Kreise schließen: Soziokratie als Werkzeug

John Buck · Andrea Valdinoci

Auf seiner Workshopreise durch Europa besucht der Unternehmensberater John Buck das Goetheanum und trifft den Elternrat der Rudolf-Steiner-Schule Basel. Im Gespräch befragt ihn Andrea Valdinoci dazu, wie die Idee der ‹Soziokratie› entstanden ist und wie gegenseitige Führungsprozesse gelingen.


Andrea Valdinoci: Schön, dass wir heute sprechen können, John! Du bist zum ersten Mal am Goetheanum und hast auch eine Eurythmie-Aufführung erlebt, richtig?

John Buck: Ja, ich bin zum ersten Mal hier und besonders die Eurythmie-Aufführung gestern hat mir einen Eindruck von der Arbeit am Goetheanum gegeben – ich habe den ‹Geist am Werk› gesehen.

Das Thema, das du mitbringst, ist ‹Soziokratie›. Wo hat das in deinem Arbeitsleben seinen Anfang genommen?

Meinen ersten Job nach dem Studium hatte ich bei Boeing als technischer Redakteur. Ich habe Handbücher geschrieben. Gleichzeitig begann ich zu forschen, wie man Entscheidungsprozesse neu strukturieren kann. Ich mochte meine Arbeit und mein Team, meinen Vorgesetzten. Aber eines Tages, als ich zur Bürgermeisterwahl in Seattle ging, traf es mich: «Ich lebe in einer Demokratie. Ich kann über das Bürgermeisteramt abstimmen gehen, aber ich kann meinen Chef nicht wählen. Wenn ich wählen könnte, würde ich für meinen Chef stimmen, weil ich ihn mag. Aber warum sind Unternehmen nicht demokratisch?» Als ich von Boeing in Seattle zur Federal Aviation Administration in Washington wechselte, habe ich sehr viel über Management gelernt. Ich wollte herausfinden, warum Unternehmen nicht demokratisch sind, aber es gelang mir nicht. Die Frage interessierte mich auch, weil ich wusste, dass die Truppen in der US-Armee ihre Anführer bis 1860 selbst gewählt hatten. Das änderte sich erst ab 1860, als der Bürgerkrieg ausbrach. Es ist ein uramerikanischer Impuls. Dann wurde ich eines Tages in die Niederlande für einen Vortrag eingeladen. Weil ich meine ganze Familie auf die Reise mitnahm, kamen wir bei einigen Quäkern unter. An einem Abend diskutierte ich mit unserer Gastgeberin und erzählte, dass es mir nicht gelinge, einen Ort zu finden, wo man den Chef wählen könne. Sie antwortete: «Aber dazu gibt es schon etwas. Du musst Gerard Endenburg in Rotterdam treffen.» Sie hat uns miteinander bekannt gemacht. Ich fuhr zu ihm und fand bald, dass er an etwas völlig Neuem arbeitete, das ich aus der Management-Literatur so nicht kannte.

Er hat dir die Idee der Soziokratie nähergebracht?

Eine entscheidende Sache, die ich von ihm lernte, war, dass die Idee der Soziokratie schon lange existierte. Auguste Comte hatte den Begriff in den 1850er-Jahren entwickelt. Er meinte, Menschen, die auf das Soziale spezialisiert sind, sollten regieren. Comtes Schriften wurden von Frank Ward aufgegriffen, einem Professor in den USA, der dort die erste Soziologie-Organisation gründete. Dadurch wurde Soziologie zu einem Fach und einem Beruf, in dem er als Erster in den USA unterrichtete. Der Niederländer Kees Boeke, ein berühmter Friedensaktivist vor und nach den Weltkriegen, hat das weiter aufgegriffen. Er gründete seine eigene Schule, die die bis dahin bekannte Soziokratie umsetzte. Einer seiner Schüler war Gerard Endenburg.

Gerard studierte später Ingenieurwissenschaften und arbeitete bei Philips. Seine Eltern waren radikal sozialistisch gewesen. Sie waren der Ansicht, dass der Sozialismus, der sich in Europa ausgebreitet hatte, nicht das war, was sie sich vorgestellt hatten. Deshalb gründeten sie ihre eigene Firma und entschlossen sich, in ihrem Management ihre eigenen Versuche zu machen. Gerard übernahm von ihnen in den 70er-Jahren die Firma mit dem Auftrag, die Experimente fortzusetzen. Als er in die Firma einstieg und sich ihre Struktur von Geschäftsleitung, Vorstand, Abteilungsmanagement und Angestellten ansah, kam ihm eine Idee. Er dachte: «Ich bin ein Elektroingenieur und ich würde niemals einen Energiekreislauf oder eine Struktur so bauen. Es gibt gar keine Feedback-Schleifen, um das Ganze zu lenken.» Also setzte er auf seinen Ingenieurgeist und versuchte, eine bessere Unternehmensstruktur zu gestalten, die gute Feedback-Schleifen enthielt. Es wurden daraus seine sogenannten ‹Kringe› (Niederländisch) oder Kreise. Das Unternehmen hatte zwei Pole. Im Alltagsgeschäft arbeitete man autokratisch, aber alle paar Wochen kamen alle von einer Abteilung für ein Kreis-Meeting zusammen. Darin beschlossen die Menschen, nach welchen Richtlinien sie tagtäglich arbeiten wollten. Diese ‹Kreise› wurden dann miteinander verbunden und sie konnten eine Person als Vertretung bis in die oberste Spitze der Organisation senden. Diese Kreise sind die Feedback-Schleifen. Aber Gerard wollte auch herausfinden, wie Entscheidungen getroffen werden können. Daran ist er fast verzweifelt, denn: Wie kann man eine Entscheidung treffen, wenn alle gleichberechtigt sind? Er kam schließlich auf das Prinzip des Konsent. Es geht nicht um ein Entweder-oder, sondern um ein Sowohl-als-auch. Wenn es keine Einigkeit, sondern unterschiedliche Ansichten gibt, wird nicht argumentiert, was die ‹richtige› Idee ist, sondern geschaut, wie man unterschiedliche, gute Ideen umsetzen kann. Das ist eine wahnsinnig kreative Art zu entscheiden.

