Was wir mit den Bienen teilen

«Das Leben der Bienen ist wie ein Zauberbrunnen: Je mehr man daraus schöpft, umso reicher fließt er.» Diese Worte des Nobelpreisträgers Karl von Frisch, der die Tanzsprache der Bienen entdeckte, treffen vollständig zu. Seit ich vor ca. 30 Jahren mit dem Imkern angefangen habe, bin ich bis heute jedes Mal neu berührt von dem Zauber, den sie mir freigeb schenken. Ich habe in den letzten Jahren viele Forschungsprojekte mit Bienen betreut. Aber es sind nicht nur die Fragen an die Völker, die mich faszinieren, sondern viel mehr die Ästhetik und die Harmonie, die mich beim Wabenziehen einhüllen. Ich tauche restlos in ihre Welt ein, vergesse die Zeit und alles, was um mich herum geschieht. Es ist kein Bann, sondern eine freundliche Beziehungsgeschichte.

Ich glaube, dass diese Geschichte erst durch die Gedanken und Bilder Rudolf Steiners möglich wurde. Ich weiß, dass andere Imkerinnen und Imker meine Empfindungen bei ihren Völkern teilen, doch fehlt ihnen mitunter die Tiefe, die Steiner mir erschlossen hat. Wenn er zum Beispiel den Arbeitenden am Goetheanum erzählt, dass das Bienenvolk ein «Kopf ohne Schädel» sei, spüre ich regelrecht seine Verletzlichkeit. Wenn er die sechseckigen Zellen, welche die Bienen mit einer unglaublichen Präzision und Sorgfalt errichten, in Beziehung setzt zum Bergkristall, zur Formkraft der Lichtsubstanz Silizium, erfahre ich etwas vom Wesen des Lichtes und der ‹Stockdunkelheit›. Ist es nicht magisch, dass die frisch gebauten Waben schneeweiß sind? Sie sind nach Steiner das Skelett des Bienenvolkes, ohne welches es nicht überleben könnte. Lese ich, dass Steiner die Königin als Organ der Einheit, also als das Herz des Bienenvolkes oder des Biens bezeichnet, spüre ich, wenn ich ihr beim Arbeiten begegne, eine sanfte Wärme in der Gegend meines Herzens. Kurz und gut, der Zauberbrunnen füllt und erfrischt meine Seele, mein inneres Leben.

Werdende Wissenschaft

1923 hat Rudolf Steiner den Arbeitern und Arbeiterinnen am Goetheanum in acht Vorträgen das Wesen der Bienen nahegebracht. Es war ein dramatisches Jahr. Der Johannesbau war durch Brandstiftung zerstört, die Anthroposophische Gesellschaft drohte zu erstarren und rief nach einer Totalerneuerung, und von innen und außen wehte nicht nur ein Gegenwind, sondern es tobte ein gewaltiger Sturm. Umso erstaunlicher, wie Leichtigkeit und Heiterkeit durch die Vorträge klingen. Marie Steiner gab die Arbeitervorträge heraus, obwohl Steiner keine Verschriftlichung wünschte. Im Vorwort legte sie offen, woher diese Leichtigkeit kam: Ihr Mann habe ihr anvertraut, dass er die Arbeiter in die neue Wissenschaft des Werdenden einzuführen beabsichtige, im Gegensatz zur akademischen Wissenschaft, die sich bis heute am Gewordenen abarbeitet. Diese neue Wissenschaft hat zwei besondere Qualitäten. Die erste besteht darin, zu verstehen, dass jede Form und jede Gestaltung durch Prozesse entsteht, durch Bildekräfte, die unsichtbar sind und deshalb meist übersehen werden. Steiner hat auf das hingewiesen, was der Kunstmaler Paul Klee später als Arbeitsweise skizzierte: «Ich bin mehr am Formenden als an den Form-Enden» interessiert.

Die zweite Qualität ist eigentlich eine Provokation, die den Zuhörenden ohne Pathos vorgetragen wurde. Ihre Quintessenz fasst Steiner – am Beispiel der Bienen – folgendermaßen zusammen: «So muss man sagen, dass man das Bienenleben auf seelische Art studieren muss.» Man stelle sich vor, dass in Laborjournalen und Handbüchern der biologischen Methoden ein solcher Hinweis stehen würde. Ein Sturm der Entrüstung wäre vorprogrammiert. Steiner erläuterte diese These mit dem Hinweis, dass im Bienenstock nur die Königin ihre Liebe in der Geschlechtlichkeit, das heißt in der Reproduktion, erschöpfe, alle ihre Töchter, die Arbeiterinnen, verzichteten darauf, obwohl auch sie Reproduktionsorgane besitzen. Deshalb sei der Bienenstock von Liebe durchschwängert. Solch ein Aspekt des Biens erschließt sich einer rationalen Betrachtung nicht, sondern nur, wenn seelische Wahrnehmungen wie Gefühl und Empfindung in den Blick genommen werden. Das Werden bleibt für die Sinne unsichtbar. Es erschließt sich zuerst der Seele und dann dem Geist. Ob, was als Stimmung oder Bild in mir auftaucht, auch in der Welt der Sinne erscheint, ist stets offen. Ich habe in diesem Frühjahr viele Schwärme in eine neue Behausung gesetzt. Außerdem habe ich einige Schwärme selbst gebildet vor der Verdeckelung der ersten Königinnenzelle, und noch weitere sogenannte Königinnen-Ableger. In den nachfolgenden Tagen schlüpft die junge Königin, braucht ein paar Tage, bis sie im Hochzeitsflug die Bienenbeute verlässt und bald wieder nach Hause zurückkehrt. Jede dieser neuen Einheiten wird sich wie ein echter Schwarm verhalten: Die Bienen werden Waben bauen, ein Brutnest pflegen, Pollen und Nektar sammeln und Vorräte für den kommenden Winter anlegen.

