Die Engel und ihre Sprache

Einen trostspendenden Reichtum überbringen uns die Engel, die Boten, die Ihm nahestehen. Sie besuchen uns sanft, kaum merklich ist die Gegenwart derer für uns, die am gegenwärtigsten sind. Sie bringen Trost, setzen sich zu uns, um einen Moment zu verweilen. Sie hören und hören uns zu, diese sanften Boten, die unverstrickt sind in irdisches Geschehen. Sie staunen nur zuweilen, nehmen liebevoll Anteil an Belangen, die sie nicht recht kennen – diese lichtvollen Wesen ohne Geschichte –, weil sie in die Mitte der Ewigkeit hineinerschaffen sind, deren Ränder erst die Zeit umfließt. Nur tastend, stumm und fragend, wie Kinder, leisten sie uns Gesellschaft. Sie wirken tröstend durch ihre bloße reine Anwesenheit, da wir durch sie unmissverständlich an unseren Urquell erinnert werden, in dem der Frieden und die Liebe wohnen, dessen Bad für uns Menschen mit einem Vorhang verdeckt bleiben muss. Die Engel, unsere stillen Begleiter, und Wächter, sie setzen sich zu uns und lauschen mit uns, weil wir es rascheln hören, nicht sie, sie schauen mit uns, weil wir eine Entdeckung machen. Die Engel begleiten uns, nehmen uns an der Hand, unsere älteren Geschwister, die nicht unsere, sondern ihre Aufgabe haben. 

Wir wandeln auf dem Weltenplan unterhalb der Zeit, in welche die Sterne hineinwirken. Über dieser Barriere aus Zeit und Sternen leben die Engel und sehen durch Wolken hindurch auf uns hinab und unsere Seelen liegen ihnen offen vor. Sie sehen unsere Seelen, sehen, wie viele Erlebnisse in ihnen sich ereignen, wie wechselndes Wettergeschehen. Die Engel sehen aber auch durch diese Oberfläche – ihr ungetrübter Blick, aus dem die Ewigkeit schaut. Die Engel sehen unseren Lebensplan. Sie sehen uns, wie wir noch Kinder waren, sehen uns, wie wir erwachsen waren, sie sehen uns, wie wir im Alter diese Welt verließen. Sie sehen unseren Lebensweg in einem Schlag, ehe wir ihn gelebt haben, als eine Vergangenheit, die sich noch ereignet. 

Sie durchblicken die Tiefe unserer Seelen und umarmen, berühren diese dadurch. Der Blick des Engels ist ein wissendes Schauen und zugleich ein inniges Berühren. Indem der Engel uns auf den Grund der eigenen Seele schaut, berührt er den Vorhang unseres innersten Heiligtums. Manche Engel sehen auch dieses, aber solche gibt es nur wenige, da der Geist in unserem innersten Heiligtum wohnt; dieses Seil, diese Nabelschnur, die uns an unseren lebensspendenden Urquell knüpft. Denn ihm entstammen wir, wie auch die Engel ihm entstammen. Sie breiten ihre Flügel aus und fliegen durch die höheren Himmel, reihen sich zum Chor und singen in einer Gemeinschaft Lobgesänge für den Urquell. Aber ihre Sprache ist keine menschliche. Ihre Lobgesänge lassen sich nicht angeben. Es sind kaum Stimmen, die singen, die den Urquell heiligen. Bei den Engeln herrscht ein ewiger Ton, ein ewiges Wort, das sich ausspricht und ausgesprochen wird, das – wäre es nur einen Moment lang stumm, alle Wirklichkeit sich ineinanderfalten und verschwinden würde – alles, was ist, im Sein erhält. 

Ihre Chöre verlauten diesen Grundton und Variationen von ihm. Es ist dies eine Sprache, welche die Seele von Grund auf verändert, würde diese jene einmal hören. Die Engel singen in ihrem Chor. Fortwährend füllt sich der Weltraum mit dem Licht ihres Lobgesangs. Engel lobpreisen den Urquell, aber es ist dies mehr als ein bloßes Preisen, viel mehr. Ihre Sprache ist kein Reden. Sie ist eine Sprache ohne Sätze, eine Sprache, die nur ein einziges Wort kennt, durch das aber die ganze vielfältige Wirklichkeit, in der wir leben, hervorbricht. Ihre Sprache ist das, was die Zeugung eines Kindes bewirkt, sie ist der Götterlebensfunke, der Totes in Leben umwandelt. Ihre Sprache ist der Blitzeinschlag, der ein Feuer entfacht; sie ist die Berührung, die jemanden aus einem Schock befreit und hierher zurückholt; ihre Sprache ist das erste Mal, wenn wir ein Haus betreten; sie ist der erste Schluck Kaffee, den ich getrunken habe; sie ist die Wiederbegegnung mit einem Menschen, den wir zum ersten Mal sehen. Ihre Sprache ist unser Erwachen am Morgen. Sie ist ein Wort, das sich fortlaufend in und als die Welt ausgießt. Ihre Sprache ist Kern und Umkreis der Wirklichkeit, die in einem geballten Punkt sich selbst ausspricht und dadurch die Welt und uns in die Existenz versetzt. Durch ihre Sprache, die letzten Endes die des Urquells ist, werden Fluten in Bewegung gesetzt, füllen sich die Meeresbecken mit Wasser und alle Flüsse ziehen sich kraft dieser Sprache durch das Festland. Die Fische und alles Leben im Wasser, auf der Erde und am Himmel regen sich, weil in nächster Nähe des Urquells die Engel das ursprüngliche Wort sprechen, und indem sie es sprechen, sind sie zugleich. Sie führen ihren Gesang berufen und in ständiger Andacht versunken fort, führen ihn fort, ihr eingegebenes Wort, solange in der Welt irgendetwas existieren wird.


Andreas Blaser (*1993) hat im Rahmen eines Stipendiums der Anthroposophischen Gesellschaft Deutschland über Kontemplation geforscht. Dabei sind Texte entstanden, die selbst kontemplativ sind. Wir veröffentlichen im kommenden Halbjahr hin und wieder Beiträge aus seiner Sammlung. Er lebt und arbeitet derzeit in Basel.


Bild Engel von Rik ten Cate in seiner Ausstellung der 52 Bronzeskulpturen im Goetheanum. Foto: Xue Li

Print Friendly, PDF & Email

Letzte Kommentare