Pfingsten für das Ich

Pfingsten ist das Fest des Willens und am Willen zeigt sich die Spannung zwischen Ich und Gemeinschaft am stärksten. Bertolt Brecht und Rudolf Steiner geben hier polare Antwort. Das zeigt der Vergleich von Rudolf Steiners Mysteriendrama ‹Der Seelen Erwachen› und Bertolt Brechts Lehrstück ‹Die Maßnahme›. Der zunächst ungewöhnlichen Wahl liegt die Beobachtung zugrunde, dass im 21. Jahrhundert zunehmend geistige, innere Vorgänge zu äußerlich-messbaren gemacht werden, vor allem auf dem Feld der Moral, und dass man diese Polarität an den beiden szenischen Expositionen veranschaulichen kann.


Erfüllte der mythische Mensch in der Einweihung die uralten Muster seines jeweiligen Kollektivs, so realisiert sich unter den Bedingungen des Logos nicht eine der bekannten Geschichten, sondern individuelle Geschichte […] [Dann] wandeln sich die Mysterien zu dem einen Mysterium, das nicht mehr geheim gehalten werden muss, weil es gar nicht verraten werden kann. Denn das neue Mysterium ist kein zu erfüllendes Urbild, dessen man ohne entsprechende Vorbereitung noch nicht würdig ist, sondern es liegt in der […] voll erlangten Dimension des Ich.1

Dieser Untersuchung zu folgen, bedarf der Bereitschaft, innerlich einen gewissen Spannungsbogen der Motive mitzumachen und dem hier Entfalteten das ihm innewohnende Spektrum zwischen Literatur, Zeitdiagnose und Evangeliendeutung zuzugestehen. Die Polarisierung hängt zusammen mit einem Bewusstseinswandel, der eine Licht- und eine Schattenseite hat. Das ganze Feld des Dialogs zwischen unterschiedlichen Meinungen ist seit Längerem sehr aufgewühlt. Jeder Mensch erlebt ja vielleicht manchmal, dass er innerhalb einer Gemeinschaft eine bestimmte Ansicht hat und mit Positionen in Verbindung gebracht wird, die er aber nicht in jeder Situation transparent macht oder bekennt, aus Sorge, anzuecken. An einer solchen Selbstzensur kann man auch aufwachen. Wer sich etwa heute allzu naiv auf das Allgemeinmenschliche beruft, muss im komplexen Diskurs über Diskriminierung stets mitreflektieren, für welche (privilegierte) Gruppe er oder sie spricht: Können sich im konkreten Alltag wirklich alle vom ‹wir alle› gemeint fühlen?

Hier soll aber nicht das Für und Wider dieser gesellschaftspolitischen Entwicklungen abgewogen und auch nicht diskutiert werden, ob es eine sogenannte ‹Cancel Culture› gibt oder nicht.2 Sondern es soll der Pfingstgedanke als das Zukunftsbild einer Moralität herausgearbeitet werden, die aus den Dilemmata herausführt. Während Rudolf Steiner schon in ‹Die Philosophie der Freiheit› einen ethischen Individualismus skizzierte, der in ein pfingstliches Evidenzerlebnis und in das Vertrauen mündet, dass der Mitmensch einer gleichen Ideenwelt angehört, aus der er nur andere Intuitionen holt, kommt ein nicht minder einflussreicher Protagonist der Kultur des 20. Jahrhunderts, der Dramatiker Bertolt Brecht (1898–1956), ganz und gar anders daher. Als Sozialist verstand Brecht Moral hauptsächlich vor dem Hintergrund des sogenannten Klassenkampfs. Sein Werk ist zwar vielschichtig. Dennoch wird darin immer wieder positiv ein Kollektiv beschworen – während es um den einzelnen Menschen nur insofern geht, als dessen Loyalität zu diesem ihn entweder moralisch qualifiziert oder disqualifiziert, ihn legitimiert oder infrage stellt, egal wie gut er sein Handeln meint oder welchem persönlichen Impuls er folgt.

