Wo liegt ein Zugang zu Impulsen, die uns für das Leben stärken? Wenn alles schneller, maschineller, verrückter wird, braucht es Auszeiten, damit sich Seelen wieder finden und begegnen können. Eindrücke und Gedanken dazu aus Assisi und vom Heiligen Franz.
Im Mai ist die Erde in und um Assisi noch nicht verbrannt. Auch strömen noch nicht die Menschenmassen des Sommers durch die Gassen der rosagrauen Stadt. Die Steineichen im Wald um die Eremo delle Carceri, in dem Franziskus gern weilte, wehen frühlingsleicht, blühende Veilchen zwischen ihren Wurzeln. Die ‹Entrückte› nennt der Reiseführer Assisi und wahrlich schwebt sie pastellgehaucht am Hang des Monte Subasio. Im Abendlicht eine Wolkenstadt, bei Nacht eine funkelnde Sternenballung im schwarzen Nichts. Überhaupt strahlt alles mild in der Umgebung des Heiligen Franz. Die Fresken von Giotto und Cimabue haben weiche Farben und warme Antlitze. Sie lassen den Raum der Ikone hinter sich und gelangen allmählich bei Menschen an. Aus dem Jenseits sind sie von Rotgold gerahmt. Im Diesseits ist es ein mal tiefblauer, mal türkisweiter Himmel. Und ich frage mich, in welchem Sein und Bewusstsein jemand weilt, der den Vögeln von der Herrlichkeit Gottes erzählt, ein Schaf wie einen Bruder behandelt und den Wolf so zähmt, dass er sich sanftmütig neben das Schaf bettet. Auf einem Relief umarmt Franz von Assisi liebevoll zugewandt einen Strauch. Eine Skulptur, unter Bäumen liegend, zeigt einen Mönch, der träumend in den Himmel schaut. Friedfertige Touristen schmökern in den Souvenirläden. Pilgernde stehen andächtig vor Franziskus’ Grab. Kinder spielen Fußball vor der St.-Klara-Kirche.
Allmählich beginne ich selbst eine Entrückte zu werden. Nicht mehr ganz im Verstandesbewusstsein gleite ich durch die Landschaft und die Gassen, werde ruhig und mild mit allem. Ich verliere dabei jedoch nicht die Verbindung zu mir oder zur Welt. Eher im Gegenteil. Ich bin in einem Zustand, der diese Trennung gar nicht vollzieht. Etwas rührt mich an und wispert im Gesang der Vögel, im Atem der Stadt, im Abendlicht, in den Hügeln und Bergen, im Wald, im Schauen, im Schweifen, im Fühlen, in den Altarbildern der kleinen Kapelle, die Franziskus außerhalb der Stadt gebaut hatte. Ich gehe langsamer, bewusster, weicher, freundlicher. Ich will nicht mehr so viel. Etwas streift an meiner Seele entlang und erzählt von einer Wirklichkeit, zu der ich mich wirklich entscheiden kann. Mein Kopf wird still. Endlich einmal. Meine Worte werden Orte, an denen andere sprechen können. Sanftmütig ist das Sprechen und das Hören, und auch das Dritte, was um die beiden weiß. Etwas berührt mein Herz oder mein Herz wird berührbar.
