

  1. Lawrence Freedman online auf der Plattform ‹Comment is Freed›, 24. März 2022, und übersetzt als Gastbeitrag im Spiegel ‹Dieser Krieg ist noch lange nicht zu Ende› vom 27. März 2022.
  2. ‹Mr. Novartis› im Gespräch. Dr. Daniel Vasella bei ‹Leadership Revisited› auf Youtube.

Letzte Kommentare