Wie hast du dann weitergemacht, nachdem du Endenburgs Ideen und Umsetzung studiert hattest?

Ich habe angefangen, es in meine Arbeit als Manager einzubeziehen. Ich verließ meinen Job, um bei der staatlichen Verwaltung zu arbeiten. Wir installierten weltweit Computer und lernten die Leute an. Ich hatte 240 Mitarbeitende. Aber ich konnte nicht alles in eine Kreisstruktur bringen, weil sie es mir um die Ohren gehauen hätten. Von der technischen Arbeitsorganisation, die ich bei Gerard gelernt hatte, habe ich einiges übernommen und die Konsententscheidungen habe ich immer wieder vorsichtig, aber erfolgreich angewandt. Das ging von den 90er-Jahren bis 2006 so. Ich hätte weiter im Management arbeiten und einfach die Leiter höher hinaufklettern können, aber mein eigentlicher Antrieb ist ein sehr spiritueller. Darum tat ich es nicht und wollte stattdessen mein Wissen weitergeben. Ich vertiefte mich auch in die Rechtsformen für Unternehmen, die soziokratisch arbeiten wollen. Es gibt Möglichkeiten, wie man komplett gleichberechtigt sein und die Anteilseigner oder -eignerinnen halten kann. Dazu schrieb ich als Co-Autor das Buch ‹We the People – Consenting to a Deeper Democracy›.

Hast du ein Beispiel aus deiner Praxis als Berater?

Eines der ersten Unternehmen, mit denen ich arbeitete, als Gerard und ich noch zusammen arbeiteten, war ein Hersteller von Autoteilen. Gerade hatte die Firma einen schlimmen Arbeitsstreik hinter sich und viele waren verbittert. Wir konnten sie überzeugen, eine zweifach verknüpfte Struktur zu schaffen, durch die ein Mensch aus Kreisen der Belegschaft gewählt werden konnte, um im Kreis des Managements oder in der Geschäftsführung teilzunehmen. Ich erinnere mich an so eine Runde. Die Führungskräfte aus dem Management diskutierten, ob sie eine große Werbekampagne anstoßen sollten, um mehr Aufträge zu bekommen. Aber sie waren der Meinung, dass die Kapazitäten nicht ausreichen würden, um eine gute Produktion sicherzustellen. Die Person, die als gewählte Vertretung beisaß, erhob Einspruch. Sie erzählte, dass die Belegschaft aus Angst, ihre Arbeitsplätze zu verlieren, seit Monaten vorgab, ausgelastet zu sein. Eigentlich war genug Arbeitskapazität da, um mehr Aufträge umzusetzen. Das Management war total überrascht. Das ist ein Beispiel dafür, wie Kommunikation zustande kam und so erst die richtige Entscheidung von den Geschäftsführenden getroffen werden konnte. So funktionieren die Feedback-Schleifen. Jede Organisation, mit der ich gearbeitet habe, hat extrem davon profitiert. Und ich habe nicht nur mit Unternehmen gearbeitet, sondern mit jeder Art von ‹Gesellschaft› – Familien, Nachbarschaften, NGOs etc.

Was musst du in deiner Beratung beachten, damit der Prozess erfolgreich ist?

Damit ich einen Prozess erfolgreich begleiten kann, mache ich zu Beginn der Arbeit immer eine Analyse der Machtverhältnisse in einer Organisation. Die Menschen, die wirklich Einfluss haben auf die Prozesse, müssen an Bord sein und die Soziokratie bejahen. Sie müssen sie nicht unbedingt voranbringen, aber wenn sie sie nicht wollen würden, würden sie den Prozess auf irgendeine Art verhindern. Man kann also nur sehr schwer in der Mitte einer Organisation die Arbeit beginnen, es ist viel besser, wenn die Spitze zu Beginn dabei ist. Und es ist nie gleich klar, wer welche Fäden in den Händen hält. Dafür muss man zunächst tiefer graben und gezielt Fragen stellen.

