Archipele der Zukunft

Der Spalt zwischen Denken und Handeln ist groß geworden. Die Krisenlage der Welt entspringt diesem Bruch. Wir wissen so viel und handeln nicht danach. Brauchen wir eine neue Wissenschaftstheorie, einen neuen Erkenntnisurgrund? Perspektiven einer epistemologischen Revolution.1


Dass unbewusstes Handeln weder frei noch verantwortlich sein kann, liegt auf der Hand – dennoch durchziehen Unfreiheit und Verantwortungslosigkeit unser Tun. Dass untätiges Denken nicht menschenwürdig ist, wird erst langsam bewusst – und die Sehnsucht nach einem schöpferischen, weltverwandten Denken wächst wie die Skepsis gegenüber Rationalität und Abstraktion.

Die Beziehung zwischen Denken und Handeln scheint darüber zu entscheiden, ob Regeln und Normen menschliches Handeln bestimmen oder individuelle Menschlichkeit die Ethik. Entscheidet die Gestaltung dieser Beziehung über die Art unseres In-der-Welt-Seins? Bedingt diese Beziehung die Qualität eines ethischen Individualismus, die Wirklichkeit oder Unwirklichkeit einer ‹Philosophie der Freiheit›?

Die Spur des Lebens

«Die Spur des Lebens wird nicht durch das Identische gelegt, sondern durch das Verschiedene. Das Gleiche produziert nichts.»2 Mit diesen Worten formuliert Édouard Glissant einen Kern der Revolution, in der wir uns seit einiger Zeit befinden. Glissant spielt neben manchen Denkern, Denkerinnen, Künstlern und Künstlerinnen der Gegenwart eine wesentliche Rolle in der postkolonialen Identitätsbildung. 1928 in der französischsprachigen Karibik geboren, studiert er an der Sorbonne Literatur und Philosophie und wird schon früh in Kreisen eines innovativen und kulturkritischen Denkens der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts bekannt. Bald nennt er sich selbst mit Bezug auf seine Herkunft – das Ensemble der karibischen Inseln – einen Philosophen des Archipels und sein Denken archipelisch. Dieses archipelische Denken versteht sich im Gegensatz zum Kontinentdenken. Ein Kontinent hängt als große Landmasse zusammen. Hegel ist vermutlich in diesem Sinne einer der eindeutigsten ‹Kontinentdenker›. In einem in sich geschlossenen und stimmigen System mehr oder weniger komplexer Teile wird etwas gewonnen, was in sich schlüssige, argumentative Geltung beansprucht und schließlich die (einzig) gültige Methode eines Herrschaftswissens darstellt. Etwas, an dem man nicht mehr vorbei und auch nicht davon weg kommt. Systemdenken ist das Gegenteil von archipelischem Denken. Glissant beschreibt letzteres auch als Denken des Bebens, der Irrfahrt, der Unvorhersehbarkeit. Wo Systemdenken auf Überzeugung setzt, rechnet archipelisches Denken mit Resonanz, mit Widerhall in der Empfindungswelt, der Natur, der Inspiration; wo Ersteres die Einheit sucht, freut sich Letzteres an unberechenbarer Vielfalt. Wo das Denken archipelisch wird und nicht mehr ein Argument das andere zu beherrschen sucht, geht nicht die Logik verloren, aber gewohnte Sicherheit – allein die Konsistenz des Denkens selbst bleibt. Das ist erst einmal gefährlich, mindestens riskant, auf jeden Fall unbequem.

Édouard Glissant gilt als einer der einflussreichsten postmodernen und dekolonisierenden Denker. Diese Denkrichtung steigert sich im Verlauf der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts als Reaktion auf das imperialisierende Denken der europäischen, rational-aufklärerischen Tradition und ist seit den 1980er- und 1990er-Jahren eine wachsende Strömung, zunächst im Gebiet der Kultur- und Kunstkritik, dann zunehmend in der Reflexion und im politischen Widerstand gegen Kapitalismus und wirtschaftlichen Liberalismus.

