Dem Unbekannten Heimat geben

Joan Sleigh, Laura Liska und Gilda Bartel im Gespräch

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Drei Frauen erkunden gemeinsam die Qualitäten des Weiblichen und seine Bedeutung für unsere Zeit. Dabei stoßen sie auch auf die Qualitäten des Männlichen. Zwei Wesen erscheinen im Gespräch zwischen Joan Sleigh, Laura Liska und Gilda Bartel und offenbaren, wie sie im Menschen zusammengehören.


Gilda Bartel Was würdest du in deiner Arbeit mit Gruppen und sozialen Projekten als eine typisch weibliche Eigenschaft bezeichnen, die heute besonders gefragt ist?

Joan Sleigh Meiner Erfahrung nach sorgt eine weibliche Qualität dafür, eine fördernde Atmosphäre herzustellen für das, was wir tun, worum es gehen soll in diesem Gespräch, für jenes, was gesucht und versucht wird. Ich tue es aus dem einfachen Grund, weil ich es nicht anders kann. Ich trage das Weibliche in mir, in meinem Wesen. Ich verkörpere es. Das bedeutet, dass ich mir in meiner Arbeit mit Menschen und Gruppen immer der gesamten Situation bewusst bin – ich sehe die Details und die Atmosphäre, den entstehenden Raum. Ich bin inklusiv und sorge dafür, dass niemand außen vor bleibt. Wenn ich eine Sitzung leite, bitte ich immer einen meiner Kollegen, mir zu helfen, um zu prüfen, ob ich nicht etwas übersehe, das gesagt werden möchte. Ich denke, das sind alles weibliche Eigenschaften.

Eine weitere weibliche Eigenschaft ist es, sich zurückzunehmen und einen Prozess zuzulassen, auch wenn ich es anders machen würde. Es bedeutet, am Prozess eines anderen teilzunehmen, ohne sich einzumischen: den Prozess zuzulassen und Teil davon zu sein, nicht aus ihm herauszutreten, aber auch nicht in die Mitte zu treten. Das ist ziemlich neu für mich – einen Raum zu halten, der nicht mein Raum ist, und dennoch den Prozess eines anderen zu halten und zu bezeugen.

Laura Liska Warum glaubst du, betrachten wir diese Eigenschaften als ‹weiblich›?

Joan Ich denke, es hat damit zu tun, dass man nicht in seinem Ego stehen muss. Aber es bedeutet nicht, dass man sein Ego aufgibt oder die eigene Initiative oder Richtung beiseiteschiebt. Es ist nicht so, dass man aufhört, eine Richtung vorzugeben, und es ist nicht so, dass man etwas initiiert. Es ist eher so, dass man sich durch diese Richtung in etwas Größeres hinein erweitert. Es geht um die Frage: Was gibt es noch außer meinem Impuls und dem, was ich tun kann?

Ich weiß nicht, warum das weiblich ist, aber ich habe ein Bild von der Gebärmutter, die einen Raum schafft, der viel mehr als nur eine Dimensionalität enthalten kann. Ich glaube, wir sind alle multidimensional, und ich glaube, wir können das verkörpern. Und ich meine nicht die Frauen, ich meine das Weibliche. Viele Männer, die in männlichen Körpern leben, haben weibliche Aspekte, insbesondere in ihrer Seele. Es ist also nicht nur weiblich. Es ist wie eine Qualität des erweiterten Selbstseins.

Joan Sleigh

Laura Die Fähigkeit oder der Wunsch, den Raum zu halten, zu bemerken, wie sich die Menschen fühlen, die Harmonie zu wahren – als eine weibliche Eigenschaft –, ist das etwas Natürliches für Frauen? Oder ist das etwas, wonach wir streben und was wir lernen müssen, ob wir nun Frau oder Mann sind?

Joan Das ist eine interessante Frage, denn was ist natürlich? Ist es das Erbe meiner Vorfahren, mit dem ich geboren werde? Ich werde mit sehr wenig geboren, denke ich. Ich entwickle und forme, wer ich bin. Ich werde mit einem unendlichen Potenzial geboren, aber ich verkörpere mich und werde von meiner Umgebung und meinen Erfahrungen geprägt. Ich wurde also definitiv mit dem Potenzial für das Weibliche geboren, aber nicht mit der Fähigkeit dazu. Die Fähigkeit dazu hat sich durch meine Lebenserfahrung entwickelt, dadurch, dass ich eine alleinerziehende Mutter von vier Kindern bin, dass ich im Camphill gelebt habe, dass ich bestimmte, durchaus schwierige Annahmen und Vorurteile habe, dass ich hier in Südafrika in schwierigen sozialen Situationen lebe, die manchmal sehr vielfältig und dramatisch sind, und dass ich Raum halten und Räume der Sicherheit und Integration schaffen muss und will.

