Zwischen Sommerweite und Winterruhe ist der Herbst eine Schwelle, das Innehalten zu üben. Menhire laden dazu besonders ein und führen das Ich zur Aufrichte.
Herbstlicht
Zwischen Sommerweite und Winterruhe liegt eine Schwelle. In vielen Gegenden, auch bei uns in Deutschland und in der Schweiz, stehen aufgerichtete Steine, unscheinbar und still. An ihnen lässt sich ein herbstlicher Ernst üben: Aufrichtigkeit und Standhaftigkeit als Übergang vom äußeren Leben im Licht zum inneren Sammeln. Zu Beginn und am Ende mag leise ein michaelischer Ton mitschwingen: nicht als Parole, sondern als Frage an das Ich.
Es ist ein leises Wissen, das im Körper wohnt: dass der Blick, der im Sommer weit hinausgreift, im Herbst wieder heimkehrt. In dieser Heimkehr kann uns der aufgerichtete Stein ein Gegenüber sein – kein Rätsel zum Lösen, sondern eine Präsenz zum Begegnen. Wer ihn nicht als Kuriosum abtut, sondern als Form ernst nimmt, findet einen Zugang, der weder im bloßen Erklären noch im bloßen Empfinden aufgeht: ein Wahrnehmen, das das Denken in Polarität zu sich führt, damit Bedeutung nicht erfunden, sondern gefunden werden kann.
Der Stein, der Ort macht
Stell dir eine Heide-Moorlandschaft vor – weit und eben, ein Teppich aus niedrigen Kräutern und Gräsern, das Erdreich matt und sauer, von feinen Wasseradern durchzogen. Da und dort ein paar junge Birken. Sie schneiden den Horizont kaum, sie erzählen eher von Wind als von Holz. Fern hinten ein Meeresarm, Inseln und Halbinseln in langen, flachen Linien. Die See liegt nicht als Fläche, sondern als Atem im Blick. Alles ist horizontal, fließend: nichts ruft ‹hier›, nichts hält fest. Geräusche kommen nicht als Stimme, sondern als Zug – ein Wind, der mehr streicht als drückt.
Und dann steht ein Stein da – ein einzelner Wächter vor einem entfernten Steinkreis. Keine Pyramide, kein Spektakel, eher eine entschiedene Aufrechte. Nicht völlig lotrecht, als trüge er eine kleine Erinnerung an Bewegung in sich, doch unverkennbar im Willen nach oben. Die Kanten ungleich, an manchen Stellen vom Wetter geglättet, anderswo scharfkantig wie bewusst belassen. Flechten dämpfen die Härte, helle Quarzadern blitzen wie eingefrorene Lichtfäden. Der Stein sitzt tief im Boden, nicht aufgesetzt, sondern verwurzelt; ringsum der Tritt des Viehs, die Spur von Nässe, die das Braun dunkler färbt.
Mit einem Mal hält das Bild an. Was eben noch strömte, fokussiert. Linien ziehen sich zusammen, Distanzen beginnen zu sprechen. Von hier aus richtet sich die Weite auf: Die Küstenkante antwortet wie ein stiller Rahmen, ein kaum merklicher Hang hebt sich aus der Fläche, selbst der Wind bekommt Richtung, als ginge er an diesem Stein vorbei, nicht über ihn hinweg. Man könnte den Stein abdecken – mit der Hand im Foto, mit dem inneren Daumen im Blick – und der Ausschnitt würde wieder ins Vielerlei zurückfallen. Man lässt ihn gelten, und das Vielerlei wird zu einem Hier.
Der Menhir ist nicht bloß Teil der Szene, er wirkt als leiser Operator, durch den die Szene Ort wird. Sein Aufrichten ist mehr als Statik – es ist eine menschliche Geste, in die Erde geschrieben: Stand nehmen. Außen entsteht Ordnung, innen erwacht Haltung. Wo Gleich-Gültigkeit war, bildet sich Mitte; wo Drift war, Orientierung. Landschaft wird ansprechbar, weil sie von irgendwoher gelesen werden kann – von diesem Stein her, in dessen Nähe das Umher zu Sätzen findet.
