Eigentlich lichte ich mein eigenes Licht

Ein kleiner Essay, wie aus ‹eigentlich› Eigenlicht wurde.


«Eigentlich ist jetzt Mittagsschlafenszeit. Aber das gemeinsame Austauschen des Sandes unseres Sandkastens war für die Kinder so aufregend, dass sie heute stattdessen zusammen mit dem Sandmann im neuen Sand spielen dürfen.» Immer wieder hörte ich in den Tagen meines Besuches auf dem ‹Nyponkulla›, dem Hagebuttenhügel, bei Käty Toommägi und Holger Garthaus in Järna im Sommer 2020 dieses Wort ‹eigentlich›. Es fühlte sich warm und beweglich, ja eigentlich geschmeidig an. Als sie mich am Ende meiner Nyponkulla-Tage baten, einen Namen für ihren Kindergartenbauernhof zu finden, lag mir immer wieder dieses Wort ‹eigentlich› auf der Zunge. Aus meiner Seele, wo es sich eingenistet hatte, wurde es immer wieder hochgespült. Nach langem Abschmecken verwandelte es sich sanft in ‹Eigenlicht›.

Eigenlicht – als pädagogische Grundges­-te so zu wirken, dass jedes Kind und jeder Erwachsene im gemeinsamen Entwicklungsspiel sein Eigenlicht finden und entzünden kann, in seinem Tempo und auf seine ihm eigene Weise.

Ich erlebe keinerlei Effektivitätsdenken bei Käty und Holger im Sinne von: Das und das muss so und so bis dann und dann erreicht werden! Das ‹eigentliche› Ziel ist es, im gemeinsamen Tun von Kindern und Erwachsenen sich im Hier und Jetzt unmittelbar zu begegnen. Die jeweils passenden Arbeitsformen ergeben sich dabei ‹wie von allein›. Beim gemeinsamen Austauschen des Sandes der Kinder und Erwachsenen entsteht ein kreatives Chaos, das wie aus Zauberhand zum Ergebnis führt. Nyponkulla: eine Atemschaukel auf dem Hagebuttenhügel, ein Ort, an dem Kinder wesensgemäß atmen, schlafen und spielen, so meine Metapher nach dem Abschmecken von ‹eigentlich›.

Hohenloher ‹eigentlich›

«Eigentlich hat der Fritz recht, aber wie sollen wir die Zustände ändern in dieser Welt. Und ich als Einzelne kann sowieso nichts tun.» Einen Sommer später höre ich diese Sätze von ‹eigentlich› in vielen Varianten, auf unserer ‹T amie h›-BANKbank-Tour von Gammesfeld nach Crailsheim. Im Sommer 2019 haben wir zu dritt das ‹ZukunftsWerk Fliegerhorst Crailsheim› mit der Intention gegründet, dem ehemaligen Militärquartier, in dem vor allem Flüchtlinge und Menschen am Rande der Gesellschaft – darunter viele Nichtsesshafte – leben, Impulse für einen bunten, offenen, multikulturellen Stadtteil zu geben. Unserem Projekt haben wir den Namen ‹T amie h› geschenkt, was umgekehrt Heimat heißt und in der Mitte des Wortes ‹amie›, französisch: Freund, beinhaltet. ‹T amie h› symbolisiert für uns: Heimat finden – Gemeinschaft leben – Zukunft gestalten.1https://zukunftswerk-fliegerhorst.de/2

Drei Tage ziehen wir mit unserer BANKbank auf dem von uns extra angefertigten Handwagen über die Dörfer der Hohenloher Ebene und präsentieren sie den Menschen auf ihren Kirch- und Marktplätzen. Am Ziel der Tour im Fliegerhorstareal Crailsheim auf dem Wall weihen wir sie zusammen mit ihrem Freund, der Propellerskulptur von Paul Diestel, feierlich ein. Geschreinert aus dem Eichenholz seines Waldes widmen wir die erste BANKbank Friedrich Vogt, dem Dorfrebellen, letzten Jünger Raiffeisens und legendären Leiter der kleinsten Bank Deutschlands. Bis heute ist diese ein Einmannbetrieb. Der ‹Held› des preisgekrönten Dokumentarfilms über die Gammesfelder Raiffeisenbank, ‹Schotter wie Heu›, hatte in Zeiten der großen Finanzkrise fast Star-Status und wurde in alle großen Talkshows eingeladen.

Fast alle Hohenloherinnen und Hohenloher kennen und mögen ‹den Fritz›, wenn wir mit ihnen ins Gespräch kommen. Sie sind eher wortkarg, die Hohenloherinnen und Hohenloher, wägen die wenigen Worte, die ihnen über die Lippen kommen, lange und gut ab. Was raus darf, sitzt und hat Bestand. Wie die Sitzbank auf dem Wall in Crailsheim, die jeden Freitag von 14 bis 18 Uhr zur BANKbank wird. Dort können sich Menschen treffen, die Geld besitzen und es denen, die welches privat oder für die Umsetzung einer Idee brauchen, schenken oder zinsfrei verleihen.

Dieses Hohenloher ‹eigentlich› klingt anders als das aus Nyponkulla. Es drückt eine gefühlte und gelebte Ohnmacht dem kapitalistischen Finanz- und Wirtschaftssystem gegenüber aus und der daraus resultierenden Art unseres wenig geschwisterlichen, die Natur und unsere Lebensgrundlagen zerstörenden westlichen Lebens. Und es ist eine Metapher für die Ausflüchte, die Ausreden, die Entschuldigungen, die Rechtfertigungen für das eigene unaufrichtige, als inkonsequent und unehrlich empfundene Denken und Handeln. Wir alle kennen diese vermeintliche Klage: Als Einzelne können wir ob der Allmacht des Systems nichts tun.

Zugang zum Eigenlicht

Ich muss an Friedrich Schiller und seine ‹Briefe zur ästhetischen Erziehung des Menschen› denken. Meine zweite Bibel. Ohne das Spiel mit Stoff und Form, mit Sinnlichkeit und Vernunft, mit dem ‹Wilden› und dem ‹Barbaren› finden wir keinen Zugang zu unserem Eigenlicht. Wenn wir dieses Spiel von Polarität und Steigerung suchen und ernsthaft spielen, dann erst werden wir ganz Mensch. Denn: «Der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Wortes Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.» Goethe spricht von Schönheit, die entsteht, wenn wir mit Güte und Wahrheit spielen.

Wenn wir durch unser Spiel unser Eigenlicht suchen, finden und entzünden, spüren wir Licht, Wärme und Liebe. Das, was wir im Innen und Außen, im Großen und Kleinen mehr als je zuvor in diesen Zeiten brauchen.

Ein Trost: ‹Fräulein Eigenlicht›, über deren ‹roten Faden› ich im dunklen Dschungel des Internets stolpere, ruft mir in einem ihrer Youtube-Gedichtfilme zu: «Was wären wir ohne das, was uns fehlt.»

Lasst uns zusammen auf den Weg gehen und unser Eigenlicht suchen. Wo wir es finden und entzünden, da ist ‹T amie h›.

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