Verliebt in den Weltdurchleuchter

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In zartem und selbstbewusstem Ton unternimmt das neue Buch von Wolfgang Müller erneut eine Öffnung zum Phänomen Rudolf Steiner.


«Steiner und kein Ende!», so könnte man Goethes Wort zur Shakespeare-Rezeption variieren. Dass eine schon zu Lebzeiten existierende Anhängerschaft binnen 100 Jahren eine stattliche Reihe von Monografien zu Steiner produzieren musste, versteht sich von selbst. Dass aber heute immer noch – oder mehr denn je – «etwas zu sagen übrig ist», liegt laut Goethe an der «Eigenschaft des Geistes, dass er den Geist ewig anregt». Worin liegt die besondere Art Wolfgang Müllers, sich anregen zu lassen, dass er auch mit diesem Buch – wie ich vermute – hohe Leserzahlen finden wird? «Endlich ein Buch, das man jedem in die Hand drücken kann, der sich für Steiner interessiert!» – das ist öfter zu hören. Liegt es daran, dass Müller, relativ spät erst auf die Anthroposophie gestoßen, ein – wie wir alle wissen: überflüssiges – Bekenntnis zur Anthroposophie zu vermeiden in der Lage ist?

Als professioneller Medienschaffender – er war lange Zeit beim NDR tätig – verfügt Müller spürbar über die Kompetenz, einem weiten Publikum kulturelle Inhalte zu vermitteln, aus dem richtigen Verhältnis von Abstand und Nähe. Er schreibt spannend, weil persönlich und authentisch. Dass «auch Kritik erlaubt» ist, ist so selbstverständlich, dass ebendiese hier nicht um ihrer selbst willen geschieht. Und wenn Müller von «Zumutung Anthroposophie» (Titel seines letzten Buches), von «Rätsel» und «Irritation» in Bezug auf Steiner spricht, dann nicht einfach nur, weil das spannender ist als Hagiografie, sondern weil er mit Steiner ringt, im positivsten Sinne.

Wie nähert man sich sinnvoll dem Objekt Steiner? Sein Schüler Karl Ballmer stellte 1957 nüchtern fest, es werde im Allgemeinen «nicht von ferne geahnt, dass man in Steiner nun endlich einen Gegenstand hat, der aus sich selbst begriffen werden muss […]. Es ist einfach unintelligent, an Steiner irgendwo aufgelesene Kriterien von außen anzulegen.» Aber wie soll das gehen? Müller ist intelligent genug, Steiners Grundkonzeption zu sehen und bewahrheitet zu finden: Hier ist, einmal abgesehen von aller übersinnlichen Wahrnehmung, rational gedacht worden und kann jederzeit mitgedacht werden. Das gilt. Und was Müller sogleich im Eingangskapitel ‹Was ist der Kern der Anthroposophie – Dreister Versuch einer Kurzfassung› herausarbeitet, ist die fundamentale Rolle der Persönlichkeit, des Individuellen, die sich in unserer Zeit nicht mehr hintergehen lässt, auch nicht beim Wiedererwerb von Spiritualität: Anthroposophie will den Menschen bis ins Letzte wachrufen. Das Individuelle soll selbst Träger des Geistigen werden.» (S. 26) «Das urteilende, nach Einsicht verlangende Ich lässt sich nicht mehr ausschalten.» (S. 25)

Beim sachlichen Mitdenken mit jemand anderem macht Müller nun die Erfahrung, dass er von diesem anderen beschenkt wird mit etwas, was er lang gesucht hat. Anthroposophie sei wie ein «ungeladener Gast» in der modernen Kultur, man werde sie zunächst «unzart» behandeln, bis man merke, dass sie als Gastgeschenk etwas lang Vermisstes mitgebracht habe. In dieser unscheinbaren Aussage Steiners scheint Müller sich wiederzufinden. Und damit spricht er vermutlich vielen Lesenden aus der Seele. Denn in der öffentlichen Debatte, wo anthroposophische Verbandsmenschen permanent durch fragwürdige und erfolglose Vorwärtsverteidigungen in Anspruch genommen sind, sind solche zarten und zugleich selbstbewussten Töne sonst nicht zu hören. Wer unter dem eingebildeten Zwang steht, in der jovialen Partystimmung sich als vollwertiger, «anerkannter», eingeladener Gast zu profilieren, wird den in der Ecke stehenden Fremdling und die leisen Anzeichen des Stimmungswandels in seinem Umkreis kaum wahrnehmen. Müller erkennt – und beschreibt es eindringlich, zuweilen sogar mit pessimistischen Untertönen –, wie sehr unsere Kultur inzwischen auf die Impulse des Gastes angewiesen ist.