Besonders glücklich bei Glissant scheint mir seine Entdeckung, dass Intuition und Wahrnehmung aus derselben Quelle kommen. Vor dem Hintergrund seines Denkens hatte ich den Eindruck, dass Rudolf Steiner eigentlich schon vor der postkolonialen Entwicklung, mitten im brutalsten europäischen Imperialismus ein postkoloniales Denken anlegte und eine zunächst kaum verständliche, aber wirksame Praxis daraus entwickelte. Es gab natürlich keinen Postkolonialismus zwischen 1861 und 1925, der Lebenszeit Rudolf Steiners. Auch danach wären sicherlich keine Rezipienten und Rezipientinnen Rudolf Steiners auf die Idee gekommen, ihn für einen postkolonialen Denker zu halten. Die postkolonialen Elemente in Rudolf Steiners Denken zu identifizieren, kann aber möglicherweise für die anthroposophisch orientierte Geisteswissenschaft relevant sein, mindestens für ihre Anschlussfähigkeit an einen gegenwärtigen Diskurs – und vermutlich sachgemäßer als immer erneut wiederholte Rassismus- oder Nationalismusverdächtigungen.

Ein schwarzer Schimmel

Als ich Glissants letztes Werk sah – zwei Jahre vor seinem Tod 2011 erschien eine Zusammenfassung seiner Beobachtungen und Ideen unter dem aufregenden Titel ‹Philosophie de la Relation›, vor Kurzem übersetzt als ‹Die Philosophie der Weltbeziehung› – wurde mir klarer, dass auch Rudolf Steiner eine Philosophie der Weltbeziehung geschrieben hat und sie in der Tradition seiner damaligen Zeit treffend eine ‹Philosophie der Freiheit› nannte; er hätte ebenso gut ‹Anthropologie der Freiheit› sagen können. Nicht dass Glissant dasselbe sagen will wie Steiner oder umgekehrt – aber ihnen scheint eine vom Denken, genauer: von einer wahrnehmungsorientierten Transformation des Denkens ausgehende Weltbejahung gemeinsam. Und eine ‹Philosophie des Weltbeziehung› ist ja etwas wie ein schwarzer Schimmel. Denn eigentlich ist Philosophie gerade nicht mitten in der Welt, sondern tritt aus ihr heraus, denkt außerhalb der Welt über die Welt. Dadurch kann sie in der Welt einiges klären und erklären. Das ist ihre eigentliche Aufgabe und Aufgabe aller Intellektuellen und Reflektierenden. Handelnde, Politiker und Politikerinnen dagegen sollten sich danach richten, vor allem aber etwas tun. Jedenfalls erschienen bei Platon, am Beginn abendländischen Denkens, Philosophie und Politik als die beiden großen Gegensätze. Denken und Handeln – das wirklich Verschiedene. Ihr Miteinander legt die Spur des Lebens?

Zvi Szir, ‹The unmeasurable distance to an island Close by 2022›, 110 × 80 cm, Öl auf Leinwand

Was würde passieren, wenn Denken das Handeln tatsächlich bestimmen würde? Nach Steiner entsteht dann Freiheit, Handeln aus Erkenntnis. Wie ist eine Handlung, die immer noch Handlung ist und doch aus der Qualität des Denkens entsteht? Wie ist ein Denken, das Denken bleibt, aber aus der Qualität des Handelns entsteht? Friedrich Schiller schließt in seinen ästhetischen Briefen die Möglichkeit aus, dass Handeln vollständig die Qualität des Denkens annimmt, aber handelt; und für ebenso unmöglich hält er, dass Denken vollständig die Qualität des Handelns annimmt, aber denkt.3 Denn dann sei Denken nicht mehr Denken und Handeln nicht mehr Handeln. Er setzt aber fort: Es entstehe etwas Neues, das weder das eine noch das andere und doch beides sei. Das ist schwer zu denken und noch schwerer zu tun. Dass es dennoch geschieht – und darin sind sich Schiller, Steiner und Glissant einig – kommt von etwas, was mit keinem von beiden identisch ist, sondern von beiden verschieden. Das sei der menschliche Wille. Er liege jenseits der Erkenntnis und diesseits der Handlung.

