Hilma af Klint ‒ Eine anthroposophische Künstlerin?

Klint hinterließ ein reiches künstlerisches Werk, das zugleich geisteswissenschaftliche Forschung ist. Nach großen Ausstellungen in den letzten Jahren kursierte allerelei über ihre Beziehung zur Anthroposophie und zu Rudolf Steiner. Charles Cross fragt dazu Anne Weise (Rudolf Steiner Archiv).


Sie beschäftigen sich schon seit geraumer Zeit intensiv mit Hilma af Klint – wie sind Sie auf ihre Arbeit gestoßen?

In den letzten Jahren ist af Klint wie aus dem Nichts ins öffentliche Bewusstsein gedrungen. Sie war sehr lange Zeit unbekannt, aber in den letzten zehn Jahren hat es weltweit zahlreiche Ausstellungen gegeben. Eine große Ausstellung, die vom Schwedischen Museum für Moderne Kunst in Stockholm geplant wurde, war in Berlin zu sehen und reiste dann auch an andere Orte, und das war das erste Mal, dass af Klint in so großem Stil gezeigt wurde. Ich war zufällig während einer dieser Ausstellungen in Berlin, obwohl ich zu der Zeit in den USA lebte, und ich war begeistert. Es gab zwei Ebenen in der Ausstellung – die untere Ebene stellte mehr ihre theosophische Periode dar, zeigte ihre früheren Arbeiten mit dem automatischen Schreiben und so weiter, und der obere Teil zeigte ihre späteren Arbeiten, die – wie ich fand – so viel klarer waren. Einige Jahre später, als ich schon in der Schweiz lebte, besuchte ich die USA, und im Guggenheim-Museum in New York gab es 2018 zufällig eine große Ausstellung von af Klints Werken. Die Ausstellung war voller Menschen, und alle waren begeistert. Es war die erfolgreichste Ausstellung, die jemals im 80 Jahre alten Guggenheim-Museum stattgefunden hat.

Im Katalog der Ausstellung gab es einen Artikel über einen Atelierbesuch Rudolf Steiners und u. a. Anschuldigungen, Steiner sei eifersüchtig auf ihre Arbeit gewesen. Ich bin im Rudolf Steiner Archiv tätig und habe nachgeforscht. Ich bekam von der Hilma-af-Klint-Stiftung auch Zugang zu ihren Notizbüchern und suchte nach Hinweisen und Andeutungen über ihre Beziehung zur Anthroposophie und zu Steiner. Man hat über ihre Verbindung zur anthroposophischen Kunst geschrieben, aber man vermutet immer noch eine belastete Beziehung. Die Dokumente belegen dies jedoch nicht. Rudolf Steiner hatte keine Vorbehalte gegen diese neue Art von Kunst. Es gibt keinen Beweis dafür, dass er sich negativ über ihre Arbeit geäußert hat. Er sagte ein paar Dinge zu bestimmten Bildern von af Klint, erläuterte, was vor sich ging, gab ein gewisses Verständnis, aber nichts, was weitreichend war. Sie versuchte, Rudolf Steiner zu treffen, um herauszufinden, was ihre Bilder bedeuteten, was sie aussagten, denn sie war sich damals nicht sicher.

Notizbuch ‹Blumen, Moos, Flechten› von Hilma af Klint, 1919–1920, S. 24–25. Albert-Steffen-Stiftung.

Zu dieser Zeit war sie Mitglied der Theosophischen Gesellschaft und gehörte zu einer Gruppe von Frauen, die sich ‹Die Fünf› nannten und im Grunde geistige Wesen ‹channelten›.

Sie haben auch automatisch geschrieben, und es gibt viele Notizbücher mit diesen Notizen und Zeichnungen von Blumen und symbolischen Formen af Klints späterem Werk. Einmal hatte sie eine ‹Bitte›, wie sie es nennt, in ihren Notizbüchern notiert. Sie solle dieses große Projekt angehen: die ‹Malereien für den Tempel›. Innerhalb von anderthalb Jahren, beginnend im November 1906 und endend im Frühjahr 1908, schuf sie 111 Bilder in dieser großen, abstrakten Art. Ich kann mir vorstellen, dass das harte Arbeit war, und sie hat es sehr ernst genommen. Sie malte unter der Anleitung ihrer spirituellen Führer, und es ging recht schnell. Dennoch wusste sie damals nicht genau, was sie da malte, und wollte Steiner fragen, der zum ersten Mal nach Schweden kam, kurz bevor sie diese große Serie von Bildern fertigstellte.