Heilige Gastfreundschaft

Gilda In Europa charakterisieren wir diese weiblichen Qualitäten immer noch und etwas belächelnd als ‹über unsere Gefühle sprechen›. Unsere westliche Gesellschaft wertschätzt oder erkennt weibliche Qualitäten noch nicht sehr. Aber die Erde stirbt, die sozialen Prozesse sind gestört und niemand traut dem anderen. Wir brauchen etwas anderes. Ein Bewusstsein dafür hat sich noch nicht entwickelt. Warum ist das so?

Joan Die Welt der Organisationen und Unternehmen weiß, dass wir die Systeme, die wir aufgebaut haben, nicht aufrechterhalten können. Eine auf maximalen Gewinn ausgerichtete Wirtschaft kann nicht mehr funktionieren. Sogar die Nachhaltigkeit ist überholt: Wir wissen, dass wir zum Beispiel die Art und Weise, wie wir die natürlichen Ressourcen ausgebeutet haben, ohne sie wieder aufzufüllen, nicht aufrechterhalten können. Wir brauchen einen radikalen Paradigmen- und Mentalitätswechsel. Im sozialen Bereich wird derzeit viel getan, um Gesprächsräume zu schaffen. Ein Gesprächsraum ist mehr als ein Raum des Dialogs: Es ist ein Raum der heiligen Gastfreundschaft. Hier können Menschen sich befähigt fühlen, ihre Stimme zu finden und auch etwas durch sie sprechen zu lassen.

In unserer Kultur wird von uns erwartet, dass wir stabil und fähig sind und dass wir alles erreichen und leisten, wozu wir uns verpflichtet haben. Man erwartet von uns, dass wir verantwortungsbewusst sind, und das erwarten wir auch von uns selbst, nicht wahr? Vielleicht ist die psychische Gesundheit in Europa und im Westen nicht so stark bedroht wie in anderen Ländern. Die Probleme der psychischen Gesundheit in Südafrika sind enorm. Jeder spricht davon, traumatisiert zu sein, und alles ist traumatisierend oder bedrohlich. Ängste, Depressionen, Essstörungen und Suchtverhalten sind weitverbreitet. Es ist sehr schwierig, Souveränität, innere Ruhe zu bewahren und Räume zu schaffen, in denen wir denken und uns austauschen können, ohne uns aufzuregen und uns gestresst zu fühlen. Ich sehe das bei meinen Schülern und Schülerinnen. Viele junge Menschen hier sind überempfindlich und zerbrechlich. Sie sind auf der Suche nach etwas Neuem. Sie bringen neue kreative Fähigkeiten mit, aber gleichzeitig haben sie Schwierigkeiten, sich in ihrem Körper, ihrem Geist und ihrer Gegenwart zu behaupten.

Sibylle Reichel, ‹Augenleuchten›, aus der Serie ‹Atmosphären/Idiolektische Gespräche›, 2012

Gilda Sollten wir also das Weibliche mehr schätzen? Ist es notwendig, ein Konzept des Weiblichen zu entwickeln? Oder ist es bereits Teil des Wandels, nicht mehr danach zu fragen, sondern ins Tun zu kommen?

Joan Der analytische, wissenschaftliche Versuch, einen Sinn zu finden, alle Informationen zu haben, die Definition von allem zu benennen – zu definieren, was weiblich ist und was nicht –, ist das nicht alles Teil einer alten Denkweise? Es ist wichtig, nach Bedeutung und Informationen zu suchen, aber das ist nur der Anfang, die Grundlage der Dinge. Der weibliche Verstand muss sich einschalten und sagen: «Das war der Rahmen. Jetzt kommt die Integration, das heißt das Leben darin.» Wir alle müssen hineintreten und das Unbekannte aufnehmen. Ist der weibliche Aspekt besser in der Lage, diese Spannung auszuhalten? Können wir die Unannehmlichkeiten und die lästigen Realitäten des Lebens aushalten? Wir müssen selbst mutig und unbequem sein.

Laura Wild und verrucht?

Joan (lachend) Wild, verrucht und wunderschön! Wir haben diese ganze Zerstörung von Lebensräumen verursacht, weil wir die Ressourcen der Natur missbrauchten. Wir müssen heute äußere ‹heilige› Räume schaffen: einen Wald oder eine unberührte Wiese, wie sie es am Goetheanum tun, wo die Pflanzen, Insekten und Vögel geschützt werden. Wir haben in unserer Gesellschaft eine Zerstörung des Lebensraumes der Seele selbst und der spirituellen Begegnungsorte. Ich glaube, wir müssen auch solche seelisch-geistigen Räume gestalten und ermöglichen.

