Es gibt einen Blick des Freundes. Er ist mit keinem anderen vergleichbar. Er nimmt uns so, wie wir sind, in unserer Ganzheit, in unserem Licht und Schatten. Er nimmt uns in unserem Kampf wahr – in unseren Stärken und Schwächen. Der Blick des Freundes hängt nicht von unserer Perfektion und Unvollkommenheit ab, er hängt nicht von Übereinstimmung oder Uneinigkeit ab. Im Blick des Freundes liegt ein tieferes Verständnis, ein Verständnis jenseits der Rationalität, ein Verständnis, das das unbegreifliche Mysterium würdigt.
Freundschaft kann überall auftauchen. Manchmal nur in einem Blick. Freundschaft kann in der Ehe, unter Kollegen, zwischen Eltern und Kindern auftauchen, aber auch mit völlig Unbekannten entstehen. Sie hat keine vorbestimmten äußeren Formen und kann nicht verordnet werden. Sie entsteht als eine menschliche Qualität. Manchmal wird sie durch Umstände behindert. Manchmal fehlt sie einfach.
Freundschaft ist von Natur aus frei. Sie zwingt nichts auf. Freundschaft kann die Distanz wachsen lassen, denn jeder soll frei bis ans Ende seiner selbst gehen können. Da die wahre Substanz der Freundschaft aus Freiheit besteht, muss sie durch den Nullpunkt gehen können, den Punkt der Abwesenheit, den Moment, in dem alle Bindungen verschwunden zu sein scheinen, wodurch man in die absolute Einsamkeit zurückkehrt. So scheint sie – in Ebbe und Flut des Lebens – immer wieder zu verschwinden.
Lazarus-Johannes, den Jesus liebte und der Jesus liebte, musste die Erfahrung der Distanz machen. Er musste völlig an die Grenzen seiner selbst, seines Ich und seines Schicksals gehen. Er landete in der Dunkelheit und Einsamkeit des Grabes. Seine Angehörigen fragten sich, warum Jesus ihn verlassen hatte. Jesus ließ ihn einfach sein Schicksal frei leben, bis zum Ende. Beide ließen die Distanz zu. Und gerade diese Distanz ermöglichte das Aufkommen einer ganz besonderen Liebe: Lazarus-Johannes wird zu ‹Der, den Jesus liebt› – anders gesagt: zum Freund Jesu. Auf Augenhöhe.
In der wahren Freundschaft weiß man nie, ob man sich wiedersehen wird. Freiheit regiert. Erfüllung des individuellen Schicksals ist erwünscht. Jedes Mal, wenn Freundschaft wieder auftaucht, gibt es etwas von einer Auferstehung, etwas, das den Tod überwindet. Freundschaft kann sehr diskret sein, denn sie ist nur eine Qualität der Liebe. Sie trägt den Stempel der Individualität. Ihre Substanz ist vom ‹Wer› geprägt. In der Freundschaft lebt der andere in seiner ganzen Einzigartigkeit, gerade weil sie in höchstem Maße die Freiheit innehat. So ist die Beziehung zwischen Jesus und Lazarus-Johannes mit keiner anderen vergleichbar.
Eines Tages hatte ich mich in die dunklen Tiefen der Einsamkeit und Hilflosigkeit begeben. Ich war mit mir selbst konfrontiert, konnte keine Hilfe von außen erkennen und alle Freundschaften schienen wie aufgelöst. Während ich alle Hoffnung und jeden Trost verloren hatte, tauchte ein Blick aus dem Nichts auf. Dieser Blick, der auf mir ruhte, war voller Wohlwollen und Vertrauen. Er kannte mich. Ich kannte ihn auch – ohne ihn benennen zu können. Er ließ mich völlig frei. Doch stumm schien er sagen zu wollen: «Komm aus diesem Grab heraus!», aber er sagte es nicht. Sein Blick – der Blick des Freundes – reichte aus, damit ich mich erneut aufrichtete und den Weg zum Licht der Welt wiederfand.
Ich weiß jetzt, dass es eine Freundschaft im Innersten der Welt gibt. Ein unendliches Potenzial an Freundschaft zwischen allen Wesen – menschlichen, natürlichen, spirituellen. Auf diesem Freundschaftspotenzial beruht das Schicksal der Welt. Freundschaft, Tochter der Freiheit, kann nicht unterworfen oder erzwungen, sondern nur aufgenommen und gepflegt werden. Es geht darum, bereit zu sein. Jeder Mensch kann den Glanz der Freundschaft, den Blick des Freundes in jeder Situation mit jedem menschlichen oder nicht menschlichen Wesen wahrnehmen – eine Freundschaft mit dem Kosmos beginnen. Freundschaft macht auf ihrem Weg alles menschlich. Freundschaft ist die einzige Kraft, die Kriege verhindern kann. Wenn es etwas gibt, was die Welt im Innersten zusammenhält, dann ist es die Freundschaft – der Blick des Freundes.
Fotografie ‹Shaping Light› von Laura Liska