Zu den Verhandlungen über das WHO-Pandemieabkommen, die Strategie für Traditionelle, komplementäre und integrative Medizin (TCIM) und anthroposophisches Engagement für die allgemeine Gesundheit – ein Kommentar der Medizinischen Sektion.
Mit Interesse und Skepsis haben viele auf die WHO-Verhandlungen zur Neuauflage der Internationalen Gesundheitsvorschriften (IGV) und des Pandemieabkommens geschaut. Mitarbeitende der Medizinischen Sektion haben deshalb diesen Prozess und dessen Ergebnisse verfolgt, mit der Überzeugung, dass das Recht des Einzelnen, frei und informiert über die eigene persönliche medizinische Versorgung zu entscheiden, höchsten Wert hat. Außerdem ist es wichtig, eine Medizin anzubieten, die jeden Menschen als ein Wesen aus Körper, Seele und Geist anerkennt. Diese Werte stehen im Mittelpunkt der Sektionsarbeit. Könnte man zu den WHO-Verhandlungen unter den Ländern etwas beitragen, würden wir uns mit Nachdruck für diese beiden Aspekte einsetzen! Es ist uns wichtig, für eine Medizin einzutreten, die auf Heilung und nicht auf Symptomunterdrückung setzt, die unterschiedliche Heilmethoden anerkennt und schätzt (Heilmittel aus der Natur wie Pflanzen, Mineralien und Tiere, sowie künstlerische Therapien, Körpertherapien, Beratungen, spezielle pflegerische Behandlungen, Eurythmie usw.). Auch zählt es, den Umgang mit Krankheit als einen Entwicklungsprozess zu begreifen, der sich auf körperlicher und auf geistiger Ebene abspielt.
Eine solche Sprache ist in den IGV und dem Pandemieabkommen kaum zu finden. Zugleich freuen wir uns, zu berichten, dass viele dieser Elemente nun tatsächlich in den Zehnjahresstrategieplan für die kleine WHO-Abteilung aufgenommen wurden, die sich traditioneller, komplementärer und integrativer Medizin widmet. Hier kam die anthroposophische Stimme zu Wort und konnte unerwartet einen Beitrag leisten.
Zurück zu den WHO-Verhandlungen: Wir haben den Eindruck, dass die Abschlussdokumente keine großen Mandate oder Machtverschiebungen weg von einzelnen Ländern enthalten. Stattdessen sind die Formulierungen offen, sodass vieles auf nationaler Ebene entschieden werden kann. Es gibt dabei viel Spielraum für Interpretation und Umsetzung. In der Covid-Zeit haben die einzelnen Regierungen unterschiedlich reagiert. Das wird wahrscheinlich auch in Zukunft der Fall sein.
Zu den Verhandlungen und Dokumenten
In einem früheren Artikel haben wir von der Medizinischen Sektion Informationen, Bedenken und Fragen zu den Internationalen Gesundheitsvorschriften (IGV) der WHO veröffentlicht.1 Dazu gehörten auch Bedenken, insbesondere bezüglich des Begriffs ‹pandemischer Notfall›, der eine tatsächliche Pandemie sowie das Risiko einer möglichen Pandemie abdecken soll. Die Verhandlungen über die IGV wurden abgeschlossen, und die Vorschriften wurden 2024 angenommen. Sie treten ab September 2025 in Kraft.