Mit diesen wilden, verruchten und schönen Lebenskräften zu leben, das ist Natur. Das ist das Leben! Und das Leben ist unvorhersehbar und schwer zu fassen. Und es ist schön und reichhaltig. Das Weibliche ist wie eine Lebenskraft, und das ist der Schlüssel für unsere Zeit. Wir müssen in das Leben eintauchen. Wir müssen sanft, offen und intuitiv werden. Und wir müssen erkennen: Ich schaffe das nicht allein. Solange du oder ich immer noch sagen: «Ihr müsst erkennen, was ich einbringen kann, und mir Raum geben, damit ich sein kann, wer ich bin», stecken wir immer noch im Physischen, im Sichtbaren fest. Potenzial und Fülle liegen in der lebendigen Substanz von Prozessen, von Rhythmen, Zyklen und kontinuierlicher Transformation. Wir nennen das ‹ätherische Kräfte›. Dort vermischen wir uns mit ganz anderen Wesen, anderen Gedanken, anderen Dimensionen und anderen Mitteln. Die Welt kommt ohne diese nicht mehr aus. Fragt eure Töchter und Söhne. Die wissen das. Einige Menschen der neuen Generation sind zerbrechlich und verwirrt und kämpfen damit, eine Struktur zu haben oder Rechenschaft abzulegen oder unseren Erwartungen gerecht zu werden. Aber sie haben Sehnsucht und sind offen für andere Dimensionen. Wie können wir ihre Prozesse nicht unterbrechen, sondern einen stabilen Raum schaffen und erhalten, in dem sie kämpfen können, bis sie ihre Richtung gefunden haben?

Eine andere Art von Mitwirken

Laura Es gibt eine körpereigene Weisheit und ein Verständnis dafür, was es bedeutet, Raum zu schaffen. Ein Frauenkörper weiß das Ungewisse zu halten und das Unbekannte zu nähren, wenn er ein Baby bekommt. Steckt das nicht in der Erde selbst? Wenn wir das Weibliche bewusst verkörpern und uns darauf einlassen wollen, dann müssen wir diese weiblichen Qualitäten im richtigen Kontext würdigen. Sie existieren nicht in der Abstraktion, sondern in der Beziehung. Ich vermute, dass sich die meisten von uns nach einem Gefühl der Zugehörigkeit und Teilhabe sehnen, nach dem Gefühl, willkommen zu sein und geschätzt zu werden. Dafür gibt es in unserer äußeren Welt eine Fülle von Normen, die Menschen auf der Grundlage von Handlung und Leistung anerkennen und schätzen. Sich zurücknehmen und Raum geben, ist das eine andere Art der Beteiligung? Schätzen wir sie genauso sehr wie unsere Aktivitäten in der leistungsorientierten Welt?

Sibylle Reichel, ‹#scheiternundwürdigen›, aus dem Zyklus ‹Körperwissen›, 2024

Joan Ja, das Weibliche muss anerkannt werden. Es muss geehrt werden und Raum bekommen. Wenn wir in dieser unvorhersehbaren Lebensdimension leben, in der wir nicht wissen, wie sich die Dinge entwickeln werden, dann muss es Raum für Entschleunigung geben, um das Unbekannte auszuhalten. Und das ist zum Beispiel in den meisten unserer Besprechungen nicht der Fall, in denen wir Fristen haben, dies zu Ende bringen müssen, das entscheiden und erreichen müssen. Wir müssen eigentlich sagen: «Langsam! Lasst uns einen Moment innehalten und durchatmen. Lasst uns zuhören, was wirklich gewünscht und gebraucht wird.» Das bedeutet, dass wir eine Sache umdrehen und uns öffnen, damit sie nicht nur in eine Richtung geht.

Gilda Das kommt vor. Manchmal gibt es Abgabetermine und ich habe das Gefühl, dass ich diejenige sein muss, die Druck macht, damit es erledigt wird. Manchmal muss ich als Mutter dafür sorgen, dass Hausaufgaben fertig sind und zugleich das Abendessen gemacht wird, alle ins Bett gebracht sind. Darf ich, dürfen wir diese weiblichen Qualitäten im täglichen Leben überhaupt leben?