Keiner soll schaden

Mit dem im Dezember 1930 aufgeführten, in China spielenden Stück ‹Die Maßnahme›3 eckte Brecht besonders an. Denn in diesem treibt er ideologisches Denken auf die Spitze. Es geht um eine moralische Urteilsbildung: Ein junger ‹Genosse› wird angeklagt, sich unsolidarisch verhalten zu haben, und wird genötigt, dem eigenen Tod zuzustimmen. Vier «Agitatoren» rechtfertigen vor einem ‹Kontrollchor› ihr Urteil: «[Er] gefährdete die Bewegung. Er wollte das Richtige und tat das Falsche.» Das hierarchische Kontrollsystem soll sicherstellen, dass der Partei, also der eigenen Gruppe, und der ‹Revolution› nicht geschadet wird. Dass der Genosse die internen Prämissen der dem Urteil vorangegangenen Proben bejaht habe, wird ihm noch einmal in Erinnerung gerufen. Nicht seine persönliche Leidenschaft, sondern erst die vernunftbetonte Unterwerfung unter die Gesetze der Gemeinschaft machen ihn zu einem guten Genossen.

Die Agitatoren schildern nun die Prüfungen, in denen er sich nicht bewährt und so seine Unreife offenbart habe. In der ersten etwa sollte er Arbeitern beibringen, dass sie bessere Schuhe fordern müssen. Er aber «ging eilig hin und verfiel sofort dem Mitleid», obwohl er ermahnt worden war, genau dies nicht zu tun. Als Folge wird er von einem Aufseher genötigt, jedem Ausrutschenden einen Stein unter den Fuß zu legen.4 Er muss einsehen, «dass er das Gefühl vom Verstand getrennt hatte». Die Proben, in denen der junge Mann versagt, machen das rationale Fazit der Agitatoren nachvollziehbar: Der Genosse handelt ineffektiv, sieht nicht den Zusammenhang, will punktuell rebellieren, aber löst sich dabei aus dem kollektiven Überbau. Er setzt problematische, vom Gemüt geleitete Prioritäten. Die moralischen Qualitätssicherer räumen ein: «Wir sahen […] seine Schwächen, aber wir brauchten ihn, denn er hatte einen großen Anhang unter den Arbeitslosen […]»

In der Szene ‹Der Verrat› kommt es zu einem letzten Vergehen. Beeindruckt von akuter Not und unfähig, strategisch zu denken, will er ‹die Klassiker› der Lehre zerreißen, «denn der Mensch, der lebendige, brüllt. […] Darum widersetze ich mich eurem Beschluss zu warten.» Die stets betont sachlichen, ja weisen Agitatoren spiegeln ihm, es gehe nicht nur um ihn: «Deine Revolution hört auf, wenn du aufhörst. / Wenn du aufgehört hast / Geht unsere Revolution weiter.» Er aber fordert Transparenz: «Wer […] ist die Partei? / […] Sind ihre Gedanken geheim, ihre Entschlüsse unbekannt?» Ihm wird erwidert: «Wir sind sie. / Du und ich und ihr – wir alle. / In deinem Anzug steckt sie, Genosse, und denkt in deinem Kopf. […] Zeige uns den Weg, den wir gehen sollen, und wir werden ihn gehen wie du, aber / Gehe nicht ohne uns den richtigen Weg / Ohne uns ist er / Der falscheste. / Trenne dich nicht von uns!» Er lässt sich davon nicht beirren und stellt sein Gewissen, seine persönlich verantwortete intuitive Tat gegen Leitlinien, die sich nur aus vorher Festgelegtem ergeben: «[Im] Anblick des Kampfes verwerfe ich alles, was gestern noch galt, und tue das allein Menschliche. […] Ich bin für die Freiheit!»

Seine Aktion läuft aus dem Ruder. Er gefährdet die Sache. Die Agitatoren müssen sich, um die Partei zu retten, distanzieren. So kommt es zur ‹Maßnahme›: «Wenn […] du erkannt wirst, ist unsere Arbeit verraten. Also müssen wir dich erschießen und in die Kalkgrube werfen […]. Aber wir fragen dich: Weißt du einen Ausweg?» Der Genosse erklärt sich einverstanden mit der «Auslöschung» als Mensch. Sie wird auf eine Art zelebriert, die in ihrer warmen Kühle erschüttert; die Agitatoren halten ihn im Arm, bevor sie ihn töten. Eine ins Zynische getriebene Logik: ‹künstliche› Moral, lebens- und weltfremd begründet.