Ungreifbares Etwas

Der Wille lebt in einem Raum des Unbestimmten. Aber er ist der, der bestimmen wird. Hannah Arendt entdeckt in diesem weder in der Erkenntnis noch in der Handlung fassbaren Zentrum menschlichen Daseins, menschlicher Möglichkeit die Überwindungs- oder Transformationskraft des Bösen. Ihre Ethik gründet in diesem Willen. Für sie gibt es das Böse nicht als große, unheimliche Macht, sondern nur lauter wenig bewusst gefällte Urteile und lauter kleine Entscheidungen, vor allem aber Urteilslosigkeit und Entscheidungsschwäche, die in ihrer Summe unter Umständen etwas sehr Böses ergeben. Ihr Begriff der ‹Banalität des Bösen› war zunächst so umstritten, wie er heute bekannt ist. Als sie 1961 während des Eichmann-Prozesses entdeckte, dass wir alle die Freiheit haben, jederzeit so oder anders zu entscheiden, wurde sie zu einer ‹Archipel-Denkerin›. Sie bildet keine Kontinente mehr, kein System, das allgemeingültige Richtlinien für Gut und Böse entwirft, die für alle Menschen zutreffen. Ihre Ethik, also die Unterscheidung zwischen Gut und Böse, ist archipelisch gedacht, sie rechnet mit dem schöpferischen Einzelmenschen, der je nach Lebenssituation reflexions- und handlungsfähig, also ethisch voll zuständig ist, selbst wenn er die Folgen seiner Handlung nicht im Voraus bestimmen kann.4

Da gibt es also etwas in mir, was bestimmend im Unbestimmten wirkt, was ich nicht vollumfänglich erkennen kann, was sich in meinem Handeln zwar offenbart, aber nicht dieses Etwas ist. Es bleibt ungreifbar. Damit hat das archipelische oder intuitive Denken zu tun.

Die epistemologische Revolution

In noch keiner Epoche haben wir so viel gewusst wie heute. Und das Wissen wächst exponentiell als Folge der cartesianischen, der ‹kontinentalen› Macht des Denkens. Zugleich und spätestens seit 1972 wissen wir, dass diese Art des Denkens Grenzen hat.5 Die ‹Grenzen des Wachstums› beziehen sich auf unsere Handlungsweisen, aber auch auf das Denken, das dieses Handeln lenkt. Heute wissen wir, dass viele unserer profit- und wissensbasierten Handlungen zu Katastrophen führen. Unsere Handlungen stimmen nicht mehr überein mit unserem Wissen, obwohl dieses Wissen auf demselben Weg zustande gekommen ist wie die katastrophalen Folgen der Handlungen. Etwas bricht auf zwischen Denken und Handeln. Es ist dieselbe Sollbruchstelle, in der der Freiheitsursprung liegt – und wo postkoloniales Denken beginnt. Wenn wir nur handeln könnten, wie wir denken, und nur denken könnten, wie wir handeln, wäre Freiheit undenkbar und unmöglich. Ohne die gefährliche Unterschiedlichkeit von Denken und Handeln keine Freiheit. Handhabbar wird dieses Verschiedene da, wo wir selbst unser Denken befragen und untersuchen.

