Sofia Gubaidulina

Zum Tod der russischen Komponistin am 13. März 2025.


Als Fünfjährige sieht Sofia bei einem Ferienaufenthalt zum ersten Mal eine Ikone. Sie ist fasziniert, ja gebannt von dem Eindruck, den die Ikone auf sie macht. Vielleicht hat sie etwas von dem geahnt, was Dostojewski meinte, als er die Ikone ein ‹Fenster› nannte, ein Fenster in eine andere Welt. Diese andere Welt aber ist nicht unnahbar fern, sondern erscheint für orthodoxe Gläubige in der Ikone. Sie repräsentiert, macht präsent, was auf ihr dargestellt wird. Die Ikone macht sichtbar, Sofia Gubaidulinas Musik macht hörbar, was im Geistigen lebt und wirkt.

Es war das Jahr 1936, als Sofia dieses innere Schlüsselerlebnis an einer Ikone hatte. Ihr religiös-künstlerischer Impuls war geweckt. Die Eltern, denen sie von ihrem Erlebnis erzählte, waren erschrocken und baten sie, mit niemandem darüber zu sprechen. Es waren die Jahre der stalinistischen Säuberungen. Fast aus jeder Familie gab es Opfer, niemand konnte sich mehr sicher fühlen. An die Stelle der Religion sollte die Heilslehre des Kommunismus treten. Nur wenige Kirchen und Klöster blieben erhalten. In eine solche Zeit und in eine solche gesellschaftliche Situation inkarnierte sich Sofia – wie auch der 1935 in Moskau geborene, weit über Russland bekannte Priester Alexander Men († 1990). Zwei Sterne in finsterer Zeit gingen auf, Flammenzeichen gegen Verfolgung, Terror und Vernichtung.

Bald nach dem Erlebnis der Fünfjährigen an einer Ikone macht Sofia ihre ersten tiefen musikalischen Erfahrungen. Ein Flügel kommt ins Haus, für sie wie ein eigenes Wesen, an dem sie sich lauschend experimentiert. Sie streicht mit den Fingern über die Tasten, die Saiten, den Resonanzkörper. Dem Instrument so alle möglichen Klänge zu entlocken, ist für sie eine faszinierende, ja himmlische Erfahrung, die sie der Erfahrung an der Ikone an die Seite stellt. Religion und Kunst finden sich in ihrer Seele auf eine ganz eigene Art. Ihre musikalische Kunst – komponieren und improvisieren – als religiöser Schöpfungsakt nehmen hier ihren Anfang, mit dem Ziel, Himmel und Erde immer neu zu verbinden. Auch in der Geschichte ihrer Familie verbinden sich Welten: Der Großvater war Tatar, ein muslimischer Imam, ihr Vater Ingenieur, die Mutter Lehrerin. Die Musikschule in ihrem Geburtsort Kasan, östlich von Moskau, wird für sie ihr ‹Tempel der Kindheit› in Zeiten von Terror und Krieg. Sie studiert Klavier und bekommt ersten Kompositionsunterricht. Mit Stalins Tod 1954 beginnen die Jahre des politischen Tauwetters. Solschenizyn darf sein erstes Werk ‹Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch› veröffentlichen. Sofia bekommt ein Stipendium und setzt ihre Studien in Moskau fort.

1959, Sofia ist inzwischen 28 Jahre alt, kommt es zu einer biografisch bedeutsamen Begegnung mit dem Komponisten Dmitri Schostakowitsch (1906–1975), dem damals höchste Wertschätzung, ja nahezu religiöse Verehrung zuteilwurde. Ohne ihn, so erinnert sich Sofia später, «hätte ich in jenen Jahren nicht leben und arbeiten können, ohne ihn fehlte mir die Luft zum Atmen.»1 Auf Bitten ihres Kompositionslehrers Nikolai Peiko lud Schostakowitsch Sofia zu sich nach Hause ein. Sie sollte ihm ihre im Vorjahr entstandene eigene Symphonie, ihre Examensarbeit, vorspielen. Sofia erinnert sich, dass er nach dem Vorspiel einige lobende Bemerkungen darüber machte. Zum Abschied aber sagte er ihr ein paar Worte, die sich ihr unauslöschlich einprägten: «Seien Sie Sie selbst, haben Sie keine Angst, Sie selbst zu sein. Ich wünsche Ihnen, dass Sie auf Ihrem eigenen, falschen Weg weitergehen.»2

So ermutigt entstand über Jahrzehnte ein reiches musikalisches Schaffen, das immer größere Kreise zog, und das Michael Kurtz in seiner großen Biografie bis zu deren Erscheinen im Jahre 2001 Schritt für Schritt nachgezeichnet hat. Sofia wird eingeladen nach Westeuropa, Amerika oder Japan, 1992 siedelt sie um in die Nähe von Hamburg. Im Juni 1998 begegnete ich ihr erstmals persönlich am Goetheanum anlässlich der Musik- und Kulturtage, die ihr gewidmet waren: ‹Sofia Gubaidulina und die Verwandlung der Zeit›.3 Besonders begeisterte mich ihr spontanes Improvisieren mit verschiedensten Instrumenten, unter anderem mit dem Bajan. Die ‹Verwandlung der Zeit› durch Musik war unmittelbar spürbar: Diese Musik ist unberechenbar, immer im Entstehen, öffnet neue Räume, erzeugt reine Gegenwart, lockt Klänge und Rhythmen aus dem Geiste hervor.