Was wissen Sie über diese Begegnung?

Af Klint wurde schon 1904 Mitglied der Theosophischen Gesellschaft und engagierte sich stark darin. Rudolf Steiner war bis 1912 Leiter der deutschen Sektion der Theosophischen Gesellschaft. 1908 kam er zum ersten Mal nach Stockholm, am 30. März. Da hörte sie erstmals von ihm. Er hielt vor den Mitgliedern Vorträge über die Rosenkreuzer, was sie sehr begeisterte. Sie wandte sich gleich am ersten Tag an ihn und fragte: «Ist meine Arbeit von den Rosenkreuzern beeinflusst?» Und: «Kann ich mit den Rosenkreuzern in Kontakt treten?» Da sie kein Deutsch sprach, musste sie einen Übersetzer hinzuziehen. Das alles hat sie in ihren Notizbüchern festgehalten. Am selben Tag fand ein öffentlicher Vortrag statt, ‹Goethes Esoterische Antworten auf die Rätsel der Welt›, der auch zu ihr passte, weil sie später regelmäßig die Natur beobachtete und versuchte, eine Art Essenz einer Pflanze zu finden. Am folgenden Tag sprach er wieder über die Rosenkreuzer, am nächsten hielt er einen Vortrag über ‹Der Ring des Nibelungen›, dann über ‹Die soziale Frage und Theosophie›, und schließlich über ‹Das Mysterium von Golgatha› und über ‹Die Einweihung›. Dies waren also die ersten Vorträge, die Rudolf Steiner in Stockholm hielt, und sie muss sie alle besucht haben.

Sie vollendete die ‹Bilder für den Tempel› im April 1908 – nur vier Wochen nachdem Rudolf Steiner in Stockholm war. Nachdem sie fertig war, schrieb sie ihm einen Brief und bat ihn, sie zu besuchen. Diesen Brief haben wir nicht; wir wissen davon, weil es einen zweiten Brief von ihr an ihn gab, den wir hier als Kopie im Archiv haben, in dem sie ihn um einen Besuch in ihrem Kunstatelier in Stockholm bittet. Sie schrieb ihm, dass ihr ‹Lehrer› ihn zu ihr geschickt habe, und sie glaube, es sei, um ihr zu helfen, die Arbeit zu verstehen. Sie bat ihn, auf seinem Rückweg von Oslo nach Berlin nach Stockholm zu kommen – ein großer Umweg und eine kühne Bitte! Er antwortete, dass er keine Zeit habe und dass sie ohnehin ihren eigenen spirituellen Lehrer habe, dem sie vertraue, und solange das der Fall sei, brauche sie ihn nicht – aber wenn sie einen okkulten Rat brauche, werde er für sie da sein. Sie schrieben beide in schlechtem Englisch, weshalb es manchmal schwer ist, zu verstehen, was sie wirklich meinten. Allgemein gibt es einige Unklarheiten. Es ist unklar, wann er sie wirklich besucht hat, und in der heutigen Literatur wird dieses Thema sehr unterschiedlich diskutiert. Manchmal wird behauptet, Steiner habe ihre Bilder 1908 angesehen und sich kritisch über sie geäußert. Dafür gibt es durchaus einige Anhaltspunkte. Es ist klar, dass er sie besucht hat. Ich vermute, es war eher 1910, als er wieder in Stockholm war. Wir wissen sicher, dass er sie besucht und ihre Bilder gesehen hat. Dass er sich kritisch geäußert hat, ist nicht belegt. Sie notierte später: «Die Ausführung des Werkes begann einige Jahre, bevor Dr. Steiner zum ersten Mal nach Schweden kam, und als ich von ihm hörte, war mir sofort klar, dass er derjenige war, der bestätigen würde, was ich gehört hatte. Unter der Leitung einer oder vielleicht mehrerer Intelligenzen wird das Werk in einer Reihe von sehr großen gemalten Bildern ausgeführt. Dieses logisch aufgebaute Werk enthält eine Erklärung der Entwicklung der Menschheit über große Zeiträume hinweg. Es gibt zwei Gründe, warum ich die Anthroposophische Gesellschaft für dieses Werk interessieren möchte, nämlich mein absoluter Glaube an die Echtheit der Inspiration und die Bestätigung von Dr. Steiner, als er vor 14 oder 15 Jahren die ersten beiden damals fertiggestellten Serien ansah, zu denen er eine ausführliche Erklärung abgab. Seitdem ging die Arbeit weiter, und dieses Jahr habe ich mich erneut persönlich an Dr. Steiner gewandt, um mich über die Arbeit zu informieren. Ob sie erhalten oder ob sie zerstört werden sollte. Die Antwort lautete, dass es schade wäre, sie verschwinden zu lassen, und dass sie genutzt werden könnte und nützlich wäre.» (Siehe Notizblatt rechts oben)

