Das Zarte rettet mich

Gilda Bartel und Franka Henn im Gespräch

Ostern hat etwas Abgründiges. Ein Abgrund, aus dem das Licht scheint. Das Zarte ist eine Möglichkeit, durch die Dunkelheit zu gehen und selbst ein kleines Licht zu werden, das die Welt beleuchtet. In diesem Gespräch suchen wir Spielräume für das Zarte und seine Bedeutung. Anlass dazu ist die Werkstattarbeit der Gruppe ‹Rosa und der Rest der Welt› in Weimar, die Gilda Bartel initiiert hat.


Franka Henn Wie kam ‹Rosa und der Rest der Welt› zustande?

Gilda Bartel Ich beschäftige mich künstlerisch schon länger mit Verletzlichkeit und Zartheit. Einerseits gehe ich von der Farbe Rosa aus und andererseits von eigenen Erfahrungen. Mit dem Aufruf zu diesem Seminar wollte ich einen Rahmen bauen, in dem ich mit anderen Menschen künstlerisch arbeiten kann. Wie kann man ästhetisch greifen, was das Zarte, das Verletzliche, Verletzlichkeit, auch in ihrer Würde ist? Neun Künstler und Künstlerinnen nehmen im Augenblick daran teil.

Habt ihr ein Ziel dafür vor Augen?

Meine Motivation war der Austausch mit anderen Kunstschaffenden. Ich dachte an ein Präsentationswochenende, um entstandene Arbeiten zu zeigen, Gespräche über das Zarte zu führen. Mittlerweile ist es gewachsen. Es ist zu zarten Vernetzungen gekommen, aus denen eine Wanderausstellung werden kann, andere Kunstschaffende dazukommen. Über das Zarte zu sprechen und Verletzlichkeit ins Gespräch zu bringen, erscheint mir für unsere Zeit sinnvoll. Die Kunst ist ein schönes Mittel dafür.

Warum ist das Zarte jetzt (für dich) dran?

Die Welt ist so laut, krachig, schnell, auch brutal geworden. Sie ist auf eine Weise roh, populistisch, verängstigt, vereinfacht. Der Kapitalismus frisst uns auf, nicht nur in Europa. Ich will es gar nicht polar beschreiben, aber mir scheint das Zarte als ein Gegengewicht dazu. Sich dem Zarten zuzuwenden, kann ein Gewinn sein. Mir geht es darum, das Zarte zu erkunden und in Berührung damit zu kommen. Ich selbst muss durch die Welt rennen, meine Kinder durchbringen, arbeiten usw., wie wir alle. Wo bin ich jedoch zart? Wie könnte ich die Qualitäten meines eigenen Zartseins, Scheuseins verwandeln in etwas, was mich in einer anderen Art und Weise trägt? Wieso kann ich das nicht so gut? Wie anders fühle ich mich selbst, wenn ich in meinem eigenen Zartsein stehe? Wie anders handhabe ich dann mein Kind, meinen Hund, meinen Abwasch? Was ist eigentlich zartes Denken? Da gibt es einen riesengroßen Möglichkeitsraum für Erkundungen zum und mit dem Zarten. Es ist etwas, was in mir wirkt, was ich auch bin. Andererseits ist es eine Qualität, von der aus andere Dinge wahrnehmbar werden oder sich anders zeigen. Diesen Raum fassen, verbildlichen, verstehen kann ich, indem ich künstlerisch arbeite. Gleichzeitig kann ich nur aus dem eigenen Zartsein heraus künstlerisch arbeiten. Ich bin in Island auf den Begriff ‹Lichthaut› gekommen, als ich eine Aureole um die Sonne sah. Sie ist etwas sehr Zartes, und auch etwas Starkes. Was nehme ich mit meiner Lichthaut wahr? Das Zarte ist viel größer als nur das Gegenteil von hart oder stark. Es hat ein Potenzial für Selbst- und Weltwahrnehmung – etwas, was wir in Zukunft brauchen können. Deshalb scheint es mir wertvoll, dieses Wesen zu erforschen, und es ins Kulturleben zu tragen.

Welche Ebenen deiner selbst oder der Welt nimmst du als Medium, um das Zartsein zu erkunden?