Epistemologie ist die Wissenschaft von dem Zustandekommen begründeten Wissens. Wo sich das Erkennen selbst erkennen möchte, sind wir epistemologisch unterwegs, befragen die Tätigkeit des Denkens, sind also willentlich im Denken tätig mit dem Ziel, seine Übereinstimmung mit sich selbst und der Welt zu prüfen. Mit anderen Worten sprechen wir hier auch von Hermeneutik, von dem Verstehen des Verstehens. Wir können uns noch recht leicht bewusst werden, dass Erkennen und das Erkannte eigentlich nie eins zu eins miteinander übereinstimmen. Wir wissen, dass die Tätigkeit des Erkennens sich immer von dem zu Erkennenden unterscheidet. Und wir ahnen, dass die größte Herausforderung für das Denken in dem Erkennen des Erkennens besteht, also in der Epistemologie, denn dort sind Tätigkeit und Gegenstand des Erkennens identisch. In dieser Hinsicht leben wir heute in einer epistemologischen Krise. Sie ist vermutlich die existenziellste und die gefährlichste. Natürlich brauchen wir Aktionen, ja Volksbewegungen für Frieden und gegen Krieg, für ökologisch verantwortliche Lebensweisen, gegen Umweltzerstörung, Ausbeutung und so weiter. Mit derselben Dringlichkeit – nur ist das schwerer zu verstehen und noch schwerer zu realisieren – brauchen wir eine Bewegung für ein sich selbst erkennendes Denken, das der Spur des Lebens entspricht; eine Freie Hochschule für eine Wissenschaft des Geistes, deren Aufgabe es ist, eine epistemologische Revolution anzuregen und durchzuführen. Der Anlage nach gibt es diese Hochschule seit bald einem Jahrhundert. Das Kernelement dieser Hochschule ist seit 1893 publiziert: Das Denken selbst zu begreifen als ein der Erfahrung zugängliches Phänomen wie alle anderen Phänomene; das Denken gehört in die Welt der beobachtbaren Phänomene. Es war eine revolutionäre Neuerung, als Rudolf Steiner noch vor dem Zeitalter der Phänomenologie in seiner ‹Philosophie der Freiheit› diesen Vorschlag machte und ihn selbst beharrlich und bald fantasievoll durchführte. Spätestens seit dem postkolonialen Denken gehört es zu den elementaren Instrumentarien, sich zu befragen, wie wir Ursprünge und Folgen unserer kulturellen, ökologischen und sozialen Katastrophen so begreifen, dass wir uns selbst als Teil der Welt, nicht als unbeteiligtes Subjekt in einer Welt der Objekte, sondern als verursachendes Subjekt in einer Welt anderer Wesen erkennen. So wäre der Kern der epistemologischen Revolution die Frage nach dem Verhältnis von Intuition (das, was innerlich über das Ideenvermögen zu mir kommt) und Wahrnehmung (das, was von außen über die Sinneswahrnehmung zu mir kommt). Und wenn sie gleichen Ursprungs wären?

Intuitionsvermögen und Situation des Lebens

«Die Menschen sind dem Intuitionsvermögen nach verschieden. Dem einen sprudeln die Ideen zu. Der andere erwirbt sie mühselig. Die Situationen, in denen die Menschen leben und die den Schauplatz ihres Handelns abgeben, sind nicht weniger verschieden.»6 Die Fähigkeit der Intuition und die Situation des Lebens sind so verschieden wie die Menschen voneinander; wohl aber hat jeder Mensch Intuitionen und Lebensverhältnisse, nie aber verbindet er sie in gleicher Weise miteinander. Dieses einfache ‹Beobachtungsresultat nach naturwissenschaftlicher Methode› nennt Steiner «ethischen Individualismus». Ethischer Individualismus realisiert, dass ich ideenfähig bin, in ganz konkreten Lebensverhältnissen handle und aus beiden meine Selbst- und Weltbeziehung  bilde – mehr oder weniger bewusst. Das kann sich verbalisieren, sich durch Empfindung oder Taten äußern. Wenn ich viel mit Ideen umgehe, weil ich zu denen gehöre, in denen die Ideen nur so sprudeln, wird alles in meinem Leben eine gewisse Komplexität haben; gehöre ich zu jenen, die mühselig jede einzelne Idee schwer erringen müssen, wird alles weniger komplex sein. Aber für die Qualität der Selbst- und Weltbeziehung ist dieser Unterschied nicht maßgeblich, denn die Verbindung von Ideenvermögen und Lebenssituationen, von Denken und Wahrnehmung gewinnt ihren Wert durch ihre Unvergleichlichkeit  und Einmaligkeit bei jedem einzelnen Menschen; diese unerschöpfliche Vielfalt und das Zusammenspiel des Verschiedenen setzen einen ganz neuen Wertmaßstab.