Die Tatsache, dass sie nach dem Ende der Reihe 1908 vier Jahre lang nicht malte, führe ich nicht auf eine vermeintliche Kritik Rudolf Steiners zurück, sondern darauf, dass sie sich einerseits allein um ihre zeitgleich erblindete Mutter kümmern musste und – wie ich mir vorstelle – nach einer so intensiven zweijährigen künstlerischen Periode mit 111 großformatigen Werken erschöpft war, außerdem hatte sie kein Atelier mehr. Im Jahr 1920 starb af Klints Mutter und ein paar Monate später kam sie zum ersten Mal nach Dornach. Sie wurde sofort Mitglied der Anthroposophischen Gesellschaft und Mitglied der Ersten Klasse, sobald diese gegründet wurde. Sie blieb bis zu ihrem Tod Mitglied der Gesellschaft und der Ersten Klasse. Es sind auch da Informationen im Umlauf, die das Gegenteil behaupten.

Porträt links: Hilma af Klint, c. 1895, Hilma-af-Klint-Stiftung; rechts: Hilma af Klint, Notebook 1101›, Herbst 1924, S. 35.

Wie sah ihre Zeit in Dornach aus?

Sie kam etwa zehn Jahre lang sehr häufig nach Dornach und blieb bis zu einem halben Jahr am Stück. Als sie das erste Mal kam, erlebte sie die Eröffnung des Ersten Goetheanum, nahm am ersten Hochschulkurs im Oktober 1920 teil, als erstmals wissenschaftliche Kurse am Goetheanum angeboten wurden. Sie war dabei, als das Erste Goetheanum 1922/23 abbrannte. Und sie reiste nur wenige Tage nach Rudolf Steiners Tod an. In ihren Notizbüchern finden sich Aufzeichnungen über anthroposophische Künstler und Künstlerinnen, die zu dieser Zeit in Dornach lebten. Nach 1930 kehrte sie Dornach den Rücken, was vermutlich an den vielen Konflikten innerhalb der Anthroposophischen Gesellschaft lag. 1930 schrieb sie in ihr Notizbuch, dass derzeit dunkle Mächte über der Gesellschaft in Dornach stünden. Es wird manchmal so ausgelegt, als ob sie hinter der Anthroposophie einen Schlussstrich gezogen hätte, aber es bezog sich wohl eher auf das Zwischenmenschliche. Sie blieb später in Schweden noch aktives Mitglied.

Ich glaube, dass sie ihre Bilder auch hier in Dornach ausstellen wollte, was wahrscheinlich nicht geschehen ist. Peggy Klopper-Smeltzer, eine holländische Künstlerin, versuchte ihr zu helfen, eine Möglichkeit zu finden, in Holland auszustellen, was auch nicht klappte. Nach all diesen Versuchen scheint sie beschlossen zu haben, dass die Welt nicht reif für ihre Bilder sei. Zu dieser Zeit, im Jahr 1932, beschloss sie, dass ihre Bilder bis 20 Jahre nach ihrem Tod verborgen bleiben sollten.

Links und mitte: Notizbuch ‹Blumen, Moos, Flechten› von Hilma af Klint, 1919–1920, S. 34–35. Albert-Steffen-Stiftung; rechts: Hilma af Klint’s Aufzeichnungen über ihre Reisen nach Dornach, Notizbuch 1118, S. 121. Hilma-af-Klint-Stiftung.

Welches Werk hat sie dem Goetheanum hinterlassen und welche Spur hat Rudolf Steiner vielleicht in ihrem Werk hinterlassen?

