Werkstatt Anthroposophie: Die Entwicklung der menschlichen Sprache durch die Kulturepochen bis heute ist ein Wunder. Im ‹Ich›, das fleischgeworden ist, zeugt sich die Möglichkeit, das Geistige selbst zu erkennen. Damit kann ein neuer Turm von Babel gebaut werden.
Sprache ist ein Zauberding. Ich bewundere immer wieder, wie eine Katze eine Silbe ‹Miau› so intoniert, dass sie die unterschiedlichsten Gefühle sowie Intentionen ausdrücken kann. Dieses Einzel-Silben-Prinzip könnte man als das Urprinzip der Sprache bezeichnen, das sich auf das Klang-Prinzip bezieht und auf die Entstehung der Sprache zurückgeht, die für eine völlig neue Entwicklungsstufe der Menschheit steht.
«Die atlantische Zeit ist daher auch diejenige, in welcher die Sprache ihre Entwicklung fand.»1 Die anfängliche Klangsprache lässt sich als Zaubersprache erkennen: Das Wesen lebt noch im Klang und erzeugt denselben Klang. Der Klang kann auch das in ihm lebende Wesen wachrufen – also die ganze Seele wird zu den unzähligen schwingenden Saiten, die Spielenden sind die mannigfaltigen Wesen. Deshalb kann Sprache Erkrankungen heilen oder Flüche erzeugen. Der Mensch spricht, als ob die Wesen durch seinen vibrierenden Kehlkopf sprächen und er nur lauschte. Es lebt darin ein schlummerndes Ich-Bewusstsein2.
Dieser Kerncharakter der Ursprache ist im Chinesisch noch enthalten. «Ich möchte sagen, daß ein grandioses Denkmal von der Mitte der atlantischen Kultur zurückgeblieben ist, und das ist die chinesische Sprache», beschrieb Rudolf Steiner.3 Im Chinesischen hat jedes Wort nur einen Klang, nämlich eine Silbe mit einer untrennbaren Melodie beziehungsweise eine Melodie mit einer untrennbaren Silbe.4 Jeder Klang entspricht vielfältigen Wörtern, nämlich Bildzeichen und Bedeutungen, die doch etwas Gemeinsames haben, das sich auf das Wesen dieses Klangs bezieht.5 Ihre Schriftwelt ist zunächst unmittelbar aus der Bildwelt anstatt aus der Klangwelt geschaffen6 und dann eine komplizierte Kombination der beiden Welten geworden. Der Klang ist also nicht, so wie in den späteren Sprachen, in Laut und Ton zerstückelt. Er bleibt noch als ein Ganzes, als ein lebendiger Organismus.
Da der Klang überirdisch und ‹unbegreifbar› ist, können und wollen die Chinesinnen und Chinesen keinen reinen Begriff entwickeln und kennen eine reine Begriffswelt im Sinne Platons (noch) nicht. Sie ‹begreifen› das Wesen der Dinge nicht, sondern erleben und beleben es durch Klang und Bild. Sie und die Wesen der Dinge sind noch eins. «Das Eigentümliche aber bei diesen Chinesen, das ist eben, daß sie gar nicht in Begriffen denken können, sondern nur in Bildern; aber dann versetzen sie sich in das Innere der Gegenstände hinein.»7 Diese Kultur ist immer noch dem Ursprung nahe und daher frisch und lebendig, zugleich jedoch das Ich-Bewusstsein opfernd.8
Selbständige Innerlichkeit
Die große Katastrophe, die Sintflut, die in vielen Kulturen überliefert wird, hat die Menschheit weiter nach innen gedrängt, sodass die alten Inder zum ersten Mal in der Menschheitsentwicklung eine selbständige Innerlichkeit ausbilden konnten. Dafür mussten sie alle ihre Sinne, also alle Tore der Seele, verschließen und verloren deshalb den Zugang zur Außenwelt bzw. zum Irdischen. Durch lebenslange Meditation lebten beziehungsweise schwebten die alten Inder im verinnerlichten Ätherischen und waren unfähig, sich ins Irdische zu inkarnieren. Sie lebten so tief in der Klangwelt, dass sie glaubten, das Universum sei aus dem Klang geboren. Dieser Klang ist aus der von der Innerlichkeit entzündeten Ich-Welt- und dem im Ätherischen entfalteten zeitlich-räumlichen Bewusstsein zur größtmöglichen Vielfalt metamorphosiert, was sich in der Sanskrit-Grammatik kristallisiert. Da ihnen irdische Kräfte mangelten, konnten oder wollten sie die Schrift nicht erfinden.