Joan Die Widerstandsfähigkeit, von der du sprichst, wenn man ein Dutzend Dinge gleichzeitig managt, klingt nach Krisenmanagement. Wer trägt die Verantwortung? Wenn das Feuer im Wald ausbricht, reagieren wir alle. In den meisten indigenen afrikanischen Traditionen übernehmen die Frauen die körperliche Arbeit. Sie kochen, bestellen den Boden, pflanzen das Gemüse, sammeln die Früchte und so weiter. Die Männer gehen auf die Jagd. Das ist eine völlig andere Art des Handelns und der Interaktion. In gewisser Weise bietet der Freiraum also auch die Möglichkeit des Multitaskings oder des Krisenmanagements – die Fähigkeit, auf verschiedene Anforderungen zu reagieren.

Laura Erfordert dies eine neue Fähigkeit, eine andere Ebene des Bewusstseins? Nicht nur ‹erledigen› oder ‹innehalten und zuhören, was gewünscht wird›, sondern ein Unterscheidungsvermögen, ob man sich in jedem Moment für das eine oder das andere entscheidet. Ich bin also nicht mehr ‹weiblich› oder ‹männlich›, ich bin die Bewegung, die Flexibilität, die beide Qualitäten zulässt und integriert? Das würde bedeuten, dass wir unbedingt beides brauchen, dass das Männliche und das Weibliche wesentlich und untrennbar sind, in der Welt außerhalb von uns ebenso wie in jedem von uns drin.

Gilda Das würde auch bedeuten, eine Verbindung, sowohl zum ‹vertikalen› geistigen Lebenshorizont, als auch zum ‹horizontalen›, weltlichen Lebenshorizont zu haben. Wenn ich in der chaotischen Situation, die einfach die lebensschaffenden Prozesse sind, noch atmen kann, öffnet sich eine Sphäre des Potenzials für das Spirituelle, das in unser tägliches Leben und biografisches Alter hineinwächst.

Sibylle Reichel, ‹Diffusion›, aus der Serie ‹Atmosphären/Idiolektische Gespräche›, 2012

Joan Ich frage mich, ob es für eine reife Frau, ein Sophia-Wesen, möglich ist, in beidem gleichzeitig zu leben. Mit anderen Worten, eine Situation zu bewältigen, ohne die innere Ruhe und Verbundenheit zu verlieren, die es ermöglicht, durch das Chaos zu atmen – eine Krise zu bewältigen, ohne Teil der Krise zu werden? Ich weiß nicht, ob das möglich ist, aber ich stelle mir gerne vor, dass es möglich ist.

Schwellendenken

Joan In meinen Studien zur Entwicklung von Führungskräften bin ich auf etwas gestoßen, das ‹Schwellenkonzepte› genannt wird. Es gibt Forschungsarbeiten über integratives, komplexes Denken, in denen Schwellenkonzepte oder Schwellendenken als ‹integriert, unvorhersehbar, unumkehrbar und mühsam› beschrieben werden. Ich glaube, dass dies weibliche Qualitäten sind. Und wenn man anfängt, so zu denken, kann man nicht mehr zurück. Man kann nicht mehr zu einfachem Denken zurückkehren. Es ist unumkehrbar, wie eine Art Geburtsprozess. Könnte dies ein Teil der Entwicklung dieser anderen Bewusstseinsebene sein, die Art von erweitertem Fokus, die du vorgeschlagen hast?

Laura Wie sieht dieses Schwellendenken aus?

Joan Die Denkweise Rudolf Steiners bietet zahlreiche Beispiele. Eines davon ist sein Motiv des freien Menschen. Andrew Welburn schrieb über Steiners Philosophie der Freiheit: «Der Mensch weiß, dass er tun und leiden kann – was, das weiß er nicht, bis er es versucht.» Das ist ein Schwellengedanke, der Steiners Denken widerspiegelt. Er führt direkt in eine Metadimension, die, wie ich glaube, mit weiblichen Qualitäten erfasst werden kann. Sie ist integrativ, mühsam, unumkehrbar und unberechenbar, aber auch schön und wild.

Laura Das ist wunderbar. Es scheint, dass Poesie Schwellendenken ist.

Gilda Die Dämmerung ist auch eine Schwelle. Ich bin noch nicht ganz wach oder träume noch, aber ich habe bereits ein Bewusstsein von etwas, und ich bin in der Lage, dem Raum zu geben und zu halten, was ich vielleicht noch nicht weiß, was aber in diesem Schwellenmoment ankommt. Ist es möglich, dass Schwellendenken Sophia-Denken ist? Sophia als weibliches Wesen, das in der Lage ist, den ‹Körper› für das Bewusstsein dessen zu schaffen, was auftaucht: eine Idee oder ein Bild von etwas. Es ist ein Prozess der Inkarnation. Aber wenn Schwellengedanken Sophia-Gedanken sind, was wäre dann das männliche Komplementär dazu?