Bild: Zvi Szir, ‹El Dorado is an island›, 132 × 112 cm, Öl auf Leinwand, 2022

Spätestens hier beginnt Rudolf Steiner ein postkolonialer Denker zu werden. «Die Spur des Lebens wird nicht durch Identisches gelegt, sondern durch das Verschiedene.» Und er schlägt auch noch vor, das Verschiedene durch Aufmerksamkeit, Beobachtung und Engagement zu intensivieren, zu individualisieren – das Ideenvermögen wie die sinnliche Wahrnehmung.

Er schlägt vor, das Ideenvermögen durch Meditation so zu verstärken, dass aus ihrer Resonanzwirkung die Lebenssituationen zunehmend eine Ordnung gewinnen, die den Ordnungen geistiger Verhältnisse entspricht – ohne dass etwa die Idee über die Wahrnehmung, das Konzept über das Leben herrscht. Diese Meditation7 ist nicht dazu geeignet, den Weltbezug zu verringern oder gar zu verlieren. Sie verstärkt im Gegenteil ihrerseits den Wahrnehmungsbezug, sodass ich bemerke: Wenn die Wahrnehmung nicht wechselseitig ist, wenn ich die Natur so anschaue, dass sie mich nicht mehr anschauen kann, schaue ich fremd in die sinnliche Welt. Und der fremde Blick, der allein den Nutzen der Natur sehen kann, zerstört sie. Angesichts einer zunehmend zerstörten Natur wächst der Ruf nach achtsamer Verbindung zur begegnenden, zur wahrgenommenen Welt – und viele empfinden das heute immer stärker, wir sagen und hören es wieder und wieder, nicht nur von denen, die zukünftig mit den Folgen einer abstrakt beherrschten Welt leben müssen. In den späten 1970er-Jahren formulierte Hans Jonas aus dieser Erkenntnis eine Ethik des ökologischen Bewusstseins: «Handle so, dass die Wirkungen deiner Handlung verträglich sind mit der Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden.»8 Also noch vor dem eigentlichen Beginn der ökologischen Bewegung war deutlich, dass der Klimakrise eine Bewusstseinskrise vorausgeht – und damit auch, dass die Klimakrise natürlich nach ökologischen Maßnahmen, vor allem aber nach Bewusstseinsveränderung ruft. Und diese scheint heute nicht unbedingt im Vorstellen, eher aber im Wahrnehmen zu beginnen.

Die Situationen des Lebens sprechen jetzt möglicherweise wahrnehmbarer, hörbarer, sichtbarer als die Intuitionen, sie sprechen eine Sprache, die nicht mit den Vorstellungen, mit dem Narrativ, mit unserer Deutung des gelebten Lebens übereinstimmen. Wenn Erfahrung (Wahrnehmung) und Erzählung (Intuition, Deutung, Diskurs etc.) aber zusammenkommen und zusammenstimmen, entsteht die geistige Kontur des sich in diesem Lebensaugenblick realisierenden Daseins, eine geistige Signatur, die nicht vorstellungsmäßig vorherbestimmt ist. Mit anderen Worten: Es entsteht Moral – oder genauer: ästhetische Erfahrung. Erfahrung und Intuition kommen in jedem Moment weltfähig zusammen, in dem ihr Zusammenkommen sich als Spur des Lebens zeigt, die sich aus Verschiedenem generiert. Diese Spur ist wohl nie vorhersehbar, immer aber schön.