Die Verhandlungen über ein Pandemieabkommen dauerten wesentlich länger, wobei das Abkommen schließlich am 20. Mai 2025 von der Weltgesundheitsversammlung angenommen wurde. Das Abkommen zielt besonders darauf ab, für mehr Gerechtigkeit zwischen den Ländern bei der Prävention und Bewältigung von Pandemien zu sorgen. Das betrifft besonders die Gerechtigkeit in Bezug auf Zugang und Nutzung von Gesundheitsprodukten wie Masken, Sauerstoff, Medikamenten, Impfstoffen. Um eine bessere medizinische Versorgung in ärmeren Ländern zu erreichen, sieht das Abkommen vor, dass Wissen und geistiges Eigentum zugänglich wird und so mehr lokale Produktion und Technologietransfer geschieht. Ein Streitpunkt war das ‹Pathogen Access and Benefit-Sharing System (PABS)›. Es besagt, dass ein (armes) Land, das Informationen über ein Virus oder ein Bakterium weitergibt, im Gegenzug Zugang zu neuen Medikamenten, Impfstoffen usw. erhalten sollte. Die Einzelheiten des PABS müssen in den nächsten zwölf Monaten ausgehandelt werden. Erst dann wird das Pandemieabkommen zur Unterzeichnung durch die Mitgliedstaaten freigegeben. Das Abkommen verpflichtet auch, das Wohlergehen des Gesundheitspersonals zu fördern und das Auftreten von Infektionskrankheiten durch den Kontakt zwischen Mensch und Tier zu verhindern und zu erkennen.
Vertreterinnen und Kommentatoren, besonders von zivilgesellschaftlichen Organisationen des Globalen Südens, haben erklärt, dass das Abkommen zwar ein Erfolg des Multilateralismus ist (was heutzutage selten ist), dass die Verpflichtungen aber zu schwach und verwässert sind. Die wohlhabenderen Länder schützen ihre Pharmaindustrie vor einem offeneren Austausch von Technologien, Arzneimitteln, Impfstoffen und anderen Materialien mit den ärmeren Ländern. Hier fehlt echte Brüderlichkeit. Das Abkommen sieht zwar vor, dass 20 Prozent der produzierten Arzneimittel und Impfstoffe für die ärmeren Länder bestimmt sind, aber das reicht nicht aus, um die vielen Menschen in diesen Ländern zu versorgen. Aus Sicht des öffentlichen Gesundheitswesens, dem an einer breiten Unterstützung und Intervention liegt, bleibt diese Vereinbarung also schwach.2
Aus der Perspektive der individuellen Freiheit und freien medizinischen Entscheidungsfindung zeigt sich eine widersprüchliche Lage: Der Großteil der Entwicklung neuer Medikamente und Impfstoffe geschieht in den wohlhabenderen westlichen Ländern. Dies sind auch die Länder, in denen strenge Vorschriften eingeführt wurden. Es ist also paradox, dass Materialien (einschließlich persönlicher Schutzausrüstung und anderer medizinischer Hilfsmittel) in privilegierten Ländern wahrscheinlich weiterhin Vorrang vor Ländern mit weniger Ressourcen haben werden. Ärmere Länder haben sowohl schwächere Gesundheitssysteme, um auf eine Pandemie zu reagieren, als auch oft weniger medizinische Hilfsmittel zur Verfügung (auch wenn die Ungleichheit vielleicht weniger dramatisch sein wird als bei Covid), und oft auch weniger vorgeschriebene Maßnahmen. Einige der stärksten Widerstände gegen die gemeinsame Nutzung von Technologien und Medikamenten kamen aus Mitteleuropa, insbesondere aus Deutschland. Die Vereinigten Staaten haben sich aus der WHO und aus diesen Verhandlungsprozessen zurückgezogen. Der vollständige Wortlaut des WHO-Pandemieabkommens, das auf der Weltgesundheitsversammlung Ende Mai verabschiedet wurde, ist hier zu finden: Intergovernmental Negotiating Body to draft and negotiate a WHO convention, agreement or other international instrument on pandemic prevention, preparedness and response.
Eine Stimme für traditionelle, komplementäre und integrative Gesundheit (TCIh)
Die Traditional Complementary and Integrative Health Coalition (auf der Website tcih.org ist die Erklärung zu lesen) hat einen basisorientierten Ansatz für die Interessenvertretung entwickelt. Diese Koalition wurde gegründet, um TCIm-Praktizierenden, Patienten und Forschern eine weltweite Stimme zu geben. Die Internationale Vereinigung anthroposophischer Ärztegesellschaften, ivaa.info, ist eines der Gründungsmitglieder dieser Koalition. Bislang haben sich mehr als 340 Organisationen der Koalition angeschlossen. Eines der ersten Ziele der Koalition war es, sich für eine ehrgeizige, neue WHO-Strategie für Traditionelle, komplementäre und integrative Medizin einzusetzen. Ziel ist, eine sichtbare Stimme für eine zukünftige Medizin zu bilden.
