Das Rudolf-Steiner-Haus im Hamburger Mittelweg mit dem direkt benachbarten Priesterseminar der Christengemeinschaft und der Johanneskirche ist ein besonderer Ort. Erlebbar wird dort, wie unterschiedliche Ausprägungen, Strömungen, Verzweigungen der Anthroposophie in Freundschaft aneinandergrenzen und sich befruchten und ergänzen.
Die bereits vierte ‹Lange Nacht der Anthroposophie›, unter dem Motto des Dialogs konzipiert (Leitung: Thomas Grofer und Christiane Meier) und im Zeichen des 100. Todestages Rudolf Steiners stehend, machte diese spirituelle und auch urbane Offenheit – gegründet auf gewachsener Substanz – anschaulich.
Bei prächtigster Frühlingssonne wanderte man durch den hinter den beiden Institutionen und Häusern gelegenen Garten durch die ‹Welt› einer gleichsam unschuldigen Anthroposophie. Der Garten verbindet die Gebäude im Verborgenen, denn er ist von der Straße aus nicht zu sehen. Ein Paradies an Expertisen und Menschen: Leben und Erkenntnis zur freien Verfügung. Überall zu finden: kleine Körbe mit Demeter-Äpfeln, Infostände und weitere Kulinarik zum Probieren und zur Stärkung. Im Foyer wurden die Gäste von den schönen selbst arrangierten Werken aus Klassik und Weltmusik des Wave Trio empfangen. Hier können nur Schlaglichter auf die Fülle an Parallelveranstaltungen versucht werden, die so wunderbar unterschiedliche anthroposophische Temperamente und Generationen, Themenfelder und Formate boten, dass sich das teils unschlüssig flanierende, teils zielstrebig strömende Publikum immer wieder an den Grenzen, den Türen, begegnete: die einen, die hinaus-, die anderen, die hineinwollten. Manchmal wurde es eng und labyrinthisch, manchmal kurz laut – und dann wieder leise.
Nachmittags las die Schriftstellerin Gunna Wendt im weiten, hellen Rittelmeyersaal aus ihrem im Piper-Verlag erschienenen Buch ‹Ita und Marie› und zeigte sich im Gespräch als eine im besten Sinne unschuldig Interessierte. In ihren Antworten auf die feinen, anregenden Fragen von Steffen Hartmann machte sie vor allem immer wieder deutlich, was auch den Ansatz ihrer Doppelbiografie charakterisiert: nicht Partei zu ergreifen für eine der Frauen, für eine Seite, sondern beiden gerecht werden zu wollen. Die Balance zu halten. Mit Steiner könnte man vielleicht hinzufügen: ein «Genie an Interesse» zu sein. So erlebe sie bislang auch, von beiden Seiten, ihren Kontakt zur anthroposophischen Szene. So müsse es bleiben. Direkt anschließend sprach Frank Steinwachs im Sechsecksaal über ‹Verschwörungsmythen, Rechtsextremismus und Waldorfschule›. Hier wurde das, was Gunna Wendt positiv hervorgehoben hatte, gewissermaßen auf die Probe gestellt. Es wurde klar, dass in der anthroposophischen Bewegung auch nicht alles Gold ist – um Goethes Märchen vom erquicklichen Gespräch in Erinnerung zu rufen –, was glänzt, und dass sie im komplexen Diskurs natürlich auch ihre Unschuld verloren hat. Weniger, weil allzu oft Einzelne verführt sind, selber glänzen zu wollen – das gibt es bekanntlich auch. Bei jenem Beitrag aber traten im Publikumsgespräch Verletzungen, die bis in die Corona-Zeit reichen, und sogar juristische Gegnerschaft irritierend eruptiv zutage.
Was die Vortragsthematik selbst anging, so wirkt es eventuell auf manch einen so, als würde das Kind mit dem Bade ausgeschüttet. Das Spektrum ist groß. Nur haben bizarre Verschwörungsvorstellungen wie die von Steinwachs erwähnten ‹Flat-Earther› nichts zu tun mit Steiners symptomatologischer Geschichts- und Zeitbetrachtung, die an Berechtigung und geisteswissenschaftlicher Seriosität ja nichts eingebüßt hat oder die überholt wäre. Deutlicher zu machen, auch als Bund der Waldorfschulen, dass man sich von diesem für die Anthroposophie zentralen Ansatz nicht grundsätzlich distanziert, von diskriminierenden Narrativen und Einflüsterungen und geradezu schlangenhafter faschistischer Unterwanderung aber sehr wohl und zu Recht, würde das gegenseitige Misstrauen vielleicht etwas auflösen können.
Dass ‹hinter den Kulissen› Politik gemacht, in Häusern, Institutionen und Hinterzimmern Koalitionen geschmiedet und dem ‹Bösen› und ‹Falschen› gegebenenfalls auch gezielt Wirkungsmöglichkeiten genommen werden, das gibt es ja. Nur: Wie kommt man wieder – von woanders – in den Garten des Gesprächs, in die doch grundsätzlich weiterbestehende Gemeinsamkeit in den übergeordneten Zielen? Wie behält man den doppelten Blick auf die biografisch-wissenschaftliche Prägung des Gegenübers? Melancholisch sah mancher Zuhörer im Secksecksaal durch das Fenster die anderen an der frischen Luft, am Rhododendron vorbei, die Steintreppen hinauf ins Grüne streben.
Insofern war es ein Segen, im Anschluss den Schauspieler Stephan Schad auf der Bühne zu erleben – einen Vortrag über ‹Künstlerische Intelligenz› performend: und zwar so, dass er, wie er am Ende betonte, das gemacht habe, worüber er gesprochen habe. Ausgehend von Beobachtungen der Bahnen von Erde und Sonne, dem ständigen Pendeln zwischen Nähe und Ferne, Sicherheit und Ungewissheit, einem Alles und einem Nichts, spannte er einen überraschenden Bogen: Es sei diese notwendige Pendelbewegung, die sowohl im Makrokosmos anzutreffen sei als auch im Mikrokosmos des Schauspielunterrichts. Denn es bedürfe auch da der übenden Vorbereitung, die Stabilität gibt, und zugleich einer bewussten Unsicherheit, in die man sich mitten hineinzustellen habe, einer Offenheit, in der man, ‹wenn der Vorhang aufgeht›, selbst als erfahrenster, genialster Schauspieler zugleich das Gefühl haben müsse: ‹Ich weiß eigentlich nicht, wie es geht!›
Nicht sich in Sicherheit wiegen in der eigenen Rolle, dem eigenen (Planeten-)System, mit der eigenen Meinung, nicht sich hart abgrenzen vom Anderen und Fremden, sondern sich in die labyrinthische Ungewissheit des Dialogs begeben mit der Rolle – ob als von Institutionen Beauftragter für etwas oder als von sich selbst Beauftragter für das vermeintlich Andere – so ginge es. In dieser Stimmung wurde von Landwirten und Eurythmistinnen, Zahnärztinnen und Ökonomen, Priesterinnen und Künstlern, Protagonisten wie Irene Diet bis Tom Tritschel, Wolfgang Müller bis Philip Kovce, in einer langen Nacht erkundet, was 100 Jahre nach Steiners Tod Anthroposophie im Dialog vermag. Letztlich ist der Dialog, den die Anthroposophie mit sich selbst führt, die Voraussetzung dafür, dass sie von der Straße, von ‹außen›, als zukunftsfähig und relevant erlebt wird, als beides: als sperriger, notwendiger Widerstand, als Besonderes, und als zutiefst der Gegenwart zugewandt, als nicht ab-gesondert. – So könnte es Morgen werden.