Geburt individueller Moralität

In einer der schönsten Stellen seiner ‹Philosophie der Weltbeziehung› beschreibt Édouard Glissant dieses Bewusstsein, das am und im Leben Weltbeziehung schafft: «Die Weltbeziehung gibt keine Moral vor, es liegt allein an uns, in einer angsterregend autonomen Anstrengung des Bewusstseins und unserer Vorstellungen von der Welt eine Moral in sie hineinzutragen. Das moralische Verhalten tut sich schwer, weil es sich nicht mehr nach dem richten kann, was wir uns in Geschichten erzählt haben, sondern direkt aus der Ästhetik (der unverstellten oder imaginären Sicht) einer Welt hervorgehen soll, die wir gemeinsam, unmittelbar und dazu meist als Chaos erleben. Was wir von der Welt nicht wissen, bildet eben den Teil, den wir als Einzelne aus unserer moralischen und politischen Erkenntnis erschließen müssen, und doch wird nur das Handeln, das daraus folgt, am Ende von uns überleben.»9

Die Welt wäre moralfrei – Menschen wären jene Wesen, welche Moralität in sie hineintragen. Es läge ganz an uns, in einer «autonomen Anstrengung des Bewusstseins» und nicht mehr nach dem, was wir uns in Geschichten einst erzählt haben, ganz aus einer zur Ethik drängenden Ästhetik («unverstellte, imaginäre Sicht»), also aus der unmittelbaren Wahrnehmung einer Wechselbeziehung mit der Welt zu handeln! Kurz: Wenn ich dich jetzt sehe, entspringt jetzt und in dieser Situation die Moralität, die zwischen uns gilt. Das Sehen des intuitiv wachen Menschen gilt. Das wäre Glissants Vorschlag? Daraus gehe eine Welt hervor, die wir gemeinsam, unmittelbar und meist als Chaos erleben, weil sie zunächst moralfrei ist, es aber nicht bleibt.

Sind wir nicht heute genau da? Im Hinblick auf Leid und Sehnsucht? Und nur ein Handeln, welches daraus folgt, wird gelten? Was letztendlich zählt, sind also nicht Motive, sondern die Folgen meines Handelns. Ich kann nicht vorher wissen, ob meine Handlung gut oder böse ist. Steiner: «Ich prüfe nicht verstandesmäßig, ob meine Handlung gut oder böse ist; ich vollziehe sie, weil ich sie liebe. Sie wird ‹gut›, wenn meine in Liebe getauchte Intuition in der rechten Art in dem intuitiv zu erlebenden Weltzusammenhang drinnensteht; ‹böse›, wenn das nicht der Fall ist.»10

Bild: Zvi Szir, ‹Islanding (Is it an actual verb?)›, 61 × 46 cm, Gouache auf Papier, 2022

Glissant schließt diese Einsicht folgendermaßen: «Die essenzielle Einsamkeit beim künstlerischen Ausdruck wie bei der ethischen Entscheidung wirft ein Licht auf die Verantwortung, die jeder Gemeinschaft, aber auch und vor allem jedem Individuum in seiner Gesellschaft oder in der Welttotalität auferlegt ist. Je mehr das Gewebe der Weltbeziehung sichtbar und wirksam wird, sich ausweitet bis zur Berücksichtigung aller Differenzen auf der Welt, ohne eine einzige zu vernachlässigen, umso größer wird der Raum der Freiheit für den Einzelnen. Und desto zwingender drängt sich ihm diese Verantwortung auf.»11

Das ist ein ganz zauberhafter Gedanke, der in einem Gegensatz funktioniert und von Glissant zu einem neuen Bild gefasst wird. Da passiert, was Schiller als einzigartige, menschlich-ästhetische Kapazität entdeckt, dass wir etwas Unmögliches, etwas ganz Neues zu schaffen in der Lage seien. An die Stelle aller meiner bisherigen Vorstellungen von Freiheit und Verantwortung tritt die essenzielle Einsamkeit bei jeder ethischen Entscheidung, weil ich nichts mehr nachmachen kann oder will. Und je sichtbarer und wirksamer das Gewebe meiner Weltbeziehungen wird, um so größer wird der Raum der Freiheit – und ich trage die volle Verantwortung. Das wäre der Vorschlag einer epistemologischen Revolution oder eines epistemologischen Lebens, eines Lebens des Erkennens, das die Reflexion so wenig scheut, wie es dem Handeln fremd ist. Wir können diese Revolution im Sinne Schillers und Glissants auch eine ästhetische nennen: «Ästhetik als lebendige, nicht normative Betrachtungsweise, die der Spur jener Orte folgt, wo Verschiedenheiten sich gegenüberstehen und tätig aufeinander abstimmen.»12 Der Zusammenhang von Denken und Tätigkeit, von einem tätig werdenden Denken, einer selbstbestimmten Tätigkeit ist Ausgangsort und Folge der epistemologischen oder ästhetischen Revolution.