Teilhabe aller

Anders als ideologische verstehen sich esoterische Gemeinschaften. Hier heißt, im Zusammenhang zu wirken: aus Geistigem heraus und nicht nur aus dem Intellekt, aus Beweglichem, nicht aus Dogmen. Hier widersprechen Mitleid und situatives individuelles Handeln nicht der Anbindung an eine höhere Gesetzmäßigkeit. Das ist gerade die Kunst: moralische Fantasie. Doch es bedarf eines Verwandlungsprozesses, der durch einen, allerdings nicht physischen Todesmoment über eine Schwelle führt. Indes hat sich die Wirkensweise jenes aus alten Menschheitszeiten überlieferten ‹Mysteriums›, dass das Geistige im Menschenwesen mit dem Geistigen im Weltall im Einklang steht, dass Ich und Gemeinschaft, Innen und Außen miteinander schwingen können, im Laufe der Entwicklung verändert. Die neuen Mysterien benötigen die geistig-seelische Aktivität und Teilhabe des Menschen. Es wird nichts mehr ‹mit ihm gemacht› werden können ohne sein waches Ich, ohne seine – wenn auch noch nicht auf der Höhe ihrer selbst handelnden – Persönlichkeit, und sei das Ziel, die Initiation in eine übersinnliche Realität, noch so hehr.

Im siebten und achten Bild von ‹Der Seelen Erwachen› zweifelt ein Opferweiser, der selber zu einem in dem Fall nicht exoterischen, sondern esoterischen ‹Kontrollgremium› eines Einweihungsvorgangs mit entsprechenden Prüfungen gehört, selbstkritisch an der Berechtigung und Zeitgemäßheit der eigenen Einrichtung, des ägyptischen Mysterienwesens.5 Hier strebt kein junger Genosse nach der Revolution, ein junger Neophyt strebt nach Geistgemeinschaft, dem Aufstieg zum ‹Rater›. Auch er versagt im entscheidenden Moment: Er wird von seiner Seele überwältigt und trägt ein persönliches Element in das Ritual hinein. Beide ‹gehorchen› nicht: Der Genosse in Brechts Drama fehlte, weil er sich vom Herzen leiten ließ, und wird als Folge, es bejahend, verbrannt; der Neophyt wird ‹nur› nicht eingeweiht. Der eine stirbt, der andere – versteht man Sterben meta-physisch – gerade nicht: Er löscht sein Alltags-Ich nicht aus, verwandelt es nicht um des höheren willen; im heiligsten Moment strömen nicht Geist-, sondern Menschenworte aus ihm, schwelgerisch das Geistige genießend. Das Ganze ist keine politische, sondern eine okkulte Katastrophe, kein Rückschlag im Klassenkampf, sondern Indiz eines Anachronismus des Mysterienwesens.

Der sich mit dem Schwellenhüter unterredende Opferweise sah die Schwäche des Neophyten. Er ahnte: Zwar ist es richtig, ihn nicht zum Opferdienst zuzulassen, vom geistigen Standpunkt aber musste so etwas einmal, erstmals, passieren, denn die Mysterien sind aufgrund der Korruptheit der Führer dekadent geworden: «[…] die Lenker werden schuldig. / Erkennen die denn noch die Mystenkraft, / Die jedes Wort und jedes Zeichen hier / Geheimnisvoll durchgeistigt, – die auch wirkt, / Wenn Seeleninhalt sich in sie ergießt, / Der unheilvoll dem Weltenwerden ist? / Statt dass der junge Myste sich dem Geiste / Bewusst hier opfert, schleppen seine Lehrer / Als Opfer ihn zur Weihestatt, und unbewusst / Ergibt er hier sein Seelensein dem Geiste, / Das er in andre Wege wahrlich lenkte, / Wenn er bewusst es in sich leben könnte.» Die wahre Zukunft liegt im Ergreifen des Ich, das sich, wenn auch schwach, im Neophyten ausspricht. Ohne es zu wissen, spiegelt er den Mysterienführern eine Wahrheit.