Ob das geschieht, hängt von vielen Faktoren ab. Es kann sein, dass der Schwarm aus unbekannten Gründen die Behausung verlässt, die ich ihm vorbereitet habe. In einem anderen Fall kommt die junge Königin nicht vom Hochzeitsflug zurück, oder sie lebt nicht sehr lange, weil das Wetter während der Zeit des Hochzeitsflugs kühl und regnerisch war. Es ist wie in unserem Leben: Manche Handlungen können auch mit besten Motiven und Absichten nicht durchgeführt werden, weil die Welt, die durch diese Handlungen eine Veränderung, einen Wandel erfahren soll, die Tat gar nicht erst zulässt – oder sie zu früh oder zu verzögert ermöglicht. Im Geiste ist mehr möglich, als was in der Sinneswelt realisiert werden kann!

Bienen- und Menschen­gemeinschaften

Das trifft selbstverständlich auch bei Prophezeiungen zu – ich möchte sie lieber Bilder nennen – wie Rudolf Steiner bei seinen Vorhersagen im Blick auf die Dreigliederung des sozialen Organismus und die ‹Geburt› des Michaelzeitalters erfahren musste. Er meinte, wenn nur 40 Menschen die Idee des sozialen Organismus denken könnten, würde sie in der Welt ihre Verwirklichung finden. Oder wenn eine ähnlich große Zahl von Mitgliedern «michaelisch» denken und tätig werden würde, würde sich das Michaelzeitalter in unserer Zeit entfalten. Beides ist nicht eingetreten, ob aus Trägheit, Unvermögen oder zu wenig rigoroser Denk- und Meditationsarbeit, sei dahingestellt. Ein vergleichbares Bild hat Steiner auch im Blick auf die Bienen gezeichnet. Er zeigte sich überzeugt, dass das Bienenvolk, der Bien, ein Bild, das heißt eine Metapher, für die Zukunft sozialer Gemeinschaften abgibt.

Was zeichnet das Zusammenleben des Bienenvolks aus? Sie leben auf dem Grund der Liebe, sie arbeiten auf der Grundlage des Vertrauens. Nie kontrolliert eine ältere Schwester, ob die jüngere die Sache richtig macht. Sie sind bedingungslos dem Teilen verpflichtet, und sie entscheiden sich in der zentralen Aufgabe, die bestmögliche Behausung zu finden, immer gemeinsam. Dabei umgehen sie das leidige Problem der Einmütigkeit und verfahren nach einem Quorumsentscheid: Wenn sich 70 Prozent aller am Prozess beteiligten Bienen auf der Suche nach einer neuen Behausung für eine Option entscheiden, zieht der Schwarm in deren Richtung los. Für die soziale Gemeinschaft der Zukunft, und das bedeutet für das Fortbestehen der Menschheit, braucht es also Liebe, Vertrauen, Geschwisterlichkeit und Respekt. Beim Menschen wollen diese Fähigkeiten aus freier Entscheidung ausgebildet werden. Ich bin überzeugt, dass sie den Mitgliedern aller Gemeinschaften Flügel verleihen würden!

Es gibt auch hier die Dimension der Tiefe. Den Arbeitern und Arbeiterinnen erzählt Rudolf Steiner, dass der Schwarmprozess der Bienen eigentlich ein Sterbevorgang sei. Komisch, wird man sagen. Für uns Menschen ist er etwas vom Schönsten und Glücklichsten, das man erleben darf. Vielleicht regt dieses Paradox an, sich nicht nur mit dem Sterben hüben, sondern auch mit der Geburt drüben zu beschäftigen. Die Bienen als Sonnenwesen sind nur Gäste der Erde, ihre Heimat ist die Sonne. In ihrer Hauptaufgabe, der Bestäubung der Blütenpflanzen, verbinden sie kosmisch Unsichtbares von oben mit dem irdisch Sichtbaren – und stellen das fortwährende Leben der Pflanzenwelt sicher. Im Moment, wo die Pflanze nach der Bestäubung vergeht, bringt sie die Samen hervor, in denen unsichtbar die kleine Pflanze bereits lebt und nach Entwicklung ruft. Für uns Menschen ist die Erde unsere Heimat. Anders als bei den Bienen ist es unsere Aufgabe, den geliebten Planeten nach oben, mit dem Kosmos zu verbinden, um das geistige Leben des Menschen als Keim zu erhalten und zu pflegen. Das ist die zweite Dimension von Steiners Aufruf: Werdet wie die Bienen.


Foto Gilda Bartel

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