Im Beratungsbüro unserer Waldorfschule stehen zwei kleine weiße Kästchen mit roter Aufschrift: NARCAN. Wie Baristas in Cafés, Eltern, Pädagogen und Menschen in den gesamten USA wurde auch ich darin geschult, dieses Medikament anzuwenden, um einer Opioid-Überdosis bei Mitgliedern unserer Gemeinschaft entgegenzuwirken. Im Jahr 2022 forderte die Opioid-Überdosierung in den USA mehr als 80 000 Menschenleben,1 und obwohl diese Zahl rückläufig ist, finden Jugendliche über soziale Medien leicht Zugang zu Substanzen aller Art.2 Ein kürzlicher Trauerfall in der Waldorfgemeinschaft hat uns diese gefährliche Entwicklung nähergebracht.
Jeden Sommer verbrachte Avery Ping bei seinen Großeltern im idyllischen Hinterland von New York, wo er Zeit auf einer biodynamischen Farm und in einer Waldorfschule verbrachte. Im Herbst 2024 verließ er seine Schule im Pazifischen Nordwesten, um ein Semester an der Hawthorne Valley Waldorf School im Hinterland von New York zu verbringen, wo er schnell Freunde fand. Er beschloss, im Januar zurückzukehren, um die 10. Klasse fortzusetzen, und freute sich auf eine Hundeschlittenfahrt im Februar mit anderen Schülern und Schülerinnen der Hawthorne Valley School in Nord-Minnesota. Seine Highschool-Ausbildung wollte er in Hawthorne Valley abschließen und 2027 seinen Abitur machen.
Als Avery im Dezember in seine Heimatstadt zurückkehrte, beschloss er, MDMA auszuprobieren, eine Substanz, die derzeit im Internet als Mittel gegen Depressionen angepriesen wird. Über die Social-Media-Plattform Snapchat bestellte er die Substanz, die auch als Ecstasy bekannt ist. Was er nicht wusste: Sie war mit Methamphetamin und Fentanyl versetzt, einem tödlichen Opioid, dem jedes Jahr Tausende von Teenagern in den USA zum Opfer fallen.
Jene Nacht, an der Ostküste, erwachte Averys Großvater Martin Ping, weil ihn ein seltsames Gefühl aus dem Schlaf riss. Er griff nach seinem Telefon, da er eine unerklärliche Unruhe verspürte, die ihn bis ins Innerste erschütterte. Kurz darauf begann es zu klingeln. Es war sein Sohn Aaron Ping, der ihm mitteilte, dass sein 16-jähriger Enkelsohn gerade an einer Überdosis gestorben war.
Alle Probleme, mit denen wir konfrontiert sind, sind Teil der Realität unserer Zeit, und wir müssen sie als solche akzeptieren und untersuchen. Es gibt schädliche und suchterzeugende Substanzen, und junge Menschen greifen dazu. Depressionen, Ängste und Einsamkeit sind weit verbreitet. Technologie, Kapitalismus und Materialismus prägen die Art und Weise, wie wir mit uns selbst, mit unseren Gemeinschaften und mit der Natur umgehen.
Martin Ping lieferte folgende Analyse: «Überwachungskapitalismus und endloser Konsumismus haben eine spirituelle Krise ausgelöst, die zu Ablenkung, Entfremdung, Depressionen, Drogenabhängigkeit und Selbstmord führt. Der groß angelegte Diebstahl der Aufmerksamkeit durch absichtlich süchtig machende Geräte und antisoziale Medienplattformen hat unsere Kinder besonders anfällig für diese Kräfte gemacht und sie der Ausbeutung und Vergiftung für Profitzwecke ausgesetzt.»
Aaron, der Vater von Avery, erläutert die tragischen Umstände, die zum Tod seines Sohnes führten: «Das Geschäftsmodell ist erschreckend einfach: Händler können ihre Gewinne um das Zehn- bis Zwanzigfache steigern, indem sie gängige Substanzen für Teenager mit Fentanyl und anderen synthetischen Stoffen strecken. Soziale Medien bieten diesen experimentellen Drogen einen direkten Zugang zu unseren Kindern, während Funktionen wie die verschwindenden Nachrichten von Snapchat und Telegram sicherstellen, dass Beweise verschwinden, bevor die Strafverfolgungsbehörden eingreifen können.»
Als Außenstehende fragen wir uns zunächst automatisch, ob hinter Averys Geschichte vielleicht mehr steckt. Hatte er auch mit anderen Problemen zu kämpfen? War er suchtabhängig? Hat er als Kind etwas Traumatisches erlebt? Oder vielleicht beschließen wir, dass wir uns mit einer solchen Tragödie nicht auseinandersetzen können, und wenden uns stattdessen ab. Moralische Urteile verhindern aber den Dialog und das Verständnis, und das Leugnen von Leid verschließt unser Herz und nimmt uns die Fähigkeit, etwas zu verändern.
Der Vater und Großvater von Avery arbeiten gemeinsam mit anderen Familien daran, Bewusstsein zu schaffen und die Gesetzgebung hinsichtlich der Verantwortlichkeit in sozialen Medien zu ändern.3 Daneben verbindet sich Martin Ping jeden Morgen mit Avery, betrachtet sein Foto und spürt seine unterstützende Präsenz. Er spürt, welche Arbeit Avery von jenseits der Schwelle leisten kann, indem er anderen jungen Menschen hilft, sich in unserer heutigen Welt zurechtzufinden.
Auch weit entfernt können wir unseren Beitrag leisten. In meinem Büro, gleich hinter dem Aktenschrank mit den NARCAN-Boxen, befindet sich eine Pinnwand für Schulmitteilungen. Dort hängen ein Foto von Avery und eine Warnung vor Fentanyl und Snapchat. Die Schülerinnen und Schüler der Oberstufe halten inne und betrachten sein Lächeln und seine ausdrucksvollen Augen. Sie fragen mich nach diesem schönen Jungen, und ich erzähle ihnen seine Geschichte und danke ihm für seine Aufopferung.
Wir können versuchen, diese Probleme mit materiellen Mitteln und Lösungen zu bekämpfen, doch die Ursachen sind nicht nur materieller, sondern auch spiritueller Natur. Unsere Antworten müssen daher alle Ebenen unserer Existenz berücksichtigen. Wie können wir beginnen? Zunächst müssen wir die Welt, in der wir leben, akzeptieren. Dann können wir mit offenem (wenn auch manchmal gebrochenem) Herzen handeln. Befinden wir uns auf einem spirituellen Weg, dürfen wir unser Denken, Fühlen und Wollen erweitern, um schwierige Fragen zu erforschen. Es gibt keine einfachen Antworten auf komplexe Probleme, aber wir können einen Anfang machen, indem wir durch Kontemplation, Liebe und Taten eine Brücke zwischen das Geistige und das Materielle schlagen.
Übersetzung Louis Defèche
Bild Avery Ping mit seinem Großvater Martin (links) und seinem Vater Aaron (rechts), Foto: Aaron Ping
Fußnoten
- National Institute on Drug Abuse, Drug Overdose Deaths: Facts and Figures.
- Paul Solotaroff, Inside Snapchat’s Teen Opioid Crisis. Rolling Stone, June 16, 2024.
- Siehe: Nicki Reisberg, Snapchat’s Deadly Failure (with Aaron Ping), Scrolling2Death (a podcast for parents who are worried about social media). Siehe auch: Matthew O’Neill and Perri Peltz, Can’t Look Away: Jolt, Jolt.Film – Discover the Most Important Independent Films, abgerufen Mai 2025.