Individualität im Zusammenspiel

Die Organe eines Bienenstocks sind temporär und beweglich. Sie bilden sich dort, wo sie gebraucht werden, und aus den Bienen, die gerade bereit sind, die Organfunktion zu erfüllen. Trotzdem plastiziert sich die Einzelbiene individuell. Der Bien und seine Organe geben ein zukunftsfähiges Bild für ein Lebensgeschehen aus der Gesamtheit.


‹Über das Wesen der Bienen› spricht Rudolf Steiner direkt vor der Weihnachtstagung zur Neugründung der Anthroposophischen Gesellschaft. Im ersten Vortrag kommt er auf die Gliederung des Biens zu sprechen, vergleicht ihn mit dem Kopf der Menschen und entwirft eine Analogie. Die Drohnen vergleicht er mit den Nervenzellen, die Arbeiterinnen mit den Blutzellen. Die Königin setzt er in Beziehung mit «Eiweißzellen, die besonders im Mittelkopf vorhanden sind, […].»1 In der Bienenforschung wird meist von außen her an die Beobachtung, Beschreibung und schließlich die ‹Zweckbestimmung› herangegangen. Es gelingt kaum, Perspektiven einzunehmen, die in die Möglichkeit versetzen, die Prozesse von innen her zu verfolgen. Dies wäre aber ein Schritt hin zu einer Ahnung, was sich dort in die Welt hinein organisiert. Zu versuchen, sich in den Strom zu versetzen, der von innen her zu den Lebensäußerungen führt, die wir von außen wahrnehmen können, erscheint mir als gute Voraussetzung, sich dem Wesen zu nähern. Es schafft sich in dieser Art die erforderlichen körperlichen Voraussetzungen, um genau das in den Naturprozessen zu bewirken, was dort wiederum unabdingbar bewirkt werden muss2, «so, daß die Erde überhaupt weiterleben kann».3

Rhythmen und Organe

Ein Imker sollte die Bienenrhythmen kennen, mitvollziehen und ein inneres Bild von der Organbildung im Bienenstock entwickeln können. Ausgehend von der Eilegetätigkeit der Bienenkönigin, durchziehen das Volk permanent die Rhythmen der Brutentwicklung von Arbeiterinnenbrut und, in der entsprechenden Jahreszeit, Drohnenbrut. Die Entwicklung einer Arbeiterin aus dem Ei zur schlüpfenden Biene braucht 21 Tage: 3 Tage als Ei, zweimal 3 Tage als Made in der offenen Zelle und 12 Tage als sich verpuppende und metamorphosierende Larve in der verdeckelten Zelle. Durch jedes Ei beginnt dieser Rhythmus neu. Bei der Drohne ist der Rhythmus etwas verlängert: 3 Tage als Ei, 7 Tage als Made in der offenen Zelle, 13 bis 14 Tage als Larve in der verdeckelten Zelle.

Die Entwicklung der Brut ist ein Grundrhythmus, der alle Völker die meiste Zeit des Jahres durchzieht. Dabei ist dieser Rhythmus stetig und im Wesentlichen unveränderbar. In jeder einzelnen Brutzelle geschieht fast minutiös und identisch das Gleiche.

