Zwischen Anthroposophie und Kirche

Wolfgang Gädeke erzählt in seinem Buch die Entstehung der Christengemeinschaft neu. Er seziert Mythen, ordnet Quellen und zeigt Rudolf Steiners prägende Rolle jenseits bloßer Beratung. Zugleich zeichnet er Steiners Weg vom Freigeist zum religiösen Denker nach.


Vor 103 Jahren, im September 1922, wurde die Christengemeinschaft von 45 Theologen, Pfarrern und Studierenden gegründet. Rudolf Steiner stand dabei mit Rat und Tat zur Seite, ohne selbst Mitgründer zu sein. Aber seine Beteiligung war für ihn doch so besonders, dass er später öffentlich bekannte: «Ich selbst muss, was ich mit diesen Theologen in dem kleinen Saale des Südflügels, in dem später der Brand zuerst entdeckt worden ist, im September 1922 erlebt habe, zu den Festen meines Lebens rechnen.»

Nun liegt die Geschichte dieses Gründungsgeschehens im Detail vor. Auf über 1200 Seiten beschreibt Wolfgang Gädeke das ‹Schicksalsdrama› des Werdens der Christengemeinschaft. Diese Ausführlichkeit findet ihren Grund einerseits in der Komplexität des Geschehens, andererseits wohl auch in der notwendigen Klärung von Missverständnissen und der Widerlegung von Verleumdungen dieser religiösen Erneuerungsbewegung, die aus dem «mangelnden Bedürfnis nach dem Erkenntnisweg» entstanden sei für diejenigen, «die noch nicht stark genug sind für die Erarbeitung der Geisteswissenschaft» (Marie Steiner 1923 u. 1928). Diese Darstellung von Marie Steiner führte in den folgenden Jahrzehnten und bis heute zur «unseligen Lehre von den zwei Wegen in die geistige Welt». Der Urpriester Johannes Werner Klein hatte deswegen Marie Steiner sogar der Geschichtsfälschung bezichtigt.

Die entscheidende Frage

Der Christengemeinschaftspriester Wolfgang Gädeke geht nun nüchterner vor: In minutiöser, quellenkritischer Untersuchung legt er alle Dokumente und einzelnen Etappen der Vorgeschichte der Eingabe vom 22. Mai 1921 an Rudolf Steiner vor. Die Studierenden Johannes Werner Klein, Gertrud Spörri, Ludwig Köhler und Gottfried Husemann haben damals eine Anfrage über religiöses Leben und kirchliche Institutionen formuliert, die als Ursprungsdokument der Christengemeinschaft gilt. Diese ‹Gründungsfrage› hatte eine Vorgeschichte, die Gädeke immer wieder aufgreift: Wer von den frühen Beteiligten hat wann und wo immer wieder die ‹entscheidende Frage› an Rudolf Steiner zu stellen versäumt, von 1916 bis 1921. – Wie wenn man bloß zu fragen hätte, und ‹der Doktor› gibt quasi als Antwort-Automat reflexartig die gewünschten Auskünfte; und wie wenn Steiner nicht von sich aus hätte aktiv werden können. Immerhin hatte er gegenüber dem Altkatholiken Hugo Schuster bereits 1918 das Bestattungsritual als «gar zu kläglich» bezeichnet und in der Folge von der Notwendigkeit der Erneuerung des religiösen Lebens gesprochen, neue Rituale formuliert und übergeben. Und immerhin geht Gädeke sogar so weit, diese Tatsachen schon dem Beginn der Christengemeinschaft zuzurechnen.

Rudolf Steiners Weg zum Christentum

Im ersten Kapitel geht der Verfasser noch einen Schritt zurück und beschreibt auf ganzen hundert spannenden Seiten Steiners Weg zum Christentum und zur Religion, aufrichtig und ohne Schönrederei. So betont und belegt er etwa mutig die Unvereinbarkeit von Steiners frühen freigeistigen Positionen der 1880er- und 1890er-Jahre mit den späteren, esoterischen Auffassungen. Es ist ein Gang durch das gesamte schriftliche und in Vorträgen gehaltene Werk unter dem Blickwinkel der Entwicklung von Steiners religiösem Verständnis – ein Gang, der sich fast wie eine Einführung in Steiners geistige Entwicklung überhaupt liest. Dabei tritt Gädeke von Amtes wegen als Anwalt des religiösen Lebens an und verteidigt dieses gegen das rein Gedankliche des Meditationswegs der Geisteswissenschaft. Denn das religiöse Leben sei in der anthroposophischen Bewegung «unterbelichtet».

Zur Vorgeschichte der Gründung gehören auch biografische Abrisse der Gründergestalten (Friedrich Rittelmeyer, Christian Geyer, Emil Bock, Rudolf Meyer, Johannes Werner Klein, Gertrud Spörri, Hermann Heisler), die der Verfasser in historischen Miniaturen anschaulich liefert. Dabei fällt der bisweilen naive Enthusiasmus dieser Gründergeneration auf. Uns Nachgeborene, die wir unsere Erfahrungen mit den Höhen und Tiefen der anthroposophischen Bewegung gemacht haben, mag es befremden, mit welch terminologischer Sicherheit und welch weltanschaulicher Überzeugung damals vorgegangen wurde. So wurden etwa bestimmte Teilnehmer des ersten Theologenkurses in einer für Steiner angefertigten Liste rundweg als «Anthroposophen» bezeichnet (gemeint sind wohl Mitglieder der Anthroposophischen Gesellschaft) und Bedenken wegen allfälliger sozialer Spannungen und weltanschaulicher Differenzen wurden schlicht unter Berufung auf die ‹Philosophie der Freiheit› und auf das «freie Geistesleben» in den Wind geschlagen.

Generationenkonflikt

Unter den Gründern gab es einen schwelenden Konflikt zwischen den jungen, forsch zur Tat Drängenden und den älteren Bedächtigen. Der erste Kurs (Juni 1921) war von 18 Studierenden ins Leben gerufen worden, die darauf beharrten, dass die Altersobergrenze 30 Jahre sei. Das ließ sich in der Folge nicht aufrechterhalten, wenn auch die renommierten evangelischen Pfarrer Rittelmeyer (49) und Geyer (59) mitmachen sollten.

Am zweiten Kurs (Herbst 1921) nahmen dann schon 107 Personen teil, darunter 28 Pfarrer (fast alle evangelisch, einer katholisch, einer altkatholisch) und 32 Studenten der Theologie. Es waren auch sechs Frauen dabei, für Steiner von Anfang an eine egalitäre Selbstverständlichkeit (Bock sah das zeitlebens weniger entspannt). Die Teilnehmer erklärten in einem Anmeldezettel, in sich den Trieb zu fühlen, «an der Erweckung neuen religiösen Lebens zur Überwindung der heutigen Niedergangskräfte mitzuarbeiten, und dieses Ziel in einer neuen Synthese von Kultus und christlichem Lehrgut zu erreichen».

Christian Geyers Absage

Gädeke erzählt – ebenfalls ausführlich und anschaulich – von dem Jahr zwischen dem zweiten Theologenkurs und der Gründung im Herbst 1922, das angefüllt war vom öffentlichen Einsatz einzelner Beteiligter für die neue Bewegung und von Bemühungen zu Gemeindegründungen in ganz Deutschland. Dieses Jahr war wesentlich geprägt vom Ringen Christian Geyers. Zusammen mit Rittelmeyer und Bock war dieser von Steiner «im Einklang mit den geistigen Welten» für die Dreierleitung vorgesehen. Doch der «unverbesserliche Protestant» – so Rittelmeyer über seinen Freund Geyer – war eine durchwegs unkultische Natur und kämpfte mit seinem Entscheid für oder gegen ein Mitgehen. Zwar war er mit Steiner und der Anthroposophie eng verbunden und hielt es auch für möglich, dass die Rituale aus der höheren Welt empfangen worden seien. Doch bei aller innerlichen Aufgeschlossenheit hat er das «Wehen des Pfingstgeistes» nicht gespürt. Rittelmeyer und später ähnlich auch Steiner gegenüber bekannte er: «Es steht etwas Gebieterisches im Wege: du darfst das nicht tun!» Theologischer Hintergrund seiner Absage war wohl, dass er seine ‹theologia crucis› und Gnadenreligion nicht mit der seines Erachtens katholisierenden ‹theologia gloriae› und dem Heiligungsanspruch der Christengemeinschaft vereinen konnte. Diese Absage hat die Geburtsstunde und das Werden der Christengemeinschaft wesentlich bestimmt und belastet. Geyer wäre, so Gädeke, mit seiner gesunden, heiteren Menschlichkeit «eine wunderbare Ergänzung für den ernsten, kränklichen Mystiker Rittelmeyer und zu dem vorwärtsdrängenden Willensmenschen Bock gewesen». So musste das kurz darauf stattfindende Vorbereitungstreffen in Breitbrunn und schließlich die Gründung der Christengemeinschaft im September 1922 in Dornach ohne diesen renommierten Theologen und Prediger stattfinden.

Rudolf Steiners Beteiligung

Gädeke beschreibt minutiös, wie Steiner bei der Geburt der Christengemeinschaft durch die Priesterweihen und den erstmaligen Vollzug der Menschenweihehandlung beteiligt war.

Den Kultus der Menschenweihehandlung hat Steiner zuerst (bloß in Zivil) demonstrativ vorgeführt. Danach ist er selbst kultisch handelnd aufgetreten: Er hat die Altarbilder gesegnet, die Kerzen des Leuchters angezündet und dann durch Gesten und Worte die Priester gesegnet. Bei der ersten Weihe überhaupt legte Steiner Friedrich Rittelmeyer die Stola um, bekleidete ihn mit der Casula, vollzog die Salbung mit Öl und sprach unter Handauflegung die Worte der Aussendung. Gädeke bezeichnet das als Moses-Tat, denn Steiner «vollzog als Nicht-Priester an Rittelmeyer das, was Moses als Prophet an seinem Bruder Aaron vollzogen hatte». Dies geschah ohne Anknüpfung an die «apostolische Sukzession», die die Gültigkeit der Weihe durch eine ununterbrochene Linie bis hinauf zu den Aposteln behauptet. Denn Steiner betonte, dass die Weihehandlung «unmittelbar aus der geistigen Welt empfangen sei» und dadurch eine äußere Sukzession nicht mehr nötig sei. Während Rittelmeyer dann die erste vollständige Menschenweihehandlung vollzog, stand Steiner mit dem Gesicht zur Gemeinde neben dem Altar und griff mit Hand und Wort auch in das Geschehen ein. Das alles war weit mehr als nur eine «beratende» Tätigkeit, wie sie gemeinhin Rudolf Steiner zugeschrieben wird und wie sie Steiner auch selbst als eine solche bezeichnet hat. Sogar bis in personelle Fragen hinein (Priesterweihen, Oberlenker, Erzoberlenker) hat Steiner nicht bloß beratend, sondern entscheidend gewirkt.

Ein schwieriges Gesellschaftsverhältnis

Ein zentraler Fokus des Buches liegt im Verhältnis zwischen Christengemeinschaft und Anthroposophischer Gesellschaft, das von Anfang an ungeklärt war und schon wenige Monate nach der Gründung der Bewegung für religiöse Erneuerung zu dramatischen Situationen geführt hatte. Zweige gingen unter Führung ihrer Leiter geschlossen in die Menschenweihehandlung, viele betrachteten diesen Kultus nun als ‹Krone› der Anthroposophie. Es gab Austritte aus der Gesellschaft bzw. Übertritte in die Christengemeinschaft, sodass Steiner sich veranlasst sah, am 30. Dezember 1922 (am Vorabend der Brandnacht!), mit harschen Worten die Anthroposophen ins Lot zu bringen. Dieser Vortrag hat dann (z. T. bis heute) wiederum viel Verwirrung angerichtet und Steiner musste in weiteren Vorträgen die Scherben kitten. Er nannte die Christengemeinschaft eine Tochterbewegung der Anthroposophischen Bewegung und betonte ihre Berechtigung innerhalb des Geisteslebens.

Wolfgang Gädeke hat zwar als Priester mit einer naturgemäß wohlwollenden Innensicht geschrieben, aber dennoch eine konsequent quellenkritische und nirgends beschönigende Darstellung vorgelegt. Selten trifft man in der anthroposophischen Literatur die Bereitschaft und Fähigkeit an, etwa zwischen zeitgenössischen Quellen, zweckgerichtetem Sprechen, Fremdberichten, rückblickenden Interpretationen usw. sorgfältig zu unterscheiden und zu gewichten. In enormer Recherchearbeit hat der Autor bisher unbekanntes Material gesammelt und mit bewundernswerter Zusammenschau ausgewertet. Ein Werk, das in seiner Methode Vorbild sein sollte für anthroposophische Forschung und Publizistik.


Buch Wolfgang Gädeke: Die Gründung der Christengemeinschaft. Ein Schicksalsdrama. 2 Bände. Verlag Urachhaus, Stuttgart 2024

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