Nach dieser ersten freundschaftlichen Begegnung traf ich sie wieder auf einem Flug von Hamburg nach Moskau. Wir hatten zufällig Plätze nebeneinander gebucht! So konnte sich der Kontakt vertiefen und ich erinnere noch, dass sie Novalis’ ‹Hymnen an die Nacht› las. Damals arbeitete ich in der Leitung des neu gegründeten Priesterseminars der Christengemeinschaft in Hamburg und mir kam eine Idee. Ich besuchte sie zweimal ausführlich mit der Frage, ob sie für die Priesterweihe Musik zu komponieren bereit wäre. Wir arbeiteten am Text der Priesterweihe. Sie willigte gerne ein und hatte gleich erste Ideen für eine Komposition! Auf meine Frage bezüglich Honorar antwortete sie nur: «Das tue ich für Gottes Lohn.» Tief beschenkt verfolgte ich die Idee weiter. Im Frühjahr 2003 nahm Sofia dann erstmals an den Priesterweihen in Hamburg teil. Durch meinen Weggang aus Hamburg konnte das Projekt dann leider nicht mehr realisiert werden.

Aus dem reichen Schaffen Sofia Gubaidulinas seien nur noch wenige Ereignisse hervorgehoben. 2000 komponierte sie im Auftrag der Internationalen Bachakademie die klangmächtige Johannespassion, bei der sie dem Text des Johannesevangeliums Teile aus der Apokalypse gegenüberstellte. 2001 fügte sie noch ein Osteroratorium hinzu. Dieses Gesamtwerk, das neben vier Gesangssolisten hundert Chorsänger und hundert Orchestermusiker erfordert, bezeichnet sie selbst als ihr «Opus summum», als eine Art Krönung ihres gesamten Werkes. Weiter sei noch ihr zweites Violinkonzert erwähnt, das sie für Anne-Sophie Mutter komponierte und das 2007 unter der Leitung von Simon Rattle (der sie einmal wegen ihrer vielen Reisen einen «fliegenden Einsiedlerin» nannte) in Luzern uraufgeführt wurde. Dieses Werk «der beiden Sofien» – so Gubaidulina – thematisiert die in der Ostkirche so hochgeschätzte göttliche Sophia, die göttliche Weisheit als schöpferische Kraft Gottes. Zuletzt sei noch ihr 2015/16, kurz vor ihrem 85. Geburtstag, entstandenes Werk ‹Über Liebe und Hass› erwähnt. Es kann als eine Art Vermächtnis verstanden werden, ein letzter Appell an die Menschheit, Frieden zu schaffen, Himmel und Erde wieder zu verbinden. Sofia Gubaidulina starb am 13. März 2025 in der Nähe von Hamburg in ihrem 94. Lebensjahr.


Bild Sofia Gubaidulina, Juli 1981, Foto: © DSmirnov

Fußnoten

  1. Michael Kurtz, Sofia Gubaidulina, eine Biografie. Stuttgart 2001, S. 74.
  2. A. a. O., S. 74 f. «Ich bin mir bewusst, dass mein musikalischer Weg eher in die archaische als in die klassische Welt gerichtet ist, und möglicherweise liegt der Grund dafür in meiner Herkunft, meiner Nationalität. Das Symbol ist ein lebendiges Phänomen und zieht sich, wie jeder Organismus, durch verschiedene Lebensphasen: Es wird geboren, wird älter und stirbt. Was ist ein Symbol? Meiner Meinung nach die maximale Konzentration von Bedeutungen, die Verdichtung von Bedeutungen. Und der Moment, in dem das Symbol in die Welt tritt, das ist der Moment des Aufblitzens der Existenz, dessen vielfältiger Ursprung sich auf jeder Seite des menschlichen Bewusstseins befindet. In der realen Welt können sich Symbole in einer einzigen Geste äußern.»
  3. Sofia Gubaidulina, Die Verwandlung der Zeit, in: Überkonfessionelles Christentum. Priesterseminar Hamburg, Festschrift 2002, S. 49–51, Zitat S. 49.

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