Was meint nun Organbildung? Jeder Organismus hat als Voraussetzung für seine Existenz, seine Entwicklung und sein Tun, seine Aktivität in und an der Welt die Erfüllung von unterschiedlichsten Lebensprozessen und -funktionen nötig. Man spricht mechanistisch auch von Funktions- und Regelkreisen. Dort denkt man sich die Lebensfunktionen im Bezug zueinander so wie die Zahnräder in einer Maschine. Damit wird man allerdings dem aktiv-reaktiven physiologischen Miteinander der verschiedenen Organe und Organsysteme in einem lebenden und empfindenden Organismus nicht gerecht. Je höher entwickelt ein Organismus ist, desto differenzierter seine Organbildung. Dabei sind wir gewohnt, dass wir die Organe der Tiere immer stationär finden und erkennen können. Wir verlassen uns darauf, dass die Organe immer da sind, wo wir sie erwarten und suchen. Wir gehen einfach davon aus, dass unsere Leber rechts unter dem Rippenbogen sitzt und dass das Herz eben nicht wirklich in der Hose zu finden ist, dass die Nieren symmetrisch links und rechts unterhalb der Rippen im Rücken zu finden sind. Im Bienenvolk ist das nicht so einfach. Es bildet aber trotzdem alle Organe aus, die es braucht, seine Lebensprozesse und -funktionen zu erfüllen. Sie sind aber nicht bleibend stationär zu finden. Das einzige Organ, welches nach seinem Entstehen in seiner Form dort bleibt, wo es von den Bienen hingestaltet wurde, ist das Wabenwerk (sofern man es als Organ bezeichnen will). Alle anderen Organe können wir nicht ohne Weiteres dauerhaft an einem Ort finden.

Temporäre Organe

Die Bienenkönigin als Organ im Bienenstock erfüllt wesentliche Funktionen. Aus ihr quillt permanent der Lebensstrom hervor, durch den das Bienenvolk überhaupt in die Erscheinung kommt. Zu manchen Zeiten im Frühsommer bringt sie etwa 2000 Eier pro Tag hervor (alle 45 Sekunden ein Ei). Dann kümmert sie sich sichtbar nicht mehr um die Eier. Alles Folgende wird von den Arbeiterinnen geleistet, die wiederum aus den Eiern hervorgehen. Rhythmisch legt sie die Eier, wenn räumlich möglich, in konzentrischen Kreisen. Dabei bewegt sie sich fortlaufend über die Waben und durch das Wabenwerk. Dadurch entsteht die Brutsphäre, die im Bienenstock ein weiteres Organ bildet. Viele Imker kennen das Bild: Wir sehen die Königin auf der Wabe und sie ist umgeben von einem Kranz aus Bienen, fast wie eine Krone. Das nennen wir den ‹Hofstaat›. Im Hofstaat sind meist Ammenbienen, deren Futtersaftdrüsen voll entwickelt sind. Sie füttern und pflegen die Königin in dieser Begegnung; sie reichen ihr mit der Zunge den Futtersaft, lecken ihre Oberfläche ab und nehmen dabei das Königinnenpheromon auf und entsorgen auch noch ihre Exkremente. Bewegt sich die Königin weiter, löst sich der Hofstaat wieder auf. Die Einzelbienen geben dabei im sozialen Austausch das Pheromon weiter. So wird es von Biene zu Biene durch den ganzen Stock verteilt und so ‹weiß› am Ende immer jede einzelne Biene im Bienenstock, dass die Königin da ist.

Solange alles regelgerecht abläuft, lässt sich die Funktion des Pheromonstroms gar nicht feststellen. Wenn wir seine Bedeutung erfahren wollen, müssen wir den Umkehrschluss bemühen. Das geht, indem wir die Königin wegnehmen – der Pheromonstrom bricht ab und nach nicht allzu langer Zeit ‹weiß› der ganze Bienenstock, dass sie fehlt – die Bienen fangen an zu brausen und es sieht so aus, als würden sie überall nach ihr suchen, selbst außerhalb des Bienenstocks. Wenn die Königin von den Bienen nicht gefunden wird, startet das Volk ein ‹Notprogramm›, um sich aus vorhandener Arbeiterinnenbrut eine neue Königin nachzuschaffen. Die Königin als Organ ist normalerweise fortlaufend in Bewegung. Es bewegt sich dorthin, wo seine Hauptfunktion, Eier in Zellen zu stiften, gebraucht wird.

