Was Alter und Jugend sich geben können

Die demografische Entwicklung in Mitteleuropa rückt eine menschliche Belastungsprobe in unser gesellschaftliches Leben.


Es werden jetzt in einer ersten Welle die Menschen der Jahrgänge 1950 bis 1972 in den Ruhestand gehen oder haben es bereits getan. Nicht alle sind gesund, sodass schon jetzt die Kosten für die Pflege der alten Generation enorm steigen. In den Jahren von 2013 bis 2023 sind zum Beispiel in Deutschland die Kosten von 42,43 Milliarden Euro auf 82,40 Milliarden Euro angestiegen. Das ist beinahe eine Verdoppelung. Der Gipfel dieser Entwicklung lässt sich abschätzen, wenn man berücksichtigt, dass die Krankheitslast im Alter ab dem 75. Lebensjahr signifikant ansteigt, wenn also der Jahrgang 1951 das 75. Lebensjahr erreicht – das ist 2026. So unsicher hier Prognosen sind, dass der Aufwand für Gesundheitskosten steigen wird, ist gewiss.

Eine Ungerechtigkeit ist genug

Wie soll und kann das volkswirtschaftlich geleistet werden? Die eigentliche Frage, die sich aber dahinter verbirgt, ist die Frage, wie sich die Alten zu den Jungen stellen wollen. Die Frage könnte sich so stellen, ob die ‹weise gewordene Generation› sich nun mit den Jungen ausgleichen will oder ob sie nur Ansprüche anmeldet. In meinem Artikel zur Corona-Krise1 habe ich darauf aufmerksam gemacht, wie die gesamtgesellschaftliche Erfahrung gemacht wurde, dass die demokratische Mehrheit der Alten führend wurde und durch ihren Anspruch auf Schutz mit dafür sorgte, dass Schulschließungen und Ähnliches zulasten der Jugend eingeführt wurden. Rückblickend war das eine kaum wiedergutzumachende Entgleisung unter den politischen Entscheidungen. Eine neuerliche Ungerechtigkeit dieser Art könnte schwierig werden. Und es muss bedacht werden, dass ungefähr zwanzig Jahre vor uns liegen, bis etwa 2045, bis sich die demografischen Verhältnisse wieder langsam ausgleichen. Just diejenigen, die durch Schulschließungen tief verunsichert wurden in ihrer Entwicklung, werden in den nächsten Jahren in die Verantwortung hineinwachsen.

Ich möchte deshalb uns Alten, denn zu denen darf ich mich zählen, die Frage zurufen: Was können wir dazu beitragen, dass wir das als Menschengemeinschaft hinbekommen? Was erwarten wir von Staat und Gesellschaft, das für uns getan werde? Wissen alle, was auf uns zukommt? Wie können wir verantwortlich gegenüber uns selbst und gegenüber der Gesellschaft damit umgehen? Haben wir eine gültige Patientenverfügung ausgearbeitet? Sollte das jeder und jede machen müssen nach dem Eintritt in den Ruhestand? Halten wir uns fit, damit wir möglichst lange unabhängig bleiben können von irgendwelchen Unterstützungen? Aber das sind technokratische Fragen.

Lernen wir zu segnen

Es gibt aber noch eine andere Perspektive, die nicht nur den gesellschaftlichen Prozess anschaut, sondern den persönlichen. Das betrifft die Frage, wie ein alter Mensch zur wirklichen Hilfe für einen jungen Menschen werden kann. Zuweilen wird gesagt, der alte Mensch könne den Jungen gute Ratschläge geben. Das ist einerseits anmaßend und andererseits ist zweifelhaft, ob das wirklich erwartet wird, denn jeder Mensch hat ein Recht auf seine eigenen Fehler. Aber um was geht es denn? Es geht um das Gespräch, und was haben wir, das wir der Jugend geben könnten? Es geht um Unterstützung, um liebevolle Unterstützung, es geht um die Bekräftigung, den eigenen Weg zu suchen und zu probieren: «Was immer du tun wirst, du hast meinen Segen.» Das erzeugt Vertrauen in dem jungen Menschen, in seine Wege und Erfahrungen, die wir ohnehin nicht ändern können und auch nicht versuchen sollten, zu ändern. Wenn es aber dem alten Menschen gelingt, diese segensreiche innere Haltung in sich entstehen zu lassen, und der junge Mensch sich dem zuwenden kann, dann entsteht in beiden eine Art ‹spirituelles Glück›, denn bei beiden kann sich eine tiefe Sinnerfahrung einstellen.

Diese Frage, tiefer gefasst: Wie gelingt es, als alter Mensch einen jungen Menschen segnen zu können? Ist es eine Mutfrage? Ist es eine Anmaßung? Ist es eine Aufgabe, eine sehr wichtige vielleicht? Was kann man sehen auf den alten Bildern von Rembrandt, wenn Jakob seine Enkel segnet?2 (Es ist bezeichnenderweise ein Altersspätwerk.) Können wir das in unseren Tagen nicht auch? Rudolf Steiner fragt an dieser Stelle, ob wir selbst als Kinder das Beten erlernt haben.3 Es hängt vielleicht auch davon ab, ob es im reifen Alter eine gesättigte Erfahrung von der menschlichen Freiheit und eine tiefe Liebe zu allem Menschlichen gibt, denn diese Erfahrung kann zu der Einsicht führen, dass Freiheit keine Abstraktion, sondern eine Fähigkeit ist, die im menschlichen Ich aufwachsen kann und zusammen mit den Kräften der Liebe sich heranbildet. Dann wird auch einsichtig, dass ein junger Mensch in dieser Freiheit bestärkt werden kann, um kräftig im Erdenleben dastehen zu können. Auffassungen der Freiheit, die allein den egoistischen Handlungsraum oder den Anspruch kennen, erweisen sich in dieser Hinsicht als unfruchtbar. Für den alten Menschen kann die Maxime gelten: Ich möchte aus Einsicht die Freiheit so schenken, dass die Unterstützung der Freiheit aus Freiheit stattfindet. Es könnte eingewendet werden, dass dazu jeweils ein gesundes Ich auf beiden Seiten die Voraussetzung ist. Aber wer wollte das entscheiden? Wie ist jemand zu begleiten, der durch seelische Verletzungen ein Schicksal zu tragen hat? Begleitung und Unterstützung sind nicht in jedem Fall eine leichte Aufgabe und trotzdem immer auch ein Segen.

Wir haben eine Phase gesellschaftlichen Lebens vor uns, die uns Älteren Nachsicht, Dankbarkeit und Freundlichkeit abnötigen wird. Immerhin erscheint es möglich, dass auch in der Bettlägerigkeit noch etwas zum Gespräch führen kann, das den Jüngeren eine Unterstützung und Hilfe bieten kann bei der beschwerlichen Ausübung oder der Einübung der Caritas. Denn uns kann klar werden: Diese Übungen sind ein Wert an sich, aber dieser Wert kann nur aufkeimen, wenn unser Echo dem gemäß ist, was an uns geleistet werden wird.


Foto Sergiu Vălenaș, Unsplash

Fußnoten

  1. Pandemie – eine menschheitliche Bedrohung. In: Anthroposophie Nr. 295, Ostern 2021, S. 1.
  2. Rembrandt van Rijn, Der Jakobssegen, 1656. Staatliche Museen Kassel, Schloss Wilhelmshöhe.
  3. Rudolf Steiner, Der Christusimpuls und die Entwicklung des Ich-Bewusstseins. GA 116, Vortrag vom 22.12.1909, S. 45 f.
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