Edith Maryon

Vor 100 Jahren, am 2. Mai 1924, starb die Künstlerin und Gefährtin Rudolf Steiners Edith Maryon. Ein Gespräch mit Barbara Schnetzler und Rembert Biemond über die britische Bildhauerin. Die Fragen stellte Wolfgang Held.


Wie kam es, Rembert Biemond, dass du dich schon in den 90er-Jahren mit Edith Maryons Werk und Biografie beschäftigt hast?

Rembert Biemond Wie viele andere war ich an der Geschichte der Anthroposophischen Gesellschaft interessiert. Sechs Vorstandsmitglieder gab es 1924 inklusive Rudolf Steiner – aber sieben Sektionsleitende: die gleichen sechs plus eins, und dieses plus eins, das war Edith Maryon. Wer war diese Frau, von der man damals so wenig wusste, kaum mehr, als dass sie an der Holzplastik von Rudolf Steiner mitgearbeitet und die sogenannten Eurythmiefiguren aus Sperrholz hergestellt hatte?

Gab es damals das Buch von Rex Raab über Edith Maryon in der Reihe ‹Pioniere der Anthroposophie› noch nicht?

Nein, auch die reiche Korrespondenz, die sie mit Rudolf Steiner führte, war damals noch nicht verfügbar. In der Gesamtausgabe fand man damals seine Ansprache zu ihrem Tod 1924, dann kurze Abschnitte in der Erinnerungsliteratur in Zeitschriften, aber kaum mehr. Edith Maryon ist ja ein Jahr vor Rudolf Steiner gestorben. Das war die bescheidene Quellenlage, die ich erschließen konnte. Was es damals gab, waren Menschen, die Edith Maryon noch gekannt hatten oder ihr zumindest begegnet sind. Diese Menschen suchte ich auf und ich hörte von John Wilkes aus Großbritannien, der sich mit ihr beschäftigte, hörte von Rex Raab, der ein Buch vorbereitete. Mit ihnen beiden habe ich dann ausführlich gesprochen. So wurde ich mehr und mehr mit dem Leben von Edith Maryon vertraut. Jetzt, 30 Jahre später, hat sich das Blatt ja gründlich geändert. Eine Reihe von Büchern über sie ist erschienen und nicht zuletzt, vor drei Jahren, der vier Kilo schwere Band über ihr Opus magnum ‹Der Menschheitsrepräsentant›. Durch die erfolgreiche Arbeit der 1990 nach ihr benannten Stiftung Edith Maryon bleibt ihr Name zusätzlich in Erinnerung.

Barbara Schnetzler, wie ist sie dir als Künstlerin begegnet?

Barbara Schnetzler Wenn man als Bildhauerin der Anthroposophie begegnet, kommt man an Edith Maryon wohl nicht vorbei. Dann ist es naheliegend, dass man sich als Künstler, Künstlerin mit der Christusplastik beschäftig, die es wohl ohne die treue Mithilfe von Edith Maryon kaum in dieser Ausarbeitung so gäbe. Schon die Pläne und Skizzen, die sie für die Skulptur geschaffen hat, zeugen von der Feinsinnigkeit und dem technischen Niveau einer fundierten Künstlerin. Dann haben mich der Fluss und die Gestik ihrer Arbeiten von Anfang an berührt – auch ihr Frühwerk in Großbritannien zeigt ein meisterhaftes Können.

Mit Rudolf Steiner hat sie den Menschheitsrepräsentanten geschnitzt, wobei du schreibst, dass 90 Prozent der Arbeit von ihr geleistet wurde.

Biemond Ja, so ist die Schätzung. Aber es geht nicht um Stundenstatistik. Ich glaube, es ist wichtiger und entscheidender, dass hier künstlerisch eine Form der Zusammenarbeit gelungen ist, für die wir heute das Wort ‹Co-Kreation› haben. Das war Steiners Arbeitsstil in seinen letzten Jahren. Er hat mit einigen zusammengearbeitet, und das auf Augenhöhe. Bei den Modellen zur Skulptur ging es hin und her zwischen Edith Maryon und Rudolf Steiner. Da arbeitet Maryon und dann korrigiert Steiner, und dann arbeitet er und sie korrigiert. Er bestand dann ja darauf, dass beide das Werk mit ihrem Namen signieren. Ja, es war eine Co-Kreation, bei der man sich wechselseitig Muse und Inspiration ist. Wir können sicher sagen, dass die Skulptur, an der ja auch weitere mitgeschnitzt haben, ihr Lebenswerk ist.

Weckt ihr Schaffen ein ästhetisches Urerlebnis?

Schnetzler Ja, durchaus. Im Mittelpunkt ihres Schaffens steht der Mensch. Ihre Skulpturen sind voller menschlicher Anmut und strömen eine Gestik tiefer, innere Lebendigkeit aus. Die Figuren sind durchdrungen von einem Formenduktus, von einem Wissen menschlicher Proportion. Ihre frühen Werke zeigen, dass sie die menschliche Gestalt studiert hat und weiß, wie sie die Volumen zu einem großen Ganzen komponiert, und dies in einer grazilen, innigen Art und Weise. Es ist ja dieser Übergang vom Klassizistischen zum Jugendstil – plötzlich kommt in die etwas okkult-ägyptische Strenge ihres frühen Werks ein rhythmischer Fluss. Dieses ätherische Weben – gerade in der Draperie ihrer Figuren – mag wohl etwas mit der Begegnung mit Rudolf Steiner zu tun haben. Gerