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Zukunftskeime im Chaos

Wie eine kleine, ruhevolle Oase ist Bait al Shams (Haus der Sonne), der erste Waldorfkindergarten mitten im Gewühl und Chaos des größten Flüchtlingslagers im Libanon, Sabra-Shatila. Seit zwei Jahren gehen in Bait al Shams täglich 60 Kinder ein und aus und werden in drei Gruppen von sieben Erzieherinnen betreut. Fünf von ihnen erhielten im November 2017 ihr Zertifikat für den erfolgreichen Abschluss eines zweieinhalbjährigen Kurses in Waldorf Early Childhood Education. Bernhard Merzenich führt uns in ein Flüchtlings­lager, wo die Waldorfpädagogik auch zu Hause ist.


Kindergarten im Flüchtlingslager


Draußen vor dem Kindergarten

Draußen vor dem Kindergarten

Wie viele Menschen in diesem ungefähr vier Quadratkilometer großen Stadtteil Beiruts leben, ist nicht ganz klar. Sind es 20 000 oder 30 000? Auf jeden Fall, sie leben dort, auf engstem Raum, mit wenig Licht und wenig frischer Luft – es gibt viel Smog. Dreimal am Tag wird der Strom für ein paar Stunden abgeschaltet, dann laufen die Generatoren. Aus den Wasserhähnen fließt salziges Meerwasser. Es wird gehandelt, gekauft, verkauft, geschlachtet, genäht, gebacken, gekocht, Kaffee getrunken, Karten gespielt, es wird gezankt, gelacht und gefaulenzt, gearbeitet und gebetet, meistens auf der Straße, im Labyrinth der engen Gassen, zwischen Unrat und Dreck, in zahllosen Buden und Geschäften, in Marktständen und kleinen Werkstätten, wo Mopeds, Computer oder Möbel repariert werden. Dazwischen zahllose Kinder, teils adrett gekleidet, teils barfuß und vernachlässigt. Viele gehen weder zur Schule noch in den Kindergarten, da die Eltern das Geld dafür nicht aufbringen. (Auch die öffentlichen Einrichtungen im Camp kosten Gebühren.)

Sabra-Shatila ist eines von drei Flüchtlingslagern in Beirut, in welche Tausende Familien mit der ‹Nakba› (der Flucht und Vertreibung von etwa 700 000 Palästinensern aus ihrem Heimatgebiet anlässlich der Staatsgründung Israels im Jahr 1948) in die Nachbarländer – Syrien, Jordanien, Libanon – auswichen. Nach beinahe 70 Jahren im Libanon fühlen sich etliche noch immer als Flüchtlinge, als Fremde, die in ihre Heimat, die sie nie gesehen haben, zurückkehren wollen. Im Camp gibt es zahlreiche ngos, die sich engagieren für medizinische Versorgung, soziale Arbeit, Betreuung und Bildungsangebote für die vielen Kinder. Die Schulen im Camp werden von der unrwa (Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten) finanziert, die Lehrkräfte und Mitarbeiter sind in der Regel Araber. Das Schulsystem ist restriktiv und auf niedrigem Niveau. Viele Hilfsorganisationen sind politisch motiviert. Das Camp wird heute zunehmend bevölkert mit Flüchtlingen aus Syrien. Die sozialen Spannungen und Nöte nehmen dadurch zu, was sich unter anderem auf die Kinder, auf ihr Verhalten und ihre psychische und leibliche Gesundheit auswirkt.

Steigt man die Treppen zum Kindergarten hinauf in das 4. und 5. Stockwerk eines Hinterhauses, empfangen uns helles, warmes Licht, farbige Wände, saubere, gepflegte Räumlichkeiten, eine ruhige Atmosphäre. Kein Geschrei kommt aus den drei Gruppenräumen, auf der Dachterrasse (6. Stockwerk) spielt eine Gruppe im Sandkasten, an der Schaukel, auf dem Klettergerüst, fröhlich, unbeschwert, heiter. In den Gruppen wird gespielt, mit Puppen und Bauklötzen, mit Tüchern und Naturmaterialien, es wird gemalt, gebacken, gewebt und geknetet, Reigen und Geschichten mit Tischpuppen gehören dazu, wie die Mahlzeiten und das Aufräumen. Nach dem Essen und einem Abschlussprogramm kommen um 13 Uhr die Eltern und Geschwister und holen ihre Kleinen ab. Viele Eltern sind dankbar für diese außergewöhnliche Pädagogik, die ihre Kinder hier erfahren dürfen.

Qualifizierte Menschen ausbilden

Die Konzeption der Waldorfpädagogik in Bait al Shams begann im Frühjahr 2015. Nach der ersten Orientierung wurde das Team zusammengestellt, welches die Leitung der Gruppen und des Betriebes übernehmen wollte. Bevor die ersten Kinder im Oktober 2015 die neu gestalteten Räume betraten, hatten die künftigen Erzieherinnen drei Module einer waldorfpädagogischen Grundausbildung durchlaufen, womit sie auf die neue anfängliche Aufgabe vorbereitet wurden. Der Schwerpunkt lag dabei auf der Methodik und Didaktik der Vorschulerziehung, begleitet im Hintergrund von Menschenkunde und Entwicklungspsychologie des ersten Jahrsiebts.