Dies ist ein Thema, das weiter erforscht werden muss. Eines steht fest: Von Anfang an hatte sie zwei Seiten, die sie auf wunderbare Weise zusammenbrachte. Auf der einen Seite war sie eine Künstlerin, die aus Einflüssen der geistigen Welt heraus malte und sich zuerst nicht bewusst war, was sie da tat. Auf der anderen Seite war sie eine wissenschaftlich arbeitende Frau. Sie zeichnete beispielsweise Bilder von Pferden für veterinärmedizinische Lehrbücher. Nachdem sie sich mit Steiner getroffen und von der Anthroposophie und den neuen Wegen der Kunst erfahren hatte, versuchte sie, diese umzusetzen. Sie hörte und studierte zum Beispiel Vorträge über Goethes Farbenlehre. Sie malte viele, viele Nass-in-Nass-Bilder und setzte ihren Weg der Naturbeobachtung fort. Von 1919 bis 1920 beobachtete sie fast täglich Pflanzen. Sie studierte sie, zeichnete ihre physische Erscheinung, und dann, durch tiefe Beobachtung, durch Malen und Meditieren über sie, nahm sie wahr, was sie ‹Richtlinien› nennt – eine Art Essenz der Pflanze. Sie sind nicht leicht zu verstehen, aber sie entwickelte diese Art von geometrischen Formen, Siegel oder Symbole, die sie darstellte. Im Zusammenhang mit der Übung, das Verwelken und Blühen einer Pflanze meditativ zu beobachten, beschrieb Rudolf Steiner in ‹Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?›, dass sie sich dann zu geistigen Linien und Figuren formen, von denen der oder die Betrachtende vorher keine Vorstellung hatte. Diese Linien und Figuren hätten verschiedene Formen für verschiedene Erscheinungen, seien aber nicht willkürlich. Konkret hinterließ sie dem Goetheanum eine Mappe und ein Notizbuch mit fast 100 Pflanzenzeichnungen, jeweils mit diesen ‹Richtlinien›. Sie zeichnete fast 100 dieser Pflanzen auf Papier.

Man sieht den Prozess, den Hilma af Klint unternommen hat: Zu Beginn ihrer Arbeit war sie eher ein Werkzeug ihrer Meister in der geistigen Welt, sie malte sehr schnell – die ‹Bilder für den Tempel›, zum Beispiel, wurden sehr schnell gemalt. Sie selbst wollte als bewusster Mensch mehr und mehr zur Meisterin ihrer Bilder werden. Ich glaube, sie hat ihr ganzes Leben lang geübt und dabei auch andere Einflüsse aufgenommen – insbesondere das, was die Anthroposophie über Kunst, spirituelle Praxis und Goethes Kunsttheorie beiträgt.

Wenn wir diese winzig kleinen Siegel anschauen, sehen wir auch die Verbindung zu ihren früheren Arbeiten. Sie zeigen ihren eigenen Pfad oder Prozess auf.

Das meine ich auch. Diese Pflanzenbeobachtungen, die sie 1919 und 1920 durchführte, waren ihr ein Schulungsweg. Sie arbeitete sich durch diese Eindrücke hindurch und meditierte über sie. Durch das Malen gibt es einen Prozess der Verbindung mit einem anderen Wesen. Man meditiert in gewisser Weise bereits mit den Händen. Dadurch kam sie auf diese Siegel, Essenzen oder ‹Richtlinien›. Das ist für mich eine tägliche Praxis, die eindeutig aus ihrem anthroposophischen Impuls heraus entstanden ist.

Das ist geisteswissenschaftliche Forschung mittels künstlerischer Arbeit, Beobachtung und Meditation. So wuchsen ihre Bilder über sie hinaus?

Das ist für mich eine Veränderung in ihrer Arbeit.


Titelbild Notizbuch ‹Blumen, Moos, Flechten› von Hilma af Klint, 1919–1920, S. 44–45. Albert-Steffen-Stiftung.

Bemerkungen

Die Bilder aus den Notizbüchern von Hilma af Klint sind veröffentlicht mit Genehmigung der Hilma-af-Klint-Stiftung und der Albert-Steffen-Stiftung.

Der hier gekürzte Artikel erschien original auf Englisch: Hilma af Klint’s Relationship with Anthroposophy. Die Übersetzung stammt von Christian von Arnim.

Hören Podcast Anthroposophy to the point: ‹On Hilma af Klint with Anne Weise› (EN).

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