Walter Kuglers neues Buch bietet Sehhilfen für die Wandtafelzeichnungen von Rudolf Steiner.
Plötzlich waren Werke Rudolf Steiners in der Kunstwelt präsent. Beispielsweise im Portikus Frankfurt, in der Albertina Wien, im Kunstmuseum Bern, im Kunsthaus Zürich, im Württembergischen Kunstverein Stuttgart, in Tokio, New York, Buenos Aires, Santiago de Chile oder an der Biennale in Venedig. Die geschriebenen Werke sind zum größten Teil aus den Regalen der Buchhandlungen verschwunden, dafür sind die Bilder aufgetaucht, die während Rudolf Steiners Vorträgen entstanden sind. Was ist los?
Seit der Ausstellung von vierzig Tafelbildern im Sommer 1992 in Köln in der Galerie Monika Sprüth gab es Jahr für Jahr mehrere Ausstellungen in Galerien und Museen weltweit mit Tafelbildern Rudolf Steiners. Die Initialzündung für diese überraschend erfolgreiche Ausstellungsserie von inzwischen über fünfzig Einzelausstellungen ging von den Beuys-Schülern Walter Dahn und Johannes Stüttgen aus, die von der begeisterten und tatkräftigen Unterstützung und der unkonventionellen, sympathieverbreitenden Kommunikation Walter Kuglers in den anschließenden Jahrzehnten profitieren konnten. Kugler war damaliger Leiter des Rudolf-Steiner-Archivs in Dornach, Mitherausgeber zahlreicher Bände der Rudolf-Steiner-Gesamtausgabe und Autor von gut lesbaren Essays und Büchern zu Rudolf Steiner.
Der Erfolg wurde nicht zuletzt auch getragen von einer Bereitschaft der Öffentlichkeit, sich darauf einzulassen – und sich bezaubern und berühren zu lassen. Die Zeit schien wohl für eine solche Herausforderung und ein solches Geschenk reif zu sein: «Die Kreidezeichnungen gehören zu den beeindruckendsten Ausstellungsereignissen» (‹Kunst-Bulletin›, 1992), «eine kleine Sensation» (‹Neue Zürcher Zeitung›, 1999). Im Verhältnis Anthroposophie und Öffentlichkeit spielten diese Ausstellungen und ihre Rezeption ab den 1990er-Jahren eine erstaunlich effiziente und versöhnliche Rolle und halfen, das Bild Rudolf Steiners nochmals ganz anders aufzufassen, als es mit den späteren Verdrehungen und Verleumdungen angegriffen wurde.
Die Wandtafel-Ausstellungen im Kunstmilieu hatten eine Vorläuferin, die das Terrain schon mal einstimmte und den Horizont für die Kunstbetrachtung verschob, nämlich die großartige und zeichensetzende Ausstellung ‹The Spiritual in Art: Abstract Painting 1890–1985›, die 1986/87 von Los Angeles über Chicago schließlich nach Den Haag kam. Acht Jahre später gab es in der Schirn Kunsthalle Frankfurt 1995 einen denkwürdigen Nachschlag mit der Ausstellung ‹Okkultismus und Avantgarde – Von Munch bis Mondrian 1900–1915› und einem mehrere Kilo schweren Katalog.
Was ist in der Welt der Anthroposophinnen und Anthroposophen mit den Ausstellungen der Wandtafelbildern und dem Echo darauf in der Öffentlichkeit passiert? Einstimmigkeit ist auch in anthroposophischen Kreisen wenig beliebt, wenn es um Neues geht, selbst wenn es von Rudolf Steiner kommt. Die einen waren begeistert, andere schüttelten betreten den Kopf: Das ist doch keine Kunst und war von Steiner auch gar nicht so gemeint; das kann man doch nicht allein für sich betrachten. Vor lauter Inbrunst, Rudolf Steiners Skizzen zu lesen und zu verstehen, war man bisher (unendlich) weit vom Naheliegenden entfernt, nämlich dass man sie auch ansehen kann, wie der Kunsthistoriker Michael Bockemühl einmal treffend bemerkte. Mit dem Sehen konnte jetzt begonnen werden, einfach dadurch, dass die Tafelbilder in Räumen gezeigt wurden, in denen Kunstwerke ausgestellt werden, und Menschen deshalb herkommen, um sie (als Kunstwerke) zu betrachten und sogar zu bewundern und zu genießen.
Sehhilfen gibt es jetzt in diesem jüngsten Buch zu den Wandtafeln, worauf der Untertitel verweist: ‹Sichtbare Anthroposophie›. Man unterlasse aber nicht, das Sehen am einen oder anderen der 1100 Originale bei jeder Gelegenheit zu üben, da die zahlreichen Reproduktionen in diesem Buch meist zu dunkel und farblich zu wenig differenziert herausgekommen sind. Ein unverzeihlicher Makel des Verlags gerade bei einem solchen Buch. In kurzen Kapiteln kann man sich von Kuglers klugen Betrachtungen ‹Kleine Schule des Sehens und Übens› als anregende Hilfen zum Betrachten und Lesen der Wandtafelbilder anleiten lassen. Die Hauptsachen drehen sich anschaulich um die Krumme und die Gerade. Kugler strukturiert seine Angebote in ‹Gedanken-Striche›, ‹Denk-Bilder› und ‹Denken in Farben und Formen›. Wenn man dazu noch die zum Teil doch verblüffenden Aussagen nimmt aus der Zitate-Auswahl ‹Rudolf Steiner über Linien, Tafelzeichnungen und Kreide›, dann gibt es kein Halten mehr, bevor man nicht die Worte der Gesamtausgabe in Bilder umgesetzt hat – und dies natürlich ganz im Sinne Rudolf Steiners: «Ich würde zum Beispiel sehr gerne den Inhalt meiner Philosophie der Freiheit zeichnen. Das ließe sich ganz gut machen.»
Buch Walter Kugler: Liebe und Freiheit – Sichtbare Anthroposophie auf den Wandtafelzeichnungen Rudolf Steiners. Verlag Freies Geistesleben, Stuttgart 2025
Titelbild Rudolf Steiner mit den Wandtafeln an der Biennale Venedig 2013, Foto: Walter Kugler