Mensch wird Ethik

Das aber geht nicht von allein. Ich kann diesen Zusammenhang nicht automatisch, also ohne Willen vollziehen. Es kann mir auch niemand abnehmen und ich kann es nicht delegieren. Aber ich kann sofort bemerken, wenn es in jemandem oder in mir stattfindet. Die sich dann ergebende Resonanz hat mit einer archipelischen Weltbeziehung zu tun. Hannah Arendt formulierte eine vielleicht verwandte revolutionäre Wende 1965 auf die Frage, was Unrecht und was Recht sei: «Ich versuchte zu zeigen, dass unsere Entscheidungen über Recht und Unrecht von der Wahl unserer Gesellschaft abhängen werden. Von der Wahl derjenigen, mit denen wir unser Leben zu verbringen wünschen.»13 Bis hierhin war es nötig und glücklich, dass eine Ethik die Handlungen der Menschen bestimmte; mit diesem Moment wird es immer mehr so sein, dass die einzelnen Menschen die Ethik bestimmen. Es kehrt sich um. Der erste Akt bei dieser Neugeburt ist nach Hannah Arendt, dass ich bestimme, mit wem ich mein Leben teilen will. Sie meint hier gewiss keine Eheberatung, sondern mit wem ich arbeite, mit wem ich mich verbinde, auf wen ich mich beziehe. Ich habe aus meinem Intuitionsvermögen in meiner Situation des Lebens zu entscheiden – daraus entsteht eine Moralität der Weltbeziehung.

Im späteren Werk Rudolf Steiners scheint diese Einsicht angelegt, anders noch als in seiner frühen Freiheitsphilosophie mit einer beeindruckenden, ja geradezu prophetischen Betonung der Wahrnehmung und der Kunsterfahrung: «Im Wesentlichen war das Verhalten des künstlerisch Schaffenden und des künstlerisch Genießenden in der abgelaufenen Epoche eine Art äußeren Anschauens, ein Appellieren an das, was von außen an den Künstler herantreten kann. Das Angewiesensein auf die Natur und auf das Modell für das äußere Anschauen ist immer größer und größer geworden. Nicht soll etwa in einer einseitigen Weise jetzt hingewiesen werden auf ein Verlassen der Natur, auf ein Verlassen der äußeren Wirklichkeit in der Kunst der Zukunft. Das sei ferne. Hingewiesen werden soll vielmehr auf ein noch intensiveres Beisammensein mit der äußeren Welt. Auf ein so starkes Zusammensein, dass es sich nicht bloß erstreckt auf den äußeren Eindruck der Farbe, des Tones oder der Form, sondern auf dasjenige, was man hinter dem Ton, hinter der Farbe, hinter den Formen, in dem Ton, in der Farbe, in den Formen erleben kann, was sich offenbart in Farbe, Ton und Form. In dieser Beziehung werden die Menschenseelen bedeutungsvolle Entdeckungen machen in der Zukunft. Sie werden wirklich ihr moralisch-spirituelles Wesen verbinden mit demjenigen, was der Sinnenschein uns bringt. Eine unendliche Vertiefung der Menschenseele kann auf diesem Gebiet vorausgesehen werden.»14

Also: «Die Spur des Lebens wird nicht durch das Identische gelegt, sondern durch das Verschiedene.» Und: «Sie werden wirklich ihr moralisch-spirituelles Wesen verbinden mit demjenigen, was der Sinnenschein uns bringt.»

