Zum Tod von Margot Friedländer
«Versuche, dein Leben zu machen» waren die letzten Worte ihrer Mutter 1943 an einem kalten Januartag, wie Margot Friedländer schreibt. Am Vormittag des Tages wurde ihr Bruder in der Familienwohnung in Berlin verhaftet. Als ihre Mutter eine Stunde später nach Hause kommt, erfährt sie von den Nachbarn, was geschehen ist. Ohne auf Margot zu warten, stellt sie sich der NS-Polizei. «Hätte sie auf mich gewartet», schreibt Margot in ihrer Autobiografie, «wäre ich mitgegangen. Ich hätte meine Mutter nicht alleine gehen lassen.» So wie die Worte ‹Versuche, dein Leben zu machen› ihr Leben geleitet hätten, so habe auch das Schuldgefühl, das Richtige oder Falsche getan zu haben, sie nie verlassen. Fünfzehn Monate wurde sie dann versteckt, von Menschen, die sie nicht kannte. Es hätte ihre geheimen Helfer und Helferinnen den Kopf kosten können, und doch standen sie ihr bei. Dann folgt der Satz, den Margot Friedländer seit ihrer Rückreise nach Berlin im Jahr 2010 hundertmal gesprochen hat: «Es waren Menschen – das werde ich nie vergessen.»
April 1944 wird sie ‹geschnappt›, wie sie es schreibt. Im KZ Theresienstadt begegnet Margot Bendheim ihrem aus Berliner Zeit Bekannten Adolf Friedländer. Beide überleben den Holocaust, heiraten und siedeln in die USA über. Nach seinem Tod 1997 beginnt durch einen Schreibkurs im jüdischen Kulturzentrum ein neues Leben für Margot. Sie verfasst ihre Autobiografie, bringt das Unsagbare zu Papier und besucht auf Einladung des Berliner Senats ihre Heimatstadt. Aus weiteren Berliner Besuchen reift 2010 der Entschluss zur Rückkehr in ihre Geburts- und Heimatstadt. In diesen fünfzehn Jahren bis heute hielt sie unermüdlich Vorträge, Gespräche und Lesungen als Zeitzeugin des NS-Grauens und erreichte Hunderttausende. Im Januar 2022 nahmen 600 Schülerinnen und Schüler aus 30 Schulen an einer Veranstaltung teil.
Mit Margot Friedländers Tod am 9. Mai, dem Todestag des Geschichtsschreibers Friedrich Schiller, schließt sich die Zeit der mündlichen Zeugen des Holocaust. «Seid Menschen» ist das viel zitierte Wort von ihr, ihr Ruf an die Nachwelt, die Mitwelt. Einfacher und größer kann die Botschaft wohl nicht sein. Je einfacher ein Wort, umso mehr Seele und Reife sind nötig, um ihm Halt zu geben. Auf die Frage, was man heute tun solle, antwortet sie im Interview erst bescheiden, dass sie keine Politikerin sei, um hier antworten zu können. Dann hält sie inne, und es folgt ihr Satz: «Versuchen Sie, Menschen zu überzeugen, Mensch zu sein.» Immer wieder schenkt sie dieses einfachste Wort, das aus ihrem 103-jährigen Leben, aus ihrer Kraft des Verzeihens zu einem Geschenk an eine ganze Generation wird. «Ich spreche wenig und brauche wenig Worte: Ihr müsst menschlich sein!» Was für ein Schicksalsbild, dass mit Margot Friedländer die Erinnerung an die Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts in ein Wort mündet. Als ihr Interviewer nachfragt, was man von ihr lernen könne, wiederholt sie ihr Credo: «Menschlich zu sein.» Sie hebt kurz die Schultern, wie oft in Interviews, wenn sie für das Selbstverständliche Worte sucht: «Ich mag Menschen.» Und dann, um auch den letzten Rest an Pathos aufzulösen, mit einem Grinsen: «Ich bin Menschenfresser.» Auf die Frage, was ein gutes Leben ausmache, folgt wieder die Antwort: «Die Menschen zu lieben – so verschieden sie sind.»
Es braucht wohl ein solch langes Leben, um den Widerspruch von unendlichem Schmerz und ebenso unendlicher Dankbarkeit auflösen zu können. In dem heiteren Spiel, den großen Augen und dem tiefen Ernst ihres Antlitzes lässt sich lesen, wie sie diesen Widerspruch verwandelt und überhöht hat. Auf die Frage, ob sie an Gott glaube, antwortet sie: «Ich bin nicht fromm, bin es nie gewesen, aber absolut gläubig, absolut.» Immer wieder betont sie in den Interviews, wie viel Glück sie erlebt habe. Darauf angesprochen, dass manche schon bei kleinem Unglück hadern würden, ist es wieder ihre Menschenliebe, die antwortet: «Die Menschen sind verschieden.» Nachdenklich stimmt ihre Reaktion auf die Frage, ob sie glaube, dass die Welt besser geworden ist. Sie hält lange inne, dann schüttelt sie leise den Kopf. Zu den einfachen Worten fügt sich ihre Mimik. Bei tiefen Fragen beginnen die Augen, im Umkreis zu suchen. Wenn sie dann spricht, ist der Blick ganz ruhig auf ihr Gegenüber gerichtet. Sie sieht den Menschen.
Quellen ‹Die Kraft der Würde – Eine Holocaustüberlebende berichtet. Margot Friedländer im Gespräch mit Veit Lindau auf Youtube und Rede/Lesung bei der Verleihung des Obermayer Awards 2018.
Bild Margot Friedländer bei einer Lesung des Tagebuches von Anne Frank, 2012, Foto: Scott-Hendryk Dillan
Sehr geehrter Herr Held, ich danke ihnen sehr für diesen großartigen Artikel über Margot Friedländer. Obwohl ich die Vita von Margot Friedländer kenne, schreiben sie anders, mit Mitgefühl und wirklichem Wissen. Eine sehr gute Freundin, Isabel Stadnik, hat mir den Link geschickt. Isabel Stadnik ist Dornach sehr verbunden. Sie hat in South Dakota in den USA in einem Reservat(pine Rich) einen waldorf kindergarten und eine waldorfschule ins Leben gerufen und lebt und arbeitet dort seit Jahrzehnten mit ihren beiden Töchtern Celestin und Carolin. Isabel ist mir am Theater in Basel noch als Schauspielerin begegnet und wir wurden Freundinnen. Das ist nun fast 40 Jahre her.. ich war zwei Jahre am Basler Theater als Schauspielerin und war sehr glücklich dort. Möglicherweise ist ihnen Isabel Stadnik auch ein Begriff. Seien sie noch einmal bedankt für ihren feinen Artikel und ihre feine Art sich auszudrücken über Margot Friedländer. Ich bin keine Schweizerin und lebe in dem harten Berlin in spürbarer Angstnähe zu Putin.
Und ich grüße sie sehr herzlich.
Margit Rogall
p.s. sollte ich ihnen heute morgen schon einmal geschrieben haben, dann verzeihen sie mir bitte die Doppelung. Aber sicher bin ich nicht, ob die E.Mail rausgegangen ist.