Nachruf auf Ha Vinh Tho, 27.9.1951–26.9.2025
Am Freitag vor Michaeli überschritt Ha Vinh Tho die Schwelle zur geistigen Welt. Die Nachricht erreichte mich auf dem World Goetheanum Forum in Sekem/Ägypten. Der starke Wunsch, von diesem großen Meister und guten Freund angemessen Abschied zu nehmen, zog mich von dort nach Vevey am Genfer See, wo er, nahe seiner Familie, aufgebahrt war. Thos physischer Leib war auf das Wesentliche reduziert, sein Ausdruck überpersönlich. Steht zu Lebzeiten die Mimik, das aktuelle Empfinden und Erleben im Vordergrund, so wird nach dem Tode Überzeitliches sichtbar. Mir wurde in seiner Gegenwart nie in dieser Deutlichkeit Erlebtes sichtbar. Lebendigkeit, Anteilnahme, Wärme, Kraft, Tiefe, Klarheit und Selbstlosigkeit lagen in seinen Zügen. Zugleich war eine Person erlebbar, die schon zu Lebzeiten das Unterscheidende und Trennende in hohem Maß überwunden hatte: Der Tho, neben dem ich jetzt saß, trug zugleich männliche und weibliche, östliche und westliche Züge. War Tho Mann? War er Frau? War er Asiate? War er Europäer? Er trug Östliches wie Westliches in sich. Er lebte schon weitgehend jenseits erd- und volksgebundener Gruppenidentitäten. Tho war ein Welten-Mensch, wie es nur wenige gibt. Sein Leben verband, was meist zerrissen ist: Ost und West, Innen und Außen, Ich und Du – aber auch: Opfer und Täter, Freund und Feind, Materie und Geist, vita activa und vita contemplativa. Meditation und tätiges Leben.
Wenn einer solche Aufgaben in sich trägt, hängt viel davon ab, dass er auf seinem Weg die richtigen Menschen trifft, dass das Leben ihn zur rechten Zeit an die richtigen Orte stellt und ihm angemessene Aufgaben stellt. Thos Leben enthält viele dieser Begebenheiten, wo durch einen Ort, einen Menschen, eine Aufgabe ein neues Kapitel aufgeschlagen wurde – sodass etwas für ihn und für die Welt entstehen konnte, das sonst nicht möglich gewesen wäre. Ich möchte auf wenige Aspekte seiner Biografie blicken: Tho wurde 1951 in Frankreich geboren. Vietnam, das Herkunftsland seines Vaters, war von 1955 bis 1975 Schauplatz eines Stellvertreterkriegs der Supermächte, in dem Ost und West, Kapitalismus und Kommunismus, zwei polare Sichten des Menschen und der Gesellschaft in gnadenlosen Kämpfen aufeinandertrafen. Sein Vater war Diplomat. So lernte Tho früh verschiedene Länder, Kulturen, Lebens- und Denkweisen kennen. Seine Schul- und Hochschulbildung genoss er überwiegend in Paris, wo er auch in Erziehungswissenschaften promovierte.
Auf einer Reise durch die Schweiz stand er im Goetheanum in Dornach. Er spürte eine Faszination. So beschloss er, hier zu studieren. Sein Blick auf die angebotenen Kurse blieb an ‹Eurythmie› hängen, einem Wort, das vielversprechend klang, sodass sein Studienziel schnell feststand. Er wurde Heileurythmist und arbeitete in der Heilpädagogik, wo er bald selbst Einrichtungen aufbaute und leitete. Eines Tages sah er die Ausschreibung des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz für die Leitung dessen Internationaler Akademie. Tho bewarb sich und wurde genommen. Das Rote Kreuz entsandte ihn in Spannungs- und Kriegsgebiete: Darfur, Bangladesch, Pakistan. Er wurde dort Zeuge unermesslichen menschlichen Leides – aber auch der faszinierenden Fähigkeit des Menschen, in größtem Schmerz und Not übermenschliche Kräfte zu deren Überwindung zu entbinden.
«Ich war 2005 nach dem großen Erdbeben in Pakistan. Das war zugleich die traurigste und ermutigendste Zeit in meinem Leben. Viele Eltern hatten ihre Kinder verloren, weil das Erdbeben während der Schulzeit geschah. Gleichzeitig haben die Menschen sich gegenseitig geholfen, wo sie nur konnten. Selbst in der tiefsten Not haben die Menschen dort noch geteilt, was sie hatten. Seitdem weiß ich, wozu Menschen fähig sind. Wir können die Welt verbessern.» (Ha Vinh Tho in: ‹Der Spiegel›, 20.3.2018)
Die Mitarbeitenden des Roten Kreuzes gehen in Spannungsgebiete, helfen bei Katastrophen, in Kriegen und in Not. Sie müssen fähig sein zur Empathie, helfen, retten, vermitteln – ohne Partei zu ergreifen, ohne sich in Mitleid, Hass oder Verzweiflung zu verlieren. Tho half Tausenden im humanitären Einsatz, den Weg zu finden, zu helfen und Mensch zu bleiben bzw. zu werden im Angesicht des Bösen.