Verrückte Welt
Heutzutage würde es als verrückt gelten, nähme jemand öffentlich am Geschehen seiner ‹Mitwesen› Anteil. Stellen Sie sich vor, ein Mann steht auf dem Marktplatz ihrer Stadt und redet mit den Tauben. Wahrscheinlich würde eine Ladenbesitzerin dieser Auffälligkeit wegen den Sozialpsychiatrischen Dienst benachrichtigen. ‹Nicht ganz von dieser Welt› wäre ein immerhin noch liebevolles Urteil. Aber was ist von dieser Welt? Und was ist ‹verrückt›? Dass Kinder und Jugendliche vor der Nachrichtenflut, den Scheinwahrheiten, den Horror- und Gangsterstorys auf Instagram und Tiktok in Drogenkonsum oder Gaming fliehen? Dass sich ein Junge das Leben nimmt, weil er sich in eine KI verliebt hat? Dass immer noch die Profitmaximierung mehr wert ist als der ressourcenschonende oder seelenpflegende Umgang mit Mutter Erde und uns selbst? Dass wir nicht verhindern, dass Menschen aushungern oder ertrinken, erschossen werden oder vertrieben? Dass es kaum noch saubere Wildflüsse in Europa gibt? Dass uns eine Nachtigall nicht mehr berührt? Dass wir den Dingen nicht ihren Wert zumessen können? Dass wir die Sprache des Zusammenhangs nicht sprechen und nicht verstehen? Ja, das ist verrückt, verschoben. In der ‹Entrücktheit› von Assisi scheint jedoch etwas auf, was zumindest mich wieder zurechtrückt. Und ich möchte dieser kalten, kapitalistischen, fühllosen, effektiven, schnelllebigen, gehetzten, verunsicherten, kriegerischen, verlogenen Welt immer mal wieder ein wenig entrücken und empfehle es allen. Und in der Entrückung den Zauber der Schöpfung vernehmen, wahrnehmen, worum es mir eigentlich geht, was mir wertvoll ist. Das alles liegt außerhalb politischer Debatten und gesellschaftlicher Diskurse. Es geht direkt an, ist unmittelbar. Ich kann mich nicht verbergen, bin aber geborgen.
Sprache des Zusammenhangs
Wieder zu Hause taste ich immer noch in der Frage, worin diese ‹Entrücktheit› eigentlich besteht, die ich in und um Assisi vernahm? Es ist nicht Weltfremdheit und nicht ‹Weltverschmolzenheit›, denn ich war wach und bemerkte, was mit mir geschah. Ich war präsent. Aber diese Präsenz ist nicht nur wie Geisteslicht, reines, kühles Bewusstsein, nicht nur der beobachtende Standpunkt, nicht nur Gleichmut. Es ist eine Präsenz des Lichtes im irdischen Sein. Licht, das Licht erkennt. Und noch eines mehr. Etwas ist warm dabei, wohlwollend. Es ist wie ‹Präsenz in der Liebe› selbst. Licht, das sich in Wärme weiß, gebiert, erfüllt. Bewusstsein und Liebe zugleich. Als sei die Wärme der Träger des Lichts geworden. Darin ist alles enthalten, was zu den Wundern der Schöpfung und dieses Lebens gehört. Auch alles, was wir dazu empfinden können und mitunter müssen: Schmerz, Trauer, Freude, Hilflosigkeit, Sicherheit, Ehrlichkeit, Vertrauen, Klarheit …
Wie begegneten wir uns dann? Wie sprächen wir miteinander und zueinander aus ‹Präsenz in Liebe›? Dann käme es wohl nicht mehr auf die Worte an, sondern auf das Sprechen selbst. Wer in Sanftmut, Vertrauen und Klarheit spricht – sich seiner selbst bewusst –, kann nicht über den anderen hinweggehen. Auch nicht, wenn der andere ein Wolf oder Schaf oder Vogel oder Fluss ist. Denn wir alle sind Geschöpfe Gottes. In Liebe sprechend, hängen wir zusammen, werden wir berührbar. Wenn ich das bemerke, in der Entrücktheit, kann ich mich auch dafür entscheiden. Ich kann es mir ins Herz senken und ins Leben hineintragen. Zumindest, wenn ich mich immer mal wieder entrücke und erinnere an die Schönheit der Schöpfung, an den Trost der Liebe, an die Kraft des Mitgefühls. Spreche und handele ich dann aus dem Zusammenhang?
Bild Hannes Weigert, 27.5.2025. Acryl/Baumwolle, 50 x 60 cm