Eine neue globale WHO-Strategie für traditionelle Medizin für den Zeitraum 2025 bis 2034 wurde nach langer Vorbereitungsphase tatsächlich im Mai 2025 von der Weltgesundheitsversammlung verabschiedet. Um die grundlegenden Ideen und Impulse für diesen Prozess zu bündeln, wurden drei Personen gebeten, im Jahr 2023 einen Strategieentwurf zu erstellen, darunter Tido von Schoen-Angerer, der im vergangenen Herbst die Rolle des IVAA-Präsidenten übernommen hat. Tido ist anthroposophischer Kinderarzt und war zuvor 14 Jahre lang für ‹Ärzte ohne Grenzen› tätig. Bei der Diskussion des Strategieentwurfs im Exekutivrat der WHO im Februar 2025 lobten Länder aus Afrika, Asien, dem Nahen Osten und Südamerika die Strategie, weil sie traditionelle und komplementäre Praktiken (wie Anthroposophische Medizin, Homöopathie und pflanzliche Arzneimittel) als wichtigen Bestandteil der Gesundheitssysteme anerkennen will. Der größte Widerstand gegen diese Strategie kam wiederum aus Mitteleuropa, wo Polen (als Vertreter der Staaten der Europäischen Union) die Forschung und die Gültigkeit der integrativen Praktiken infrage stellte. Nach weiteren Verhandlungen und einigen Anpassungen des Textes (hinsichtlich der Anforderungen an die wissenschaftlich Evidenz) wurde die Strategie schließlich angenommen.
In den Worten der Strategie: «Das reiche kulturelle Erbe und die Vielfalt der Heiltraditionen und -prinzipien der TCIM fördern eine positive Gesundheitsvision, die den ganzen Menschen in den Mittelpunkt stellt und die Quellen der Gesundheit stärkt.» Im Folgenden sind die wichtigsten Themen der WHO-Strategie für traditionelle Medizin aufgeführt (die vollständige Strategie kann unter Draft global traditional medicine strategy 2025–2034 nachgelesen werden):
• Größere Investitionen in die Erforschung der Traditionellen, komplementären und integrativen Medizin (TCIM)
• Leitlinien für eine angemessene Regulierung von Arzneimitteln, Therapien und Praktiken (ein Beispiel sind die WHO-Ausbildungsrichtlinien für Anthroposophische Medizin, die auf Basis der Ausbildungsgänge der anthroposophischen Medizin entwickelt wurden, sowie vergleichbare Richtlinien für Traditionelle Chinesische Medizin oder Ayurveda), aber auch Regulierungs- und Zulassungsverfahren für Arzneimittel pflanzlichen, mineralischen, tierischen und sonstigen Ursprungs. (Dies ist ein wichtiger Schritt, da bisher hauptsächlich nur pflanzliche Arzneimittel erwähnt wurden und die anthroposophische Pharmazie ein viel breiteres Spektrum an Behandlungen einsetzt.)
• Integration der traditionellen und komplementären Medizin in die Gesundheitssysteme
• Förderung von TCIM-Konzepten und -Wissen als Beitrag zu einer gesunden Gesellschaft. (Die Anthroposophie mit ihren salutogenen Beiträgen ist ein gutes Beispiel dafür, nicht nur für das Gesundheitswesen, sondern auch für Bildung, Landwirtschaft und Kunst.)