Heileurythmie, Heilpädagogik, Rot-Kreuz-Universität: Das könnte genügen für ein arbeitsames Leben für Menschlichkeit. Doch Thos Weg führte ihn weiter. Das System, in dem wir heute leben, hielt er für «unrealistisch, weil es nicht die Bedürfnisse der Mehrheit der Menschen und des Planeten erfüllt.» Überall stehen wirtschaftliche Entwicklung, technischer Fortschritt, Macht- und Profitstreben im Mittelpunkt. Wirtschaftliches Wachstum wurde zum Selbstzweck. Erde und Mensch, Sinn und Klima leiden. Die Menschheit muss ihren Weg von Grund auf ändern, will sie noch eine Zukunft haben.
Erneut ging eine Tür in der geschichtlichen Entwicklung der Menschheit für Tho auf. Er stand bereit, fähig und geeignet, die sich bietende Aufgabe zu übernehmen. Bhutan, dieses von Schönheit gesegnete, noch nicht in den Einflussbereich der Supermächte geratene Königreich im Himalaja, entschied sich für einen anderen Weg als der Rest der Welt. Nicht äußeres, materielles Wachstum (in Geldwert), sondern vielmehr das Glück der Menschen sollte im Mittelpunkt stehen. Seit dem 18. Jahrhundert schon ist das Glück der Bevölkerung oberstes Ziel der Verfassung dieses Landes. Mit aller Konsequenz: «Wenn die Regierung kein Glück für ihr Volk schaffen kann, dann gibt es keinen Grund für die Existenz der Regierung», heißt es darin.
Der 4. König von Bhutan, Jigme Singye Wangchuck, beschloss nun, dieses Ziel konsequent in den Mittelpunkt zu stellen. Das Bruttonationalprodukt (bnp), dieser jedes Jahr in allen Staaten der Welt berechnete Maßstab (und Fetisch) der Entwicklung, sollte dem Bruttonationalglück (bng) weichen. Er schuf ein Institut und suchte Menschen. Sie sollten herausfinden, wie sich das Glück der Menschen erfassen, bewerten, und vor allem, steigern ließe. Die weltweite Suche führte zu Tho. Er übernahm die Leitung des Gross National Happiness Centers in Bhutan. Das war eine Pionieraufgabe von menschheitlicher Dimension. Denn Bhutan blieb nicht alleine. Immer mehr Staaten denken mittlerweile, aufgerüttelt von den Krisen, Widersprüchen und Katastrophen ihres abstrakten, numerischen Entwicklungsziels – und angetrieben von den Protesten der Jugend und einer weltweiten Zivilgesellschaft – darüber nach, Maßstab und Ziel ihrer Entwicklung zu ändern. Denn wenn soziale Gerechtigkeit, Frieden, Glück und Zusammenhalt sowie Verantwortung für Klima und Erde nicht zu Hauptzielen politischer und ökonomischer Entwicklung werden, wird man sie weiter verfehlen. Immer mehr Länder sind dabei, ihre Verfassung, Ziele, Maßstäbe und Indikatoren in diesem Sinne zu ändern – wenn auch keines so konsequent wie Bhutan. Tho entwickelte Kriterien, Maßstäbe und Instrumente, wie äußere und innere Entwicklung, Harmonie mit sich selbst, mit den Mitmenschen und mit der Umwelt in den Mittelpunkt der Entwicklung gestellt werden können. Er wurde, immer öfter eingeladen, zu einem weltweiten Botschafter dieses Impulses.
Tho war Anthroposoph und Buddhist – wie Ibrahim Abouleish Anthroposoph und Moslem. An beiden ließ sich erleben, dass Anthroposophie auf der Realisierung tatsächlicher Geist-Verbindung basiert, wodurch sie mit jeder echten Religion vereinbar ist. Er pflegte diese Verbindung über 56 Jahre in täglicher Meditation – und wurde auch hierin für viele ein bedeutender Lehrer.
Tho starb am 26. September, kurz vor Michaeli und seinem 74. Geburtstag. Er war ein Welt-Verbinder. In seinem Wesen, seinem Leben und Wirken verband er, was sonst immer zerrissen ist: Ost und West. Innen und Außen. Ich und Du. Erde, Mensch und Geist.
Siehe auch auf Youtube: ‹Wie du glücklich wirst – Ha Vinh Tho im Gespräch mit Wolfgang Held
Foto Ha Vinh Tho auf der Landwirtschaftlichen Tagung am Goetheanum 2024. Foto: Xue Li