Die Keilschrift
Der erste Versuch, die Klangwelt in die Schriftwelt zu verwandeln, findet sich in der die Sinne auf gewaltige Weise wieder öffnenden altpersischen Kultur, nämlich in der Erfindung der Keilschrift. Diese Schrift ist etwas Irdisches, sowohl von der Qualität als auch von der Substanz her – sie wurde auf Tontafeln geschrieben. Im Epos ist Gilgamesch zu zwei Dritteln göttlich und zu einem Drittel irdisch und deswegen sterblich. Die Schrift ist ebenfalls eine Art von Sterben. Ja, der himmlische Klang muss in den irdischen Laut und Ton zerlegt werden, um ins Irdische/Körperliche inkarnieren zu können. Das Wesen lebt im Klang, dagegen das Ich im Laut und Ton. Dennoch waren die alten Perser noch nicht in der Lage, über eine ‹reife› Räumlichkeitsempfindung zu verfügen, was verhinderte, ein effizientes und ökonomisches Bild für die Silbe bzw. den Laut schaffen zu können. Diese Herausforderung wurde zuerst von den alten Ägyptern gemeistert, die zutiefst in der heiligen Geometrie lebten. Im Osiris-Mythos wird das ‹Getötetsein› und ‹Zerstückeltsein› des Klangs sinnbildhaft vorbehalten. Das Prinzip der Hieroglyphen lautet: Jeder Klang, dann jeder Silbenlaut, dann jeder Vokal oder Konsonant ist an ein bestimmtes Bild und später an ein Bildzeichen ‹genagelt›. Und umgekehrt gilt es auch: Ein Bildzeichen und später ein Buchstabe ist ausschließlich mit einem Laut verbunden. Es kommt zu einem entscheidenden Schritt in der ganzen Sprachentwicklung: Das Inkarnieren des sprechenden Ich ins Sprachorgan wird durch die Bildgestaltungskraft erfüllt, wodurch die Bildgestaltungskraft selbst ebenfalls verstärkt und ins Materielle eingepflanzt wird. Nun werden Pyramiden aus Stein statt aus Ton gebaut. Die daraus geborene Schriftwelt wird zur Symbolisierung der Lautwelt und einer auf einer höheren Ebene stehenden materialisierten Verschmelzung zwischen Bildwelt und Klangwelt, was eine notwendige Vorbereitung für die Entwicklung des Denkvermögens war. Die alten Ägypter konnten nicht weitergehen. Sie lebten im heiligen Empfindungsschimmern und waren nicht imstande, rein zu denken. «Die ägyptischen, chaldäischen Menschen in der dritten nachatlantischen Kulturperiode fühlten sich als Empfindungsseele […] man gibt gar nichts darauf, Gedanken zu haben […]»9
Das Wort wird Fleisch
In der Geometrie haben die Griechen, zum Beispiel Euklid, die heilige Empfindung der Räumlichkeit der Ägypter abstrahiert. Auch die ‹heilige Schrift der Hieroglyphen› ins griechische Alphabet übertragen, haben sie entzaubert beziehungsweise intellektualisiert. Sie – zuerst die Vorsokratiker – beginnen zu denken. Sie tauchen aus der Welt der Elementarwesen der Natur auf und in die Materie ein, auf der Suche nach dem Urgrund aller Dinge. Von nun an dient die Sprache als Denkmittel und trägt die Denksubstanz.
Die Taufe des Johannes und das Mysterium von Golgatha haben das Wesen der Sprache völlig enthüllt – das ‹Wort› wird Fleisch, wird Mensch, das I(esus)-CH(ristus). Nun steht das ‹Ich› im Zentrum der kosmischen Entwicklung. Jede Kultur und jedes Individuum muss sich mit dem Christus-Impuls auseinandersetzen. Das heißt, der Volksseele und der individuellen Seele wird die Möglichkeit verliehen, einen geistigen Kern zu gewinnen. Die Sprache ist einerseits das Mittel zum Individualisieren, andererseits das Mittel zum Erkennen des Geistigen selbst. Sie wird zum Ort, an dem die kosmische Entwicklung weitergeführt werden kann.