Goetheanisch schauen: vier Phasen
Goethes ‹zarte Empirie› hält die Wahrnehmung groß und das Denken in Schach. Erst das Gegebene, dann das Bedeutende – nicht als zeitlicher Zwang, sondern als Haltungsfrage. Aus dieser Haltung kann die Begegnung – am Stein oder im inneren Nachvollzug – sich in vier erlebnisgesättigten Phasen entfalten:
1. Wahrnehmen Langsam werden. Dem Stein erlauben, so zu sein, wie er ist. Höhe, Neigung, Kanten. Die matte Haut der Flechten, die Quarzadern wie feine, verfestigte Wellen. Schatten, die sich über den Tag verschieben. Die Lagerung im Boden. Der Zug des Hangs. Der Atem der Luft. Auch das, was fehlt, gehört dazu: keine Inschrift, keine Figur, nur Form. Noch keine Deutung. Gegenwart, bis die Fakten innerlich ankommen – wie ein Bild, das aufhört, Bild zu sein, und einfach da ist.
2. Bewegung (exakte Imagination) Jede Form trägt eine Geste: Wurzeln und Heben, Widerstehen und Stillstehen. Die sichtbare Bewegung innen fortsetzen – ohne zu erfinden. Das Denken folgt dem Wahrnehmen, nicht umgekehrt. Man spürt: Hier will etwas stehen. Nicht Sturheit, sondern Ruhe unter Last. Nicht Starrheit, sondern ein gesammelter Auftrieb. Dabei bemerkt man, wie der eigene Körper antwortet: die Füße breiter, die Knie weicher, der Atem tiefer. Nicht, weil man ‹sollte›, sondern weil die Form leise dazu einlädt.
3. Resonanz Aus verweilender Aufmerksamkeit hebt sich Stimmung: Sammlung, Würde, ein Schwellengefühl – kein Pathos, eher eine deutliche Stille. Nicht Projektion, sondern das, was die Form in mir hervorruft. Der Stein spricht in Form, die Seele antwortet in Ton: «Steh – ohne Härte, ohne Nachgiebigkeit.» Das Herz wird nicht schwer, sondern klar. Vielleicht löst sich die Stirn, vielleicht wird das Schauen einfach.
4. Erkennen (Wesen) Ein Umschlag: Der Stein ist nicht mehr Objekt, sondern Gegenwart. ‹Wesen› wird Evidenz – so real wie Farbe, so fühlbar wie Gewicht. Landschaft hat nun eine Mitte. Das Ich eine Aufrichte. Kein Entweder-Oder von Innen und Außen, sondern ein Zusammenklang: Standpunkt draußen, Stand drinnen. Das Denken darf nun Worte finden – nicht um die Wahrnehmung zu ersetzen, sondern um sie zu tragen.
Diese Folge ist kein Rezept. Sie ist ein Gebet der Aufmerksamkeit. Sie lässt Bedeutung erscheinen, ohne sie zu erzwingen. Und sie belässt dem Unaussprechlichen seinen Raum.
Herbst als Zeit des Innehaltens
Man kommt in die weite Ebene, der Blick gleitet, und plötzlich steht da ein Aufrechter. Er ist ein Gegenüber. In seinem Dastehen sammelt sich nicht nur der Ort, ich sammle mich. Es ist, als hielte der Stein einen stillen Spiegel hin, in dem etwas von meiner Ich-Qualität aufscheint – jene leise Aufrichte, die weder hart noch nachgiebig ist, sondern einfach anwesend.
Der Herbst fragt nicht nach Leistung, sondern nach Haltung. So wird er erfahrbar: Standpunkt draußen, Stand drinnen. Nicht als Regel, sondern als Begebenheit. Der Stein zeigt eine bestimmte Art des So-Seins – eine Weise, in sich präsent zu sein. Indem ich verweilend schaue, prüfe ich mich sanft: Trägt meine eigene Aufrichte? Wo bin ich an der Schwelle zwischen Sommerweite und Winter-Innen? Diese Prüfung ist kein Machtspiel, kein Drohen, sondern eine freundliche Ernsthaftigkeit: ein inneres Abtasten, ob ich bereit bin für den Schritt ins bewusstere Dasein, in dem das Ich nicht bloß Zuschauer, sondern Anwesender ist.
Ein Wächter bei Loch Buie (Isle of Mull)
Im Westen Schottlands, auf Mull, öffnet sich das Tal von Loch Buie. Abseits, still. Wer vom kleinen Parkplatz über die sumpfigen Wiesen zum Steinkreis hinüberstapft, kommt an einem einzelnen Menhir vorbei. Er wirkt – schon von Weitem – nicht hochfahrend, sondern breit in seiner Geste, flach und leicht bauchig zur Seite, als hielte er die Ellenbogen nach außen. Sein unterer Bereich trägt eine Wucht, die ihn kräftig und weit im Boden verankert. Er ist kaum höher als ein Mensch – und doch genug, um Gegenüber zu sein.