Einerseits sind es konkrete seelische Erfahrungen, also Gefühlserfahrungen von mir und in Erzählungen anderer, andererseits erkunde ich meine Urteile darüber, wer oder was warum zart erscheint. Es ist verschieden, wie Menschen das erforschen. Eine Künstlerin unserer ‹Rosa und der Rest der Welt›-Gruppe hat sich zuallererst ein rosa Kleid gekauft, um herauszufinden, wie sie sich damit fühlt. Wenn man anfängt, über das Zarte zu reden, suchen Menschen sich ihre Dinge, an denen sie Erfahrungen machen. Ich selbst habe zum Beispiel bemerkt: Wenn ich jemanden verletze, öffnet sich der Bereich der Scham. Darin liegt eine Art von Verletzlichkeit oder Zartheit. Ist die Scham wie eine Schwester der Zartheit, eine Wegbereiterin für das Zarte? Auch hier brauche ich die Lichthaut, weil ich durchlässig bleiben muss, ohne mich ganz in etwas zu verlieren.

Wenn du verletzend bist, kannst du dann auch deine eigene Zartheit sehen?

Nicht in dem Moment, glaube ich, aber das muss ich beobachten. Dass ich jemand anderes verletze, hängt damit zusammen, dass ich mich bedroht, verletzt, ausgeliefert fühle. Ich kann im Nachhinein sehen, dass mein ‹Schießen auf den anderen› aus einer eigenen Wunde stammt, die wir wohl alle haben.

‹Lichthaut›, Gilda Bartel, Collage, 2023/24. Getrocknete Blüten, pigmentiertes Transparentpapier, Faden.

Jeder kennt die Situation, zu verletzen und verletzt zu werden. Die Scham kann auf beides folgen. Ich verstehe heute mehr, dass in Panik, Unruhe, Unzufriedenheit oder im Verletzen etwas Zartes ist, das noch nicht in seine Kraft gefunden hat. Es ist keine Zartheit, die sich selbst vertraut und schöpferisch ausdrückt wie im künstlerischen Schaffen. Es kann verbaut und destruktiv sein. Hat diese Zer- oder Gebrechlichkeit des Zarten für dich mit Schmerz zu tun?

Das würde ich so nicht sagen. Nicht immer. Das Zarte geht schnell kaputt. Aber das ist nicht zwangsläufig schmerzlich, sondern drückt eine Qualität aus. Es braucht eine Behutsamkeit im Umgang damit. Zum Beispiel meine aktuelle Arbeit zu dem Thema sind getrocknete Blüten, die ich fixiere und auf die ich mit Faden und Nadel Linien nähe. Ich muss extrem vorsichtig arbeiten und mich interessiert daran auch, wenn es als Objekt später irgendwo hängt, dass es dann einfach kaputt geht, zerbricht. Das ist Teil des Werkes. Das empfinde ich nicht als schmerzlich.

Ich frage, weil jetzt oft Zartheit in einem Atemzug mit Verletzlichkeit oder Zerbrechlichkeit aufgetaucht ist. Hat das Zarte für dich dann auch eine starke, kräftigende, lustvolle Seite?

Es gibt etwas wie eine ‹zarte Lust›, die sich selbst nicht recht begreifen will, unschuldig ist und trotzdem zu genießen weiß. So wie ein Ausatmen, was lächelt. Ihre Stärke liegt in ihrer Qualität: Halbbewusst fühlt man sich in sich und auf der Welt selbst zu Hause, ohne in einen Egoismus zu kippen. Sehr lebensvoll, weil die zarten Ströme vernehmbar sind. Vielleicht am ehesten mit Freude vergleichbar, in Abgrenzung zu Spaß. Irgendwie im rechten Maß und schön.

Wir haben dieses Thema zu Ostern aufgegriffen, denn mir scheint, dass deine Forschung mit dem Ostergeschehen zu tun hat. Der Frühling hat sowieso diese Qualität. Für mich ist das Bild des Gekreuzigten unendlich zart, nicht nur tragisch. Es hängt auch von der Darstellungsweise ab. Aber der Anblick des Jesus Christus am Kreuz öffnet mich, macht mich ‹zart› dafür oder erinnert mich daran, ein Mensch zu sein. Verbindet sich für dich das Ostererlebnis mit Zartheit und wenn ja, wie?

