Auf der Suche nach dem Schlüssel

Karlheinz Flau beschreibt sein individuelles Finden der goetheschen Idee von Polarität und Steigerung. Am Ende findet jeder Mensch seinen eigenen Schlüssel zu den Phänomenen der Welt.


ChatGPT: «Goethes Idee von Polarität und Steigerung, als zentrales Konzept seiner Naturphilosophie und seines ganzheitlichen Weltbildes stammt vor allem aus seinen wissenschaftlichen und philosophischen Schriften, insbesondere im Zusammenhang mit seiner Farbenlehre, Morphologie und seinem Denken über Naturprozesse.»

Ich wollte in meinem Leben nicht nur aufnehmen, sondern wollte einen eigenen Zugang finden zu den Geheimnissen der Welt und mir dadurch Aufschluss verschaffen, aus dem ich frei und eigenständig denken und gestalten kann. Die ganz frühen Zeichnungen unserer Kinder waren für mich ein Schlüsselerlebnis. Denn: Was war das, dass alle die gleichen ‹Kritzeleien› – so würde es meistens angesehen werden – zu Papier brachten? Kreiseln, Spiralen, Kreisbilden, dann Schwingen, energisch hin und her, rauf und runter bis zu einem Kreuzen. Dann Kreuz im Kreis, hämmern in der Kreismitte – Mittelpunkt und Umkreis bildend, bis etwa zum dritten Lebensjahr. Dann ein ganz neues Element, der rechte Winkel, das Quadrat, das Gitter bis zum fünften Jahr. Dann das Dreieck, die Spitzen, das Spitzfindige bis zur Schulreife. Das Urhaus, Dreieck und Viereck zusammen, dazwischen viele Stufen, die Rhythmusformen spiralig um eine Mittelachse, dann der sogenannte Tannenbaum, die Leiter und so weiter.

Das waren keine Abbilder, das sind Bewegungsspuren, Hieroglyphen der Entwicklungskräfte! Die Urbilder von Kreis, Viereck, Dreieck. Es geht von den Urbildern zu den Urkräften zu den Abbildern der physischen Welt. Erst da tritt das Gegenständliche bewusst in Erscheinung. Diese Schritte gehen durch alle Kulturkreise der Menschheit hindurch, wie sich beim Nachforschen herausstellte. Das eröffnete mir ein erstes Verständnis für die Urelemente in der Megalithkultur mit ihren Spiralen, Kreisen, Rauten, Kreuzen, Zickzack-Lineaturen. Diese ersten Äußerungen von der Krummen und der Geraden, oben und unten, sind zu betrachten als erste Setzung, als die Urelemente aller Gestaltung. Beide ins freie Spiel gebracht, entsteht die Urdreiheit aller künstlerischen Erscheinung.

In meiner langjährigen Tätigkeit an der Bremer Universität brachte ich gerne diese Dinge vor. Sie lösten Erstaunen und Ungläubigkeit aus. Später aber haben etliche Studierende dann die Sache bei ihren eigenen Kindern bestätigt gefunden und waren verblüfft und berührt. Manche schönen Blätter brachten sie mir, und ich nahm sie gerne in meine Sammlung auf.

Mit diesem geschärften Blick auf die Gestaltbildekräfte der Natur und des Menschen geschaut, offenbarten sich mir viele Geheimnisse. So entdeckte ich bei einer Gänsekohldistel, dass die unteren Blätter rundlich, dick und massig waren, die oberen dagegen ganz fein und spitz; dazwischen der ganze Formendurchgang, in dessen Mitte sich das artspezifische Blatt ausbildete. Bei der Lilienblüte waren drei Blätter rundlich und größer, drei spitzer und kleiner.

Überall entdeckte ich Goethes Idee von Polarität und Steigerung. Es folgte eine fruchtbare Schaffenszeit. Ich setzte ein an der Natur beobachtetes Phänomen als Ausgangspunkt und reihte daran weitere Beobachtungen an, und bettete die Einzelheit in einen größeren Zusammenhang ein. So verfolgte ich die Urdreiheit in allem Sein: die Dreiheit im Jahreslauf mit der Polarität von Sommer und Winter und dem Schwingungszustand der Tagundnachtgleiche von Frühling und Herbst. So auch der soziale Organismus in seiner Dreigliederung von Kultur-, Rechts- und Wirtschaftsleben. So auch die Gesetzmäßigkeiten von bedeutenden Architekturen in ihren Zahlen- und Maßverhältnissen. So auch die menschliche Gestalt, den Leib als Tempel der Götter: in einem Formendurchgang von sphärisch = Kopf, rhythmisch = Brust, Atmung, dynamisch = Stoffwechsel und statisch als den Gliedmaßenmenschen. Das Abbild eines Tempels von Kuppel, Architraven, Kapitellen und Säulen – «der Bau wird Mensch» – das Erste Goetheanum.

Es folgten Blatt auf Blatt, Mappe auf Mappe in den Jahren, mit einer Fülle von Einzelbeobachtungen im Zusammenklang zu einem Ganzen. Dann die Formenobjekte in ihren Verwandlungen, die Technikgestaltung nach Kriterien wie Wahrheit, Schönheit und Güte. 2015 entstand dann eine lange Papierbahn von einem mal zehn Metern, auf der alle geschilderten Phänomene als ‹Evolutionsreihe› dargestellt sind. So, denke ich, kann sich jeder seinen eigenen Schlüssel schmieden, individuell, der ihm das Tor öffnet zu den Weltgeheimnissen, ohne dem Dogmatismus zu verfallen.


Bild Aus der gelben Mappe ‹Die Dreiheit als Weltgestaltungs-Prinzip›, Blatt 29. 6. Auflage 2022 bei Jürgensen-Design, Ottersberg, 50 Blätter, A3, ISBN 9783939240440

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