Das Werden wecken

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Zart und hilfsbedürftig kommt das Kind auf die Welt – eine Welt, in der wir gerne Stärke, Intelligenz und freien Willen zeigen. Das Kind dagegen ist abhängig, seine Existenz bedroht. Es kann etwas, das wir Erwachsene verlernt haben: Es ist bedingungslos an seine Umwelt hingegeben, es liebt uns so stark, dass es sich mit uns identifiziert, so stark, dass es unsere Art zu sein, zu sprechen, zu fühlen und zu denken aufnimmt und übernimmt. Dafür braucht es Jahre, und uns fehlt manchmal die Geduld, jemanden in unserer Umgebung zu haben, der schwach, einfältig und abhängig ist.

Die Geburtenrate sinkt in vielen Ländern, Erzieherinnen und Lehrer werden überall gesucht. Wenn uns das Kind zart anlächelt – sind wir dann bereit, unsere raue Schale abzulegen, die Stärke der Schwäche zu entdecken? Wenn das Kind tobt – sind wir dann bereit, wohlwollend zu bleiben, tolerant, geduldig und aufrecht, wo wir das Kind nicht verstehen?  Wenn das Kind uns braucht – körperlich, seelisch oder geistig – sind wir dann bereit, in seiner Gegenwart so zu leben und zu sein, dass es sich in seinem Leib wohlfühlt und gesund und kräftig die Welt zu seiner Welt macht?  Das kleine Kind braucht unsere Güte, unsere innere Stärke und unsere Liebe. Je mehr wir sie entdecken und kultivieren, desto besser wird dies dem Kind gelingen. Mit gutem Grund findet sich Friedrich Fröbels Wort ‹Kindergarten› in der amerikanischen, der französischen und sogar in der japanischen Sprache. Tatsächlich: Eine Umgebung, in der Kinder gedeihen, macht die ganze Erde zu einem Garten. Leben und arbeiten mit dem Kind ist die Einladung, die menschlichsten aller menschlichen Qualitäten zu finden, manchmal zu erfinden, und so in uns das Kind, das Werden zu wecken.


Foto Pramod Kumar Sharma

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