Das ist eine sehr schöne Frage. Dass sich darin, wie du sagst, etwas ausdrückt, was ‹Mensch› ist, ist so zart, dass wir es schwer greifen können, ohne dass es zerbricht. Es ist etwas, was wir im ‹Wahrfühlen›, also nicht im Wahrnehmen, als zartes Erleben haben und was zugleich selbst etwas Zartes ist. Eine zweite Zartheitsqualität des Karfreitags und der Auferstehung erlebe ich in der Möglichkeit des Anfangens. Anfangen ist immer auch zart. An diesem Wort ‹wahrfühlen› wird es für mich deutlich. Das Zarte besteht in dem Gefühl dafür, dass es eine Potenz im Menschlichen gibt, die immer wieder anfangen kann, und sich dieser Kraft bewusst zu sein. Wie bei einem Keimling. «Das Zarte ist, was durchkommt», sagte ein Freund neulich zu mir.

Wahrfühlen finde ich sehr stimmig hier. Ich glaube, es gibt auch ein zartes Denken und ein zartes Wollen. Trotzdem hat Zartheit, wie ich beobachte, mit einer Qualität des Fühlens zu tun. Es steckt außerdem das Wort Wahrheit drin. Führt Zartheit also zur Wahrheit? Ist damit Authentizität gemeint oder schließt mir das Zartsein, Wahrfühlen eine Schicht der Existenz auf, die über meine Persönlichkeit hinausgeht? Ich schaue Christus am Kreuz an und fühle, da hat sich jemand aufgegeben, vollkommen verletzlich gemacht. Darin liegt etwas, was mich erschüttert, aus dem Alltag nimmt und zart macht. Dieser Mensch am Kreuz mit all den Wunden hat alles losgelassen, was von persönlichem Interesse sein konnte. In manchen Darstellungen sehe ich das auch am Gesicht oder wenn der Körper wie schwebend erscheint und nicht schlaff und schwer hängend. Das finde ich ‹erzartend›.

Du hattest beim letzten Mal ja auch gesagt: «Das Zarte rettet mich, nicht ich rette das Zarte.» Das beschreibt auch diese Qualität. Darin erlebe ich auch Sanftmütigkeit. Wahrfühlen schließt für eine Wärme auf; vielleicht für jenes, was als Geistiges in der Begegnung mit mir entsteht.

Wenn jemand gut ‹erzartet› wurde, dann kommt Sanftmut in die Seele.

Zartheit heißt nicht, keine Kanten mehr zu haben. Zartheit reiht sich in die verschiedensten Wesensmerkmale des Menschen und der Welt ein. Wenn nun aber Zartheit die äußere Seite wäre, was ist die Innenseite davon? In welcher Art und Weise würde Zartheit meine Kraft gestalten oder welche Richtung würde sie geben? Da erscheint mir etwas Goldenes, was wie die Verwandlung des Rosa ist. Eine Qualität, die anders trägt, aufschließend, nicht ausschließend, verbindend und verbunden, wie ein Boden, auf dem vieles wachsen kann.

‹Lichthaut›, Gilda Bartel, Collage, 2023/24. Getrocknete Blüten, pigmentiertes Transparentpapier, Faden.

Also: Was kann uns die Zartheit schenken? ‹Das Zarte rettet mich› ist für mich ein Geschenk. Das kam aus einem Konflikt. Darin habe ich innerlich gespürt, dass ich Verständnis nicht suche, weil ich gern sanftmütig bin. Sondern weil nur dieses Verstehenwollen oder das Wahrfühlen es mir ermöglicht, auch ich zu sein. Ich bleibe ‹zart› für mich, nicht für jemand anderen. Wenn ich Zartheit in mir bewahre, rettet sie mich und meine Seele; ich bewahre mein Heilsein.

Beziehungsweise vielleicht mein Sichersein in der Unsicherheit der Zerbrechlichkeit. Ja, ich kenne das auch. Wenn ich eine Mauer baue, weil ich verletzt bin, dann schotte ich meine Seele ab, aber dann kann auch nichts Zartes oder Schönes mehr hinein. Tatsächlich wird in meinem Verständnis mit dem Ostergeschehen möglich, dass ich überhaupt aushalten kann, ich in mir zu sein und nicht zuzumachen für den anderen oder die Welt. Das vereinzelt mich auch, gleichzeitig verbindet es. Wenn ich es aushalte, in meiner Verletzlichkeit zu stehen, wenn ich in meinem Schmerz stehen lerne, baut das eine Brücke zum anderen. An der Stelle resonieren Verletztheit oder Verletzlichkeit mit dem Wesen der Zartheit. Darin liefere ich mich aus, bin ich zerbrechlich zart.