Ich habe viele Gruppen an diesen Stein geführt und dort innehalten lassen. Unweigerlich verändert sich etwas, während wir uns nähern. Die Schritte werden langsamer, die Stimmen leise. Manche bleiben mit Abstand stehen, als sei die Luft dichter geworden. Andere nähern sich vorsichtig, fast schrittweise, wenige berühren den Stein. Alle werden still. Nicht jeder Menhir ist so – es gibt heitere, kommunikative, solche, die eine Gruppe zum Lachen bringen, und solche, die poetisch stimmen. Dieser stimmt ernst. Und es ist, als stelle er – ganz ohne Worte – eine Frage: Bist du bereit? Bist du dir im Klaren? Stehst du in deiner Wahrheit, ehe du weitergehst zum Heiligtum?
Ob man die vier Phasen bewusst vollzieht oder nicht – die meisten merken es: Hier ist etwas los. Etwas in mir geht in Resonanz mit diesem Wächter. Er will nichts ‹von› mir. Er ruft etwas in mir. Die Frage ist still, nicht drohend. Man kann vorbeigehen. Aber wer ihr Raum gibt – wer auf diese Geste eingeht –, erlebt dieses sanfte, doch ernste Abtasten der eigenen Standhaftigkeit: nicht als Urteil, sondern als Klarwerden.
Am stärksten wirkt die unmittelbare Begegnung mit einem Menhir, ebenso hilfreich sind Fotografien – etwa die dem Text beigefügten. Doch man kann der inneren Beschreibung ebenso folgen: die horizontale Weite, der einzelne Aufrechte, das Nachlassen des Strömens, der entstehende Fokus. Entscheidend ist nicht der Ort, sondern die Treue zur Erfahrung: Wahrnehmen, innere Bewegung, Resonanz, Erkennen – als stille Zuwendung zu einer Präsenz.
Wer mit Bildern arbeitet, kann dasselbe Spiel versuchen wie in der Landschaft: den Stein im Foto mit dem Finger verdecken und freigeben; prüfen, wie sich Motiv und Mitte wandeln, darauf achten, wie der eigene Blick antwortet. Auch das ist kein Ersatz, aber eine Annäherung – ein Nachvollzug, der zeigt, dass Form nicht nur ‹da draußen› wirkt, sondern im Schauen.
Ist das nicht Projektion? – Die Frage ist berechtigt. Drei Gegenmittel genügen:
- Anker: ausdauernde Sinneswahrnehmung vor jeder Deutung.
- Polarität: Nicht interpretieren – das Wahrnehmen führt; das Denken folgt.
- Konvergenz: Wo verschiedene Beobachtende ähnliche Qualitäten nennen, spricht die Form.
Es entsteht kein Beweis, wohl aber Klarheit, die wächst, je treuer man ihr dient. Und Klarheit genügt oft, um würdig zu handeln: nicht schneller, aber wacher.
Aufrichte
Ein aufgerichteter Stein verwandelt das Überall in ein Hier. Dieses Hier stiftet Gegenwart – und fordert Gegenwart im Ich. Zugleich hüten solche Steine die Schwelle: Sie prüfen nicht hart, sondern still – auf moralische Aufrichtigkeit, Wachheit und die Bereitschaft, das, was der Sommer in uns reifen ließ, nun als innere Frucht zu ergreifen. Illusionen fallen lassen, Träume entlassen, zu einer tatkräftigen, wachen Standhaftigkeit in Wahrheit kommen. Das ist die Qualität, die wir Michael zuschreiben. Und es ist dieselbe, die der Menhir in der Landschaft wachruft.
Wie gut, dass solche Zeugen in Schottland und auf den Britischen Inseln zahlreich stehen – und dass ihre Geschwister überall in Europa zu finden sind. Vielleicht erinnern wir uns an einen Stein, dem wir bereits begegnet sind. Vielleicht öffnet ein Bild dieselbe stille Tür. Vielleicht führt der Weg einmal tatsächlich zu einem jener Aufrechten – sei es nach Arran, an den Rand des Moorbodens, oder nach Mull, den Pfad entlang nach Loch Buie. In jeder echten Begegnung mit einem Aufrechten begegnen wir ein wenig Michael in der Landschaft.
Am Anfang stand die Frage. Am Ende bleibt ein Ton – hell im Denken, treu im Wahrnehmen, ruhig im Stehen. Mehr braucht es nicht, um die herbstliche Schwelle würdig zu überschreiten.
Bild McLeod Stone auf Harris. Foto: Renatus Derbidge