Bild: Königin mit Hofstaat, Foto: Michael Weiler

Als ein weiteres Organ kann der Hofstaat angesehen werden. Auch dieser ist kein stationäres Organ. An ihm wird ein zweites Charakteristikum der Organbildung im Bienenstock deutlich. Der Hofstaat bildet sich immer neu dort, wo die Königin erscheint, und zwar aus Bienen, die gerade dort sind, wo die Königin erscheint. Die Hofstaatbienen müssen bereit sein, die Königin wahrzunehmen und zu versorgen, müssen ausgebildete Futtersaftdrüsen haben und Futtersaft abgeben können.

Individualentwicklung

Organe im Bienenstock bilden sich temporär immer dann, wenn und dort, wo sie gebraucht werden. Und sie bilden sich aus den Bienen, die aktuell in der Bereitschaft sind, die Organfunktion zu erfüllen. Die Bereitschaft korreliert in der Einzelbiene damit, dass das entsprechende Drüsensystem in der entsprechenden Lebensphase ihrer Entwicklung gerade voll ausgebildet und aktiv ist.

Die Bienen schlüpfen stündlich und täglich als altersähnliche Geschwistergruppen und durchlaufen in diesen Gruppen vielfach synchron die weiteren Schritte ihrer Entwicklung – diese Verläufe sind aber nicht so identisch und absolut wie die Entwicklung der Brutstadien. Dies sowohl in der zeitlichen Dauer der einzelnen Tätigkeit als auch in der Abfolge. In der Entwicklung der Einzelbiene innerhalb der altersähnlichen Geschwistergruppen erscheinen mehr oder weniger individuelle Biografien. Die Arbeitsbienen durchlaufen zwar mit einer gewissen Regelmäßigkeit die verschiedenen Organbildungen der unterschiedlichen Tätigkeiten im Bienenstock (exemplarisch, Entwicklung von innen nach außen: putzen, wärmen, füttern der älteren Brut, der jüngeren Brut, der Königin, wenn diese gerade auftaucht und die Ammenbiene dabei ggf. kurzzeitig Mitglied des Organs ‹Hofstaat› wird, Nektar-zu-Honig- und Vorrats-Pflegebiene, Wachsschwitz- und Baubiene, Müllbiene, Wächterbiene, Sammelbiene). Es kann aber durchaus sein, dass die einzelne Biene einzelne Stufen überspringt, später ausführt oder gar vollkommen auslässt. Eine hohe Plastizität im Leben der einzelnen Arbeiterin zeigt sich darin, dass die Entwicklungen sogar revidierbar sind – so kann eine Sammelbiene bei Bedarf wieder die Aufgabe einer Ammenbiene übernehmen, die in der Regelbiografie früher lag und ggf. schon geleistet wurde.

Die Entwicklung der Einzelbiene nach dem Schlupf leitet sich hierbei sehr dynamisch und individuell ab im Zusammenspiel mit den sich ergebenden und ständig wechselnden aktuellen Bedürfnissen des gesamten Bienenstocks und im Austausch mit wechselnden trieb- oder verhaltensauslösenden ‹Informationen› aus dem Lebensgeschehen der Gesamtheit.

Dass der Neurobiologe Professor Randolf Menzel der Einzelbiene hierbei sogar eine ‹Entscheidungskompetenz› zuspricht und ausdrückt: «Die Biene weiß, wer sie ist. […] Sie hat eine innere Welt»,4 mag hier noch besonders berühren.


Kontakt autor@Der-Bienenfreund.de

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Footnotes

  1. RudolfSteiner, Mensch und Welt. Das Wirken des Geistes in der Natur. Über das Wesen der Bienen›, 1923/1978, GA 351, Vortrag vom 26.11.1923, Dornach, S. 142 f.
  2. A. a. O., Vortrag vom 15.12.1923, S. 240 f. und Vortrag vom 22.12.1923 insgesamt.
  3. A.a.O., S. 256.
  4. ‹Zeit Magazin› 02/2015 vom 8.1.2015.www.zeit.de/zeit-magazin/2015/02/bienen-forschung-randolf-menzel

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