«Vier Buchstaben bezeichnen mir Gott; einige Striche eine Million Dinge. Wie leicht wird hier die Handhabung des Universums, wie anschaulich die Konzentrizität der Geisterwelt!»10 Die 26 Buchstaben im lateinischen Alphabet als Grundelemente der Lautsprache sind eine notwendige Grundlage für die Neuzeit, in der die Nationalsprachen in Westeuropa ihren Ausgangspunkt gefunden haben. Wie sieht die Zukunft der Sprache vor dem Hintergrund der Künstlichen Intelligenz (KI) aus? Ist sie noch in der Lage, das Geistige zu tragen, zu verkörpern, auszudrücken und weiterzuentwickeln? Diese Fragen sind brennend und aktueller denn je. Meiner Ansicht nach kann die aus der deutschen Sprache geborene Eurythmie als ein wesentliches Forschungsmittel zur weiteren Sprachentwicklung dienen. Aber wie kann sich dieser Eurythmie-Geist zunächst daraus befreien lassen, wie die Farbe aus der Malerei?11
Es ist an der Zeit, dass das individuelle Ich, der Muttersprache entsprungen und den eigenen Muttersprachgeist erkannt habend, auf einer höheren Ebene mit diversen Sprachgeistern zusammenarbeiten kann. Dadurch kann es die Zwischenräume, die Zwischenphasen der Sprachentwicklung, öffnen, in denen sich die Sprachgeister erfrischen, erneuern, inspirieren und sogar neue Sprachgeister geboren werden können. Dann sind wir Menschen nach Überwindung der Sprachverwirrung vorbereitet, den Turm zu Babel zum zweiten Mal zu bauen.
Bild Die Schriftentwicklung im Chinesischen (oben) und in den nachatlantischen Sprachen (unten) am Beispiel «Fisch», Hao Bu.
Fußnoten
- Rudolf Steiner, Aus der Akasha-Chronik. GA 11, Rudolf Steiner Verlag, Dornach/Schweiz 1990, S. 34.
- Hao Bu, Das chinesische und deutsche Ich. Goetheanum 44/2024, S. 13.
- Rudolf Steiner, Die Schöpfung der Welt und des Menschen. Erdenleben und Sternenwirken, Band VIII. GA 354, Vortrag vom 12.7.1924.
- Hao Bu, Auferstehung der Sprache. Anthroposophie weltweit 3/2023, S. 2.
- Siehe 2.
- Hao Bu, VIII, 8 und 八 . Die Drei 1/2025, S. 118 f.
- Siehe 3.
- Siehe 2.
- Rudolf Steiner, Bewußtseins-Notwendigkeiten für Gegenwart und Zukunft. GA 181, Vortrag vom 9.7.1918.
- Novalis, Vermischte Bemerkungen/Blüthenstaub (1797/98), Nr. 2.
- Siehe 4.
Hi Hao Bu!
Super Artikel, wirklich gut!
💮 Gilgamesch-Epos ist IraK nicht IraN.
Das ist immer ein Problem. Kein Mensch kann Babylonisch, Assyrisch und Sumerisch auseinanderhalten, ist auch egal. Aber Persien ist das jedenfalls nicht. 😄
💮 Die griechische Schrift entwickelte sich aus dem phönizischen Alphabet, nicht aus den ägyptischen Hieroglyphen.
Das ist aber noch viel interessanter, denn wir haben (mindestens) zwei Schriftformen davor, Linear A und Linear B, das sind Silbenschriften. So in dieser Zeit entstehen auch die ersten epischen Gesänge, aufgeschrieben wurden sie jedoch nicht.
Dann stirbt die Schrift, die ganze Palastkultur, die in der Ilias besungen wird, stirbt, es sterben sicherlich auch Menschen, vermutlich sterben sogar sehr, sehr viele Menschen. Und die homerischen Gesänge wehen einfach ein paar Jahrhunderte lang durch die Lüfte. 🔥
Dann kommt das Bemerkenswerte: Irgendwelche Menschen, vielleicht Rhapsoden der homerischen Epen, nehmen das phönizische Alphabet, eine reine Konsonantenschrift wie das Hebräische, und machen daraus eine Vollschrift mit Vokalen und Konsonanten, und zwar die erste Vollschrift der Welt.
💮 Alle Vollschriften mit Vokalen und Konsonanten, auch die lateinische Schrift, die ich gerade verwende, sind eine Umformung der ersten griechischen Vollschrift.
Nun entsteht dieser Prozess aber nicht einmalig, wir sind ja in Griechenland, wo jeder macht, was er will; an verschiedenen Orten werden (leicht) unterschiedliche griechische Schriften entwickelt. Das Grundprinzip ist identisch, dennoch gibt es Unterschiede, auch in den Buchstaben. Erst nach Jahrhunderten (Jahrtausenden) hat man sich auf eine Schrift geeinigt, so wie man die griechischen Buchstaben heute im Schulbuch findet. 📚
Es gibt also nicht nur zeitliche und räumliche Dialekte in der griechischen Sprache, es gibt sie auch in der Schrift. Egal, denn: Vieles gibt’s übersetzt bei Reclam, einfach lesen und Spass haben. 📖