Aber am Schluss ist eine soziokratische Organisation viel resilienter und agiler, oder?

Ja, ich habe mich dazu auch mit der Forschung beschäftigt – in meiner eigenen Master-Thesis und in der Forschung anderer. Und drei Dinge sind evident: In soziokratischen Organisationen ist die Verbindlichkeit viel höher. Zweitens arbeiten sie viel effizienter als mit nicht soziokratischen Strukturen. Und drittens kultivieren sie ein reflektiertes Urteilen. In North Carolina habe ich eine Schule begleitet, die die Kinder mit in Konsentprozesse involviert hat. An den Kindern war es besonders stark zu erleben.

Am Anfang hast du über die Frage gesprochen, wie Demokratie in Unternehmen entstehen kann. Aber heute gibt es große Zweifel am sozialen Funktionieren der Demokratie.

Ja, und die Demokratie ist sehr anfällig für den Einfluss der Sozialen Medien, der sie kaputt zu machen droht. Demokratie bedeutet: Herrschaft durch das Volk (griech.: demos). Im Wort Soziokratie steckt ‹socius›, was auf Latein meint: die Menschen, die einander kennen und Partner/Partnerinnen sind. Man könnte deshalb sagen: Soziokratie ist ein Glied der Demokratie. In Indien oder den Niederlanden zum Beispiel haben sich Nachbarschaftsparlamente gebildet. Das kann die traditionellen Regierungen irritieren, aber wenn man sie zweiseitig verknüpft, ist es sehr wirksam. Der Vorteil in solch einer Struktur von maximal 30 Familien ist, dass die reichste Person nicht einfach einige Werbungen kaufen kann, um Stimmen zu fangen. Es ist das Beste, was wir kennen, um etwas gegen den schädlichen Einfluss der Sozialen Medien auf die Demokratie zu unternehmen. Denn die Menschen kennen und vertrauen einander und wählen einen unter sich auf die nächst höhere Ebene.

Du hast schon von Kindern in soziokratischen Prozessen gesprochen. Was ist ihr Part darin?

Alphonse Mekolo und ich haben dazu ein Buch geschrieben, das ‹Governance from below: Can children lead the way?› heißt. Darin geht es vor allem um gegenseitige Führung – also, wie Kinder, zusammen mit erwachsenen ‹Verbündeten›, mitsteuern können. Alphonse war sehr lange bei den Vereinten Nationen (UNO). Wir waren von einer Entdeckung von Edmund John begeistert. Er hatte festgestellt, dass Kinder sehr viel schneller als Erwachsene Soziokratie und die Zusammenarbeit in Nachbarschaftsparlamenten lernen. Und viele Länderregierungen können besser damit leben, wenn wir Kinder zusammenbringen. Das gibt es, bis hin zur Weltkinderparlamentssitzung auf dem ECOSOC Youth Forum 2024 der UNO. Kinder können bis auf die globale Ebene Veränderungen in die Führung bringen.

Davon abgesehen gibt es viele lokale Geschichten, die zeigen, welchen Einfluss Kinder auf ihre Gemeinschaften ausüben können. Mein Lieblingsbeispiel ist aus Indien, wo in einer Schule Kindern auffiel, dass einige Kinder in ihrer Klasse häufig zu spät und ganz nass in die Schule kamen. Sie stellten fest, dass diese Kinder täglich durch einen kleinen Fluss zur Schule gehen mussten. Mit dieser Information gingen 300 Kinder zur lokalen Regierung und verlangten eine Brücke – die dann auch zustande kam.

Politikerinnen und Politiker fühlen sich weniger bedroht, wenn Kinder so etwas machen. Und Kinder können in Führung gehen. Es sieht aus, als hätten sie mehr Einfluss oder könnten mehr Einfluss haben, als wir ihnen zugestehen. Kinderorganisationen rate ich immer: Sprecht nicht über die Ausbildung zukünftiger Führungspersönlichkeiten – sie sollen schon jetzt führen! Eben: Soziokratie bringt uns bei, uns gegenseitig zu führen, und das schließt auch die Kinder ein.

Vielen Dank, John, für diesen reichen Einblick in dein Tun!


World Goetheanum Forum 2025
24.–28. September 2025 in Sekem/Ägypten

Re-Think / Re-Feel / Re-DoSustainable Development

Erstmals geht das World Goetheanum Forum nach Sekem, an den Ort gelebter nachhaltiger Entwicklung. Sekem ist United Nations Champion of the Earth 2024! Als Sustainable Native hat die Organisation fast 50 Jahre Erfahrung in ökologischer, sozialer, wirtschaftlicher und kultureller nachhaltiger Entwicklung.

Wir laden Sie ein, mit Partnern, Partnerinnen und Tätigen weltweit aktiv in die Forumsarbeit zu einer nachhaltigen Entwicklung zu gehen.

Website worldgoetheanum.org

Weitere Informationen association@worldgoetheanum.org


Links zum Thema


Illustration Fabian Roschka

Print Friendly, PDF & Email

Letzte Kommentare