Sibylle Reichel, ‹Beschleunigung einer fröhlichen Transformation›, aus dem Zyklus ‹Stehen-mit-der-Erde›, 2020

Joan Das sind schöne Gedanken und Fragen. Es scheint, dass die Anthroposophie in erster Linie auf dem Impuls von Michael basiert, aber immer in Bezug auf das universelle kosmische Wesen von Christus. Was ist michaelisches Denken? Und wie könnten sophianisches und michaelisches Denken zusammenwirken? Es ist interessant und inspirierend zu hören, wie du es beschreibst: Es scheint, dass der Gang durch die Dämmerung oder durch die Poesie mit dem Sophia-Denkgefühl einem Inkarnations- oder Geburtsprozess gleicht. Sie bittet darum, sich zu manifestieren, und das kann nur durch eine verkörperte Erfahrung Wirklichkeit werden. Michael inkarniert sich nicht. Michael schaut und bezeugt mit ernsthafter Absicht und Teilnahme aus einem Raum jenseits der sichtbaren Realität. Er ist nicht wild wie Frauen. Er ist ein stiller, aber voll engagierter Beobachter – ein Zeuge. Wenn das das transformierte Männliche ist, dann verkörpert es sich nicht, aber es birgt Kontext, Zweck und Potenzial. Es ist wie unser höheres Selbst, das sich nicht verkörpert. Enthält es den Kontext, das Ziel und das Potenzial dessen, was wir eines Tages sein könnten?

In diesem Sinne trägt ein Teil das Prinzip der Schöpfung – das Unbekannte auszuhalten und zu umarmen. Angst kann ein integraler Bestandteil des Schöpfungsprozesses sein: der Weg durch das Zwielicht in eine unbekannte und noch unvorstellbare Zukunft. Wir können tun und leiden, wofür, das wissen wir nicht, bis wir es versuchen. Das ist Wille, das ist Engagement, das ist Schöpfung. Es ist ein ständiges Schaffen. Und wie könnten wir den anderen Teil beschreiben: Licht, Weisheit, Wesenheit?

Laura Wahrheit? Ein durchdringender Blick, der das Wahre erhellt oder zum Vorschein bringt? Sophia ist im Wilden, im Umarmen und im Generativen. Michael steht für die Stille und das Beobachten. Wärme und Licht?

Gilda Dass wir überhaupt über Sophia sprechen können, ist nur möglich, weil ‹jemand› oder ‹etwas› draußen ist – eine Frau oder ein Mann – und sie anschaut. Es muss ein Bewusstsein dafür geben, was für das Ich zugänglich ist: die Möglichkeit zu erkennen, dass ich erkenne, mich selbst zu betrachten, auch in meinen Sophia-Qualitäten. Es ist eine Instanz in mir, zu der ich gehen und von außen schauen kann.

Joan Ich verstehe dies als eine Eigenschaft der Bewusstseinsseele: die Möglichkeit, aus mir selbst herauszutreten, einen Teil meiner selbst aus mir selbst zu trennen, um einen anderen Teil von mir selbst zu betrachten und wahrzunehmen. Diese Qualität des ‹Sich-aus-sich-selbst-Heraustrennens› ist offenbar ziemlich neu. Wenn wir das als eine männliche Eigenschaft der Seele sehen, dann trennt sie sich heraus, aber nur, damit sie als integraler Teil wahrgenommen werden kann. In gewisser Weise kommen wir also auf die Bemerkung zurück, dass wir eigentlich beides brauchen, wir können es nicht voneinander trennen. Schaffen und Reflektieren – Sophia und Michael zusammen – könnte das sein, was wir tun? Wir können nicht hinausgehen und die Welt verändern. Wir können nicht einmal hinausgehen und Ratschläge erteilen, weil jede Veränderung heute persönlich, frei und von innen heraus erfolgen muss. Dazu brauchen wir andere, die unsere Handlungen und Wahrnehmungen bezeugen. Und ich glaube, wir müssen auch die michaelischen und sophianischen Wesen in unseren Herzen beherbergen – eine weitere Form der heiligen Gastfreundschaft.


Illustrationen von Sibylle Reichel
Sibylle Reichel ist Feldforscherin für Dialog. Als Künstlerin druckt und zeichnet sie zu freien Themen oder visualisiert durch Graphic Recording die Gedankengänge von Gruppen, in Vorträgen und Fachtexten. In der Wahrnehmung, wie sich Zwischenräume aufspannen und gestaltet werden, schließt sich der Kreis zu ihrer Ausbildung als Architektin. Mehr: Sibylle Reichel

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