Das Team der Kindergärtnerinnen

Das Team der Kindergärtnerinnen

Im November 2017 konnten fünf Erzieherinnen in einem internen Prüfungsverfahren (Assessment) ihrer waldorfpädagogischen Ausbildung eine vorläufige Zäsur geben. Mit Präsentationen aus der Grundlagenarbeit (Menschenkunde, Sinneslehre, Entwicklung des Kindes, Wesensglieder), aus der Methodik-Didaktik und aus dem Bereich der künstlerischen Übungen (unter anderem Malen, Eurythmie, Storytelling) konnten die Kolleginnen ihre Verbindung und Identifizierung mit dieser für alle neuen Pädagogik dokumentieren. Die Ergebnisse des Assessments waren für alle Beteiligten sehr befriedigend.

Die Ausbildungsmodule wurden allesamt von Waldorferzieherinnen und einem Dozenten für Waldorfpädagogik, Heilpädagogik und Eurythmie durchgeführt. Alle ‹Trainer› haben Vorerfahrung mit Schulungskursen im Ausland, insbesondere im arabischen Kulturkreis. Das ‹Early Childhood Training› in Bait al Shams wird fortgesetzt, mit mindestens drei Modulen pro Jahr, um künftige Mitarbeiterinnen zu qualifizieren und mit Weiterbildungsangeboten die Qualität der Pädagogik zu sichern und weiterzuentwickeln.

Etwas Menschheitliches

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Offensichtlich wird dabei, dass ein spirituelles Menschenbild, wie es der Waldorfpädagogik zugrunde liegt, kein zeit- und kulturgebundenes Konstrukt einer reformpädagogischen Bewegung ist, sondern etwas Allgemeinmenschliches, Menschheitliches.

Ist es möglich, qualifizierte Waldorfpädagogik in einem solchen Umfeld zu realisieren? In welches Verhältnis können muslimische Frauen aus palästinensischen Familien auf relativ begrenztem Bildungsniveau und auf dem Hintergrund starker Traditionen zu den Grundgedanken der Waldorfpädagogik, der Menschenkunde Rudolf Steiners gelangen? Diese Fragen begleiten uns ständig auf dem Weg, den wir begonnen haben.

Dabei wird deutlich, dass es nicht um eine zu erlernende, kopierbare Methode gehen kann, nicht um das Annehmen einer Theorie bzw. von intellektuell vorstellbaren Inhalten. Es soll darum gehen, gute erzieherische Arbeit zu leisten! Und das können wir mit der Waldorfpädagogik. Und sie beruht nun einmal auf einer differenzierten Kenntnis des Kindes und seiner Entwicklungsbedingungen und den daraus sich ergebenden pädagogischen Handlungsleitlinien.

Die Muslimas in Bait al Shams arbeiten aus Liebe zu den Kindern und aus Liebe zu ihrer Arbeit. Mit diesem Potenzial wird ihr Blick offen für ein Erkennen der Kindesnatur, sodass selbst Themen wie ‹vorgeburtliche› oder ‹nachtodliche› Existenz kein Tabu sind, wo Vererbung und Individualität, Bewusstseinsentwicklung und Evolution Gedanken sind, die sich an der liebevollen und genauen Beobachtung unserer Kinder ablesen lassen. Dreigliederung und Wesensgliederkunde können so in ihren Grundgedanken gedacht, erlebt und konkretisiert werden, wenn sie anknüpfen an die täglichen Erfahrungen mit den Kindern und mit sich selbst.

Offensichtlich wird dabei, dass ein spirituelles Menschenbild, wie es der Waldorfpädagogik zugrunde liegt, kein zeit- und kulturgebundenes Konstrukt einer reformpädagogischen Bewegung ist, sondern etwas Allgemeinmenschliches, Menschheitliches. In jeder Zeit und Epoche, in den verschiedenen Kulturen und Religionen dieser Welt findet es auf eigene Art seine Wirklichkeit und Wirksamkeit.

Zukunft mit Unsicherheit

Wir schauen mit Sorge auf die jüngsten politischen Entwicklungen im Libanon. Wieder einmal steht das Land ohne eine funktionierende Regierung da. Eigentlich nichts Ungewöhnliches für die krisengeschüttelte Nation, die im Kreuzfeuer rivalisierender Politclans nicht viel Widerstand bieten kann. Die Verunsicherung der Menschen ist seit den 70er-Jahren zum Dauerzustand geworden und prägt die Seelen der Menschen, ihr Sozialverhalten, ihre Wünsche und Perspektiven. Und für Palästinenser im Libanon gibt es wenig zu wünschen und zu planen.

Wir legen mit Bait al Shams einen Keim, der die Kraft haben könnte, neue Entwicklungen in den Seelen der Menschen anzustoßen. Schon sind die ersten Gedanken über den Aufbau eines zweiten Kindergartens angeklungen. Eltern, Kinder, Pädagogen tragen neue Ideen, Erlebnisse, Impulse aus unserem Kindergarten weiter. Wo werden sie einmal ankommen, oder ist es nur ein Tropfen auf den heißen Stein?


www.justchildhood.org

Fotos vom Autor

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