Müller hält sich nicht groß am «Begriff des ‹Geistigen›» (S. 21) auf, betont aber, dass «auf diesem Gebiet» alles Beweisenwollen ein Unsinn ist. Unser Bedürfnis geht nach tiefer, nachhaltiger Sinngebung (übers Private und Unpolitische hinaus), und diese lässt sich nicht durch Beweise herbeizaubern, sondern kann bei Steiner – eventuell – als lebendige, wachsende Überzeugung erarbeitet und erfahren werden (S. 23). Und nun erlebt Müller das Steiner-Lesen so: Was überzeugt, sind weniger seine einzelnen Mitteilungen als vielmehr die Stimmigkeit des Gesamtbildes. Man glaubt, die Wirklichkeit im Lichte dieser Anschauungen besser verstehen zu können. Sie habe eine Weltbeleuchtungsfähigkeit.

Da möchte man Müller ermuntern, die «Stimmigkeit des Gesamtbildes» doch nun konsequent in der Persönlichkeit des Urhebers der Anthroposophie verankert zu sehen. Wo denn sonst, wenn der Unfug des Beweisen-Wollens wegfällt? Und wenn gegen Ende des Buches (S. 225) die Wirkung der Anthroposophie zusammenfassend darin gesehen wird, «dass die Welt sich auf eine schwer zu beschreibende Weise reicher und interessanter darstellt», ist eigentlich das Naheliegendste (und hier kommt meine freche, aber ganz sachlich gemeinte, titelgebende Analogie: wie beim Verliebtsein), dies als die Wirkung eines konkreten einmaligen Menschen zu vermuten. Doch «unser agnostisches, in philosophicis dilettierendes Zeitalter hat keine Methoden zum Verständnis der Rolle der Persönlichkeit beim Zustandekommen der Wahrheit», schrieb wiederum Karl Ballmer. Obwohl doch hierüber insbesondere dem Frühwerk Steiners etliches zu entnehmen ist.

Man weiß es als Anthroposoph oder Anthroposophin, verdrängt es aber gern: Vor dem theosophisch-anthroposophischen Steiner gab es den philosophisch-individualistischen. Dieser polemisierte gegen die jenseitssüchtigen Theosophen, bekannte sich zum Universal-‹Eigner› Max Stirner und schrieb Sätze wie: «Die Welt ist Gott. Das Jenseits beruht auf einem Missverständnis derer, die glauben, dass das Dasein den Grund seines Bestandes nicht in sich hat. Sie sehen nicht ein, dass sie durch das Denken das finden, was sie zur Erklärung der Wahrnehmung verlangen.»

Für den oberflächlichen Blick sind zwei verschiedene, widersprüchliche Steiner zu sehen. Es könnte viel daran liegen, endlich den einen, in sich stimmigen Steiner zu entdecken – weil er sonst halb bleibt und ein Rätsel. Das Buch führt auf diese Spur, wenngleich es sie nicht ausspricht. Diese Vertiefung würde aus einem nervenkitzelnden «Rätsel» ein in sich gegründetes «Ereignis Rudolf Steiner» machen.

Das Cover also, mit den über Kreuz auseinandergeschobenen Steiner-Hälften und einem Nichts in der Mitte, kann die uns hinterlassene Aufgabe symbolisieren, 100 Jahre nach Steiners Tod die Einheitlichkeit eines für andere Menschen rastlos tätigen «Weltdurchleuchters», für den selbst erstaunlicherweise «das Dasein den Grund seines Bestandes in sich hat», langsam in den Blick zu nehmen.


Buch Wolfgang Müller: Das Rätsel Rudolf Steiner Irritation und Inspiration. Alfred-Kröner-Verlag, Stuttgart 2025

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