Christus am Kreuz ist zerbrochen. Nicht im Geist, aber äußerlich ein komplett malträtierter Anblick. Gleichzeitig wird darin etwas transparent für mich, was ich anschauen darf.

Kannst du beschreiben, was daran durchscheint? Du hast vorhin gesagt, das Menschsein selbst.

Das sind zwei Ebenen. Da sind die Wunden, ist die vollkommene Katastrophe. Das holt mich zurück in meine Demut und erinnert mich daran, dass ich als Mensch zart und zerbrechlich bin. Ich bin nicht unbesiegbar. Und dann ist da die Tatsache, dass ich im Bild jemanden sehe, der sich losgelassen und freiwillig gegeben hat. Ich darf diesen Menschen in einem entwürdigenden Moment anschauen. Ich darf ihn überhaupt als Hingegebenen anschauen. Jemand zeigt mir seine Wunden, seine Endlichkeit, aber dadurch seine Unendlichkeit, seine Transparenz.

Kennst du dieses Dostojewski-Zitat: «Die Welt will durch Zärtlichkeit gerettet werden»?

Das kannte ich nicht, aber für mich stimmt das. Im Sinne von Ostern würde ich sagen: Sie ist durch Zärtlichkeit gerettet. Ich habe zum Abschluss auch ein Zitat aus dem Buch ‹Radikale Zärtlichkeit. Warum Liebe politisch ist›. Darin schreibt Şeyda Kurt: «Ich bin in einer Krise. Ich bin in einer Krise der Wahrheiten und Gegenwarten. Hier ist es unordentlich. Und diese Unordnung wird anhalten. […] Die Unordnung ist auch der Ursprung einer radikalen Zärtlichkeit. […] Die Unordnung macht Raum für Utopien.»1 – Siehst du in der Zartheit eine Öffnung, einen Anhaltspunkt in der heute sogenannten ‹Polykrise›?

Ja, den kann ich sehen. Zartheit hat unmittelbar mit uns selbst zu tun und damit, ob wir in der Lage und bereit sind, uns selbst anzuschauen – auch in unserer Verletztheit. Ich halte es für einen potenziellen Weg, weil er nicht bestimmbar ist von anderen, sondern selbst gegangen werden muss. Jeder einzelne Mensch muss dafür mit sich selbst verhandeln, auch das, was noch nicht gekonnt wird. Man kann diesen Weg des Zarten nicht veräußern. Wahrscheinlich ist das mit allen Dingen so, aber am Beispiel des Zarten und des Verletzlichen erscheint mir das sehr offensichtlich. Wenn ich den Weg des Zarten gehe, kann ich mich also auf nichts berufen. Ich kann nicht fliehen. Es führt mich direkt in meine eigene Seele hinein, dahin, wo ich mir selbst transparent werden muss, wo ich auch lernen muss, liebevoll mit mir zu sein. Dadurch kann ich liebevoll mit anderen sein, durchlässig und ihr Anderssein akzeptierend. An der Stelle finde ich die Farbe Rosa spannend. Nach der Nacht ist es das erste Aufleuchten der Wärme, fast als sei es die Geburt des Lichts in die Wärme. Am Morgenhimmel ist das Sonnenlicht noch wie eine jungfräuliche Prinzessin, die im Tageslauf ein Leben lebt und am Abend als König in Tiefrot untergeht. Ich meine das nicht als einen Blick durch die ‹rosarote› Brille, sondern dieser Weg ist für jeden Menschen nur individuell gangbar. Er wirft mich auch in mein Scheitern, in meine Unwissenheit, in meine eigenen Waffenkammern, die ich fühlen muss, in meine Scham, aber auch in mein namenloses Potenzial, in die Kraft, die mich anfangen lässt, einen Keim zu verstehen und zu pflegen. Ich muss mich dem ausliefern, dass ich selbst zart wie der Keimling bin und noch keine Antworten habe. Zart ist selbstverständlich nicht nur rosa. Zart sind auch alle meine Versuche, an denen ich etwas wage, ohne zu wissen, wohin es führt. Und die interessante Frage: Was wird, wenn ich zart bin?

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