Wie Neues in die Welt kommt

Auf der Folie der oben zitierten Studie ‹Revolution im Ich›, dort vor allem im Kapitel über Kleists «Mysteriendrama» (Ruth Ewertowski) ‹Prinz Friedrich von Homburg›6, ließe sich die Analogie noch erweitern und vertiefen. Kleists Prinz hat das gleiche seelische Temperament wie der Genosse und der Neophyt. Die Autorität, das Pendant zu Steiners Opferweisem bzw. zu Brechts Agitatoren, ist hier ein Kurfürst. Auch beim Prinzen mischen sich auf der Schwelle zunächst Traum und Realität, naive Logik und ichhafte Freiheit. Bei einer Schlacht agiert er verfrüht und eigenmächtig, führt aber gerade dadurch den Sieg herbei. Der Kurfürst anerkennt dies und verurteilt ihn zugleich wegen der Befehlsverweigerung zum Tode. Der Prinz denkt, dies sei nur eine «Erziehungsmaßnahme» (Ewertowski), nimmt es nicht ernst und rechnet mit einer Begnadigung. Der Kurfürst lässt sich durch den seelischen Zustand des Prinzen und durch die Gesamtkonstellation berühren und überlässt dem Prinzen in einem moralisch intuitiven und genialen Impuls selbst das Urteil. Dieser erkennt nun die Legitimität der Haltung des anderen, die Notwendigkeit des Gesetzes, und willigt aus nun freien Stücken in das Todesurteil ein, das daraufhin nicht vollstreckt wird: Denn auch der Kurfürst, als die Autorität, kann nun eine neue, dritte Haltung einnehmen.

Die Autorin arbeitet heraus, inwiefern es, auch geistesgeschichtlich, gerade die «Abweichung» sei, «mit der» sowohl ‹das Böse›, also die Schuld, als auch «die Freiheit in die Welt kommen». Es sei «gewissermaßen das Außerplanmäßige schlechthin, die ahnungslose Verbotsübertretung, die unfreiwillige Insubordination», was die Mitte dynamisiere – Mitte gemeint als das Zentrum des Dramas von Tod und Auferstehung, sowohl kosmisch als auch biografisch –, «indem es sie unkalkuliert in Bewegung versetzt, Neues in die Welt bringt, wirkliche, ergebnisoffene Entwicklung möglich macht». Sowohl Steiners Anthroposophie als auch die Dramatik Kleists böten «eine außermoralische Alternative zur Ursache- und Zweckrelation an», einen «Zwischenbereich». In diesem wirke immer eine «Konstellation», wirkten die «Verhältnisse der Handelnden zueinander». Das Urdrama geschah auf Golgatha: «Christus wird zum Opfer der Menschen und verwandelt dies in ein Opfer, das er der Menschheit bringt.»

Brechts Agitatoren nutzen, nein: aktivieren ihre Freiheit nicht und bleiben der mitgebrachten Kollektivmoral verhaftet. Der Opferweise hingegen verwandelt denkend seine Moral, ähnlich wie der trotz seiner Macht, sensibel, geistesgegenwärtig und am Ende weise handelnde Kurfürst im Drama Kleists. Im Wort Kommunismus, auch in Community, Gemeinde, klingt noch das Urbild der Kommunion durch, die Vereinigung einer geistigen Idee mit der Wirklichkeit des Menschen-Ich. Gegenwärtig geht die Tendenz in unseren Gesellschaften eher in die Überprüfung der Integrität der Einzelnen dadurch, dass als problematisch geltende Deutungen der Wirklichkeit von ‹Kontrollchören› (wie ‹Correctiv›) untersucht und öffentlich thematisiert werden.

Pfingsten in der Seele

Pfingstverständnis hingegen hieße, dass es gar nicht mehr um ‹Meinungen› geht. Vor allem bei der sogenannten öffentlichen bleibt immer die Frage im Dunkeln, wer eigentlich über den Wert einer Meinung bestimmt. Pfingsten, grundsätzlich verstanden, will uns weder entflammen und anstiften für oder gegen das moralisch Unsägliche oder für oder gegen das nicht mehr oder noch nicht Sagbare – Pfingsten bedeutet eine ganz andere Ebene des ‹Sagens› und der Sprache. Hier wird Christus als Ich-Wesen der Menschheit zum ersten Mal so begreifbar, dass nichts ‹gesagt› werden muss, um einander zu verstehen, und dass jeder in seiner Sprache schweigen und ‹meinen›, leben und kommunizieren kann und dennoch sich seelisch des anderen so bewusst ist, dass er ihn als etwas Eigenes, als Eigenen fühlen, denken und wollen kann.