Jede und jeder wird das Verschiedene verschieden verbinden. Darin liegt Freiheit und Verantwortung gleichermaßen. Dieses Verbinden der Gegensätze begründet ein neues In-der-Welt-Sein, und nicht etwa ein Aus-der-Welt-Heraustreten. Man könnte dieses Werden insofern ein ‹Archipelisches-in-der-Welt-Sein› nennen, denn aus Inseln, die sich einander nähern, entstehen Archipele. Dann gibt es Inselgruppen, die ein bestimmtes Klima haben, eine bestimmte Vegetation, eine bestimmte Flora und Fauna, bestimmte Möglichkeiten. Hier wird einiges möglich sein und anderes nicht. Auf anderen Inseln, in anderen Archipelen wird das anders sein. Es gibt diese Mannigfaltigkeit im Geiste. Die Mannigfaltigkeit in der Natur haben wir auf dem ‹kontinentalen› Weg zu einem archipelischen Bewusstsein zerstört. Wir stehen in der Frage der Freiheit und der Verantwortung genau an dieser gefährlichen Stelle, wo das eine Bewusstsein in das andere sich wandeln könnte. Die Mannigfaltigkeit des Geistes in der Welt kann die sterbende Mannigfaltigkeit der Natur auffangen, nicht aber an ihre Stelle treten. Denn die Mannigfaltigkeit des Geistes hat eine Bedingung. Es ist des Menschen Freiheit, in der er seine Verantwortung entdeckt. Die kürzeste Fassung dieses ethischen Individualismus schrieb Rudolf Steiner 1918, als er seine ‹Philosophie der Freiheit› noch ein letztes Mal durchsah, nach dem Ersten Weltkrieg, nach der europäischen Katastrophe, nach dem Anfang des Endes des Imperialismus, der dann aber trotzdem noch so weit und so verheerend in das 20. Jahrhundert hineinragte: «Man muss sich der Idee erlebend gegenüberstellen können; sonst gerät man unter ihre Knechtschaft.»15


Titelbild Zvi Szir, ‹Island with three Blue Trees›, 120 × 80 cm, Öl auf Leinwand, 2022

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Footnotes

  1. Nach einem Vortrag in der Reihe der Goetheanumleitung ‹Verantwortung der Freiheit› am 13. März 2023 unter dem Titel ‹Freiheit als ethischer Individualismus – eine Brücke zwischen Denken und Handeln?›.
  2. Édouard Glissant, Das archipelische Denken, zitiert nach SZ, 22.10.2007; die Formulierung steht im Zusammenhang mit umfangreicheren Beobachtungen und Überlegungen, die er 2009 in seiner ‹Philosophie de la Relation› zusammenfasst; 2021 erscheint die Arbeit als ‹Philosophie der Weltbeziehung› in der Übersetzung von Beate Thill in Heidelberg.
  3. Friedrich Schiller, Briefe über die ästhetische Beziehung des Menschen, 16.–19. Brief.
  4. Hannah Arendt, Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen, 1963; Über das Böse, 1965. Susan Neiman, Heimisch bleiben in einer Welt nach Auschwitz, 2016.
  5. Club of Rome (Dennis Meadows), Grenzen des Wachstums, 1972.
  6. Rudolf Steiner, Philosophie der Freiheit, Kapitel IX, Die Idee der Feiheit, GA 4.
  7. Rudolf Steiner, Von dem Vertrauen, das man zu dem Denken haben kann, von dem Wesen der denkenden Seele, vom Meditieren, in: Die Schwelle der geistigen Welt, GA 17.
  8. Hans Jonas, Prinzip Verantwortung, 1979.
  9. Édouard Glissant, Philosophie der Weltbeziehung, S. 61 f.
  10. Rudolf Steiner, Philosophie der Freiheit, Kapitel IX, GA 4.
  11. Édouard Glissant, Philosophie der Weltbeziehung, S. 62.
  12. Édouard Glissant, Philosophie der Weltbeziehung, S. 61.
  13. Hannah Arendt, Über das Böse, 1965/2003, S. 149.
  14. Rudolf Steiner, Kunst im Lichte der Mysterienweisheit, Vortrag Dornach, 1.1.1915, GA 275.
  15. Rudolf Steiner, Philosophie der Freiheit, Zweiter Anhang, GA 4.

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