• Schutz des Wissens der indigenen Völker
Anthroposophische Medizin als öffentliche Medizin
Welche ist die richtige Perspektive für Fragen zu Gesundheit und Gesellschaft, die so eng an der Grenze zwischen Politik und Medizin angesiedelt sind? Wir betrachten die Gesundheit oft aus der eigenen, persönlichen Perspektive: Wie wirkt sich etwas auf mich aus? Wie passt das zu meinen eigenen Vorstellungen und Vorlieben? Das ist zweifellos wichtig. Die öffentliche Gesundheitsfürsorge hingegen ist bestrebt, das Wohlergehen von Gemeinschaften und Gesellschaften auf breiter Ebene zu unterstützen. Gemeinsam streben diese Perspektiven an, einen Raum zu schaffen, in dem sich jede und jeder Einzelne entfalten kann. Die praktische Arbeit im medizinischen und therapeutischen Bereich erfordert, dass wir uns zwischen dem Individuum und der größeren Gemeinschaft hin- und herbewegen und uns ständig fragen: Wie können wir beides halten? Rudolf Steiner gibt uns in der Punkt-Umkreis-Meditation (aus dem ‹Heilpädagogischen Kurs›) sowie im Motto der Sozialethik ein Bild:
«Das gesunde soziale Leben ist gefunden, wenn im Spiegel einer jeden Menschenseele die ganze Gemeinschaft ihr Spiegelbild findet, und wenn in der Gemeinschaft die Kraft eines jeden lebendig ist.»
Dafür sollten wir uns immer wieder einsetzen, aktiv sein, wo wir können, und uns auch den Raum und die Freiheit bewahren, die Anthroposophische Medizin in ihrer Tiefe zu praktizieren.
Anthroposophische Medizin für Menschen und Orte mit weniger Ressourcen
Mit einer Saatgut-Initiative, die Anfang des Jahres in der Medizinischen Sektion gestartet wurde, untersuchen wir, wie die anthroposophische Unterstützung mehr und breiter zur Verfügung stehen kann. Lehre und Praxis der Anthroposophischen Medizin sind in den letzten Jahrzehnten stark gewachsen. Diese Medizin wird heute auf allen Kontinenten praktiziert. Jetzt kommt eine wichtige Wachstumsphase, in der wir uns fragen sollten: Wie kann die Anthroposophische Medizin vor Ort weiterentwickelt werden? Was sollen wir tun, wenn eine Flasche Hepatodoron (oder ein ähnliches Medikament) in einer bestimmten Gemeinschaft mehrere Tages- oder Wochengehälter kostet? Wie können wir wirksame Behandlungen und hilfreiche Erkenntnisse für große Gemeinschaften weitergeben? Wie können wir mit unserem Angebot großzügig und kreativ sein?
Die Antworten auf diese Fragen sollten an vielen verschiedenen Orten gefunden werden. Sie werden sicherlich unterschiedlich ausfallen, je nach den örtlichen Erfahrungen, kulturellen Gepflogenheiten und verfügbaren Möglichkeiten. Die Vielfalt der Praktiken und der Kreativität erweist sich mehr und mehr als eine Stärke. Wir freuen uns, dass sich bereits Gespräche zwischen Kollegen und Kolleginnen in Chile, Mexiko, Großbritannien, Thailand, Brasilien, auf den Philippinen, in der Schweiz und in den USA entwickeln. Wir stellen Fragen wie: Können wir eine jedermann zugängliche Anthroposophische Medizin – ‹Küchenmedizin› – entwickeln, die Menschen in aller Welt für ihre Familien und Nachbarn nutzen können? Wie gehen wir finanziell mit diesen Fragen um?
Haben Sie Erfahrungen oder Ideen, die zu dieser Arbeit beitragen? Unser Kontakt: AMforthecommunity@medsektion.goetheanum.ch
Herzlichen Dank an Tido von Schoen-Angerer für seine Hilfe bei der Bereitstellung aktueller Informationen über die Arbeit der TCIH-Koalition und die Entwicklung der WHO-Strategie.
Bild WHO-Hauptgebäude, Genf, Foto: Thorkild Tylleskar/Wikimedia commons
Fußnoten
- Anthroposophische Medizin zwischen WHO-Abkommen und dem Schritt in ihr zweites Jahrhundert, in: ‹Goetheanum› 17/2024.
- Vereinbarungen über die Erklärung und Definition einer Pandemie sowie über die breite Umsetzung von Gesundheitsmaßnahmen fallen unter die IGV, nicht unter die Pandemievereinbarung.