Die Verstandesseele zwingt den vom Pfad der moralischen Logik abweichenden Einzelnen auf einen symbolischen Kreuzweg. Er führt durch von strengen Voyeuren gesäumte Gassen, und sie erwartet vom ewig schwankenden Pilatus in uns, sich dem Urteil anzuschließen. Ob es sich um Zitate handelt, die man aufspürt, oder Daten, die man speichert: Am Ende dieser Evaluationen steht meist eine erzieherische Maßnahme, und sei es, dass man abhängig von der an sich ja sinnvollen Selbstvorsorge Gesundheitsboni erhält. Schleichend wird Moralität mit Leistung verknüpft. Das Gute wird abrufbar, das ‹richtige› Leben zum Statussymbol, der Mensch zum Gesinnungsgenossen. Hingerichtet wird der Eigensinnige und ‹Eigentümliche›, der sich selbst Gehörende.

Ähnlich wie im Stück der Genosse, der seine Fehler zugeben soll, um wieder Teil der Gemeinschaft zu werden, muss man sich auch heute oft und viel entschuldigen: sei es im Bekanntenkreis, sei es öffentlich. Hat man, egal ob aus Überzeugung oder aus Ungeschick, einen gewissen Konsens nicht beachtet, riskiert man nicht selten subtile soziale Ächtung.

In Brechts Drama eines Schauprozesses willigt der Mensch in seinen Tod letztlich ein. Im China Brechts gelten selbst harte pädagogische Maßnahmen als akzeptabel, da die Gesellschaft sich nun mal weiterentwickle und aus historischen Versäumnissen lernen wolle. Gilt dies nicht auch 2025? Doch welche Kollektivmoral wäre vollkommen rein? In den Grauzonen des Lebens, wo alltäglich schwarz in weiß übergeht oder unschuldig in schuldig und wo Verantwortung oft diffundiert, ist jeder Mensch allein mit seinem Gewissen. Vordergründig bejaht auch Jesus seine auf der Basis einer Verschwörung politisch beschlossene Tötung. Doch der Menschensohn des Johannesevangeliums wusste im tiefsten Sinne, dass das zukünftige ‹Christentum› den Passionsweg des Ich gehen muss: Der Genosse ist Opfer, er aber bringt ein Opfer. Auch Kleists Prinz stimmt, dazu erhoben vom Kurfürsten, seinem Tod frei zu und vermeidet ihn gerade dadurch als Todesurteil über den Leib. Freiheit schenkt hier Freiheit.

Eine pfingstliche Moralität und zukunftsgetragene Ethik der Menschheit als Gemeinschaft kann nur in einer esoterischen Dimension bestehen – wenn man Esoterik als inneren Zusammenhang begreift. Der gegenwärtige Paradigmenwechsel vom Konflikt der Klassen zum Wettbewerb der Individuen ist hingegen geradezu eine Zementierung dessen, was es zu verwandeln gelte. Im chinesischen Social-Credits-System kommt diese «Quantifizierung des Sozialen» (Steffen Mau) besonders krass zum Ausdruck.

Dort wird das moralische Verhalten des Bürgers mit Vor- und Nachteilen bei der gesellschaftlichen Partizipation gekoppelt: «Hierbei handelt es sich um ein besonders düsteres Beispiel für einen allgemeinen Trend der Bewertung, Klassifizierung und Quantifizierung […]» Diese Kritik wäre weiterzudenken: Eine friedensstiftende Qualität hat das Soziale und Moralische erst, wenn eine bewusstseinsmäßige Auferstehung, ein Sich-Erheben aus dem Sumpf der Daten stattfände.7 Brechts Stück wendet sich an den Intellekt, es geht, wie es für die Verstandes- und Gemütsseele konstitutiv ist, um eine Art kombinatorische, ja mechanische Moralität, die sich auf bereits Vorhandenes stützt, und nicht um eine schöpferische, wie sie Steiner beschreibt.

Der Geist für alle

So prognostiziert der Opferweise dem in (und an) verkalkten Verhältnissen scheiternden Neophyten indirekt zukünftige Absolution. Oder, mit Kleist, Lorbeeren: «Ich fühle schon die Zeiten nahe kommen, / Die aus dem Gruppengeist das Ich befreien / Und ihm das eigne Denken lösen werden» – sozusagen ohne Extra-Einweihungen und Extra-Maßnahmen, sondern in der Öffentlichkeit des eigenen Lebensganges. Die Initialzündung zu dieser letztlich spirituellen Revolution schildern die Evangelien: Die Böswilligkeit der gegen Christus agierenden Hohepriester, ihre Panik vor dem Volk und die Angst um die eigene Macht und Reinheit der Lehre, die in ihnen wie Feuer brennt, wurde angefacht durch die erste öffentliche Einweihung der Menschheitsgeschichte, die Christus auf dem Höhepunkt seines Wirkens an Lazarus-Johannes vollzog.8 Mit ihm war der Menschensohn seelisch verbunden, ihn fühlte er als zukünftigen Schüler, bis ins Leibesgefüge hinein erweckte er einen ganzen Organismus aus dem scheinbaren Tod. In Brechts Drama wäre die erstaunlich demütige Bitte der Agitatoren: «Trenne dich nicht von uns, weise uns einen Ausweg!», lesbar als die Perspektive: «Trenne dich nicht von der Menschheit!» Der Autor mag inhaltlich Wahres geahnt haben, doch er blieb in einer formalistischen Logik gefangen.

Pfingsten – und mithin das Auferstehungsgeschehen an Ostern – bedeutet, dass sich Christus nun als Wesen, als Ich der Menschheit offenbart, als der Geist nicht einer Gruppe, sondern aller. Als Mitte. Pfingsten als sozial heilendes Geist-Erlebnis vollzieht sich dort, wo ich den anderen Menschen und sein Tun aus der Begegnung mit seinem Ich heraus verstehe, bevor ich es anhand von Maß-Stäben bewerte, die dann sozusagen über ihm gebrochen werden. Sein Handeln ist mir heilig, weil es seines ist. Meine moralische Aufgabe ist lediglich, dass ich ihm fragend spiegele, nicht inquisitorisch, sondern helfend, ob er wahrhaft frei gehandelt hat. Denn ich kann sensibel spüren, ob jemand keimhaft auf dem Weg zum Geistigen in seinem Wesen ist (und damit zum Geistigen in der Welt), auch wenn es sich noch unvollkommen offenbart oder sich in zwiespältigen oder gar falsch scheinenden Taten ausdrückt.

Der Geist wird frei

In den Evangelien gibt der noch nicht physisch gestorbene Christus-Jesus der Gemeinschaft der Jünger moralische, spirituelle und soziale Sicherheit. Sie verstanden zuerst noch nicht alles, aber sie vertrauten, sie orientierten sich an ihm. Karfreitag fiel jene äußere Sicherheit weg. Ihr Rabbi, als der Garant für die richtige Antwort und heilsame Tat in jeder Situation, war fort. Was auch für sie sterben musste, waren ihre Vorstellungen von dem, was das ‹Beste› (auch für Christus) gewesen wäre. Fixierter Geist gibt Halt, aber hält uns auch von der Selbstverantwortung ab. Er gelangt nur in die Oster-, die Sohnessphäre, zehrend von den Vatergottkräften, doch Heiliger Geist, Pfingstgeist, gibt niemals die eigene Vollmacht an Autoritäten ab. Es ist ja die Vollmacht des Begnadens der (ganzen) Menschheit. Deshalb sagt Christus als der Logos immer wieder, wo er sei, sei auch der Vater, er und der Vater seien eins.9 Der Geist muss durch den Menschen wirken, in diesem sterben und auferstehen. Er «wird erst frei, wenn er aufhört, Halt zu sein» (Kafka). Man kann aus dem Vergleich der beiden ‹Lehrstücke› – mit den Mysteriendramen hatte Steiner die Wirkungen des Karma anschaulich machen wollen – eine übergeordnete Lehre ziehen: Wo Moralität einem Wenn-dann-Mechanismus gleicht, bringt sie als ahrimanisch kalter und luziferisch überhitzter Dogmatismus stets Opfer hervor. Die Sphinxe erwachen.

Das siebte und achte Bild von ‹Der Seelen Erwachen› weist hingegen den dramatischen Weg, der von den alten Mysterien über den Abgrund jener Verführung, die im 21. Jahrhundert vor allem ahrimanisch, von der rein quantitativ verstandenen Zahl her geprägt ist, in die Pfingststimmung der Freiheit führt. Anhand der Persönlichkeit des unreif-reifen Mysten entsteht eine Dynamik, in der man vor die Wahl gestellt wird: Gehorche ich den Erbschaften und Testamenten alter Traditionen oder ‹horche› ich auf das, was im Moment ‹zählt›, was mir die jeweilige Beziehungskonstellation sagt und mir ermöglichen möchte, und ich ihr. Das marxistische Diktum ‹Das Sein bestimmt das Bewusstsein› tritt uns heute modifiziert entgegen als die Auffassung, dass nicht das individuelle Streben nach Integrität, sondern primär oder gar ausschließlich die Zugehörigkeit zu einer Gruppe oder zum kollektiven Konsens eine Ansicht adäquat und ausreichend kontextualisiert und letztlich über deren Wert und deren Legitimität bestimmt.

Anthroposophie kehrt es um: Das Bewusstsein bestimmt das Sein, die Geistesgegenwart, das Bewusstsein im Augenblick. Die Reflexion von kulturellen Voraussetzungen bleibt wichtig, aber bannt nicht die Gefahr von Gruppenegoismus. All dies markiert im 21. Jahrhundert nur einen Übergang. Zukunft hat nicht die Ächtung, sondern einzig die gegenseitige Achtung des Individuellen. Sie äußert sich in immer wieder innerlich hergestellter Offenheit, in aktivem Zuhören, im Einander-Zusprechen, zuallererst ein Ich zu sein. Aus den alten Kulten will heute eine soziale Kultur erwachsen, in der die Bewusstseinsseele den Verstand um den Geist und den Blick auf materiell-soziale Verhältnisse um die Dimension übersinnlicher Schicksalszusammenhänge und Wesen erweitert.


Illustration Grafikteam der Redaktion

Fußnoten

  1. Ruth Ewertowski, ‹Revolution im Ich. Einweihung als Wiedergeburt› (2010)
  2. Im Rahmen eines Denkraum-Seminars zu einer ‹Ethik der Wahrnehmung› erforscht das Basler Philosophicum derzeit die hierbei im Raum stehenden, tendenziell einseitigen Haltungen, um Lösungsstrategien von ‹Entbanalisierung› und ‹Entpolarisierung› auszuloten. Publikationen sind geplant: www.philosophicum.ch – Siehe dazu außerdem den Beitrag: Hartmut Rosa, Juli Zeh u. a., Lassen Sie uns reden, in: Die Zeit, 30.4. 2025.
  3. In: Die Stücke von Bertolt Brecht in einem Band, Frankfurt a. M. 1978.
  4. In dieser Szene drängt sich als Assoziation zart die Gestalt von Simon von Kyrene auf, der Jesus auf der Via Dolorosa eine Weile das Kreuz abnimmt.
  5. GA 14 (Hervorhebungen im Original). Siehe außerdem die Darstellung in: Hans Paul Fiechter, Das Rätsel Kafka – Erkundungen im «Schacht von Babel», Stuttgart 1999, S. 162, wonach die Hauptpersonen hier «eine Rückschau [haben] in eine ihrer früheren Inkarnationen, die im alten Ägypten stattgefunden hatte. Die Rückschau zeigt nun gerade einen Moment, in dem durch das Verhalten eines Verantwortlichen, der das persönliche Element in einer Art schon hineinträgt, wie es erst später in Griechenland in der Kulturentwicklung wirksam wurde, die traditionellen heiligen Riten in den Mysterien in Unordnung geraten. Die Szene endet mit dem großen Schrecken, dann dem Zorn, dann dem Ruf nach Rache der Priester und damit, dass die bisher ruhenden Sphinxe Luzifer und Ahriman zum Leben erwachen und zu sprechen beginnen: von dem Tätigkeitsfeld, das sich ihnen durch diese Vorgänge für die Zukunft eröffnet.»
  6. Stuttgart 2010, S. 37 ff. (Hervorhebung im Original)
  7. Steffen Mau, Zahlen machen Leute, in: Selbstverwandlung. Das Ende des Menschen und seine Zukunft. Anthropologische Perspektiven von Digitalisierung und Individualisierung. Hrsg. von Philip Kovce und Birger P. Priddat, Metropolis-Verlag, Marburg 2022. Siehe auch: en.wikipedia.org/wiki/Social_Credit_System – Der Begriff Qualität leitet sich aus dem lateinischen ‹qualitas› ab und weist als die ‹Beschaffenheit› und ‹Eigenschaft› von etwas dezent auf die Spannung von ‹er-schaffen› und ‹eigen› sein versus ‹etwas ist schon ge-schaffen›, ist schon ‹ermessen› hin. Siehe auch A. L., Das Ich als Verb. Gedanken zur Identitätspolitik, in: die Drei 6/2021.
  8. Johannes 11, 1–53.
  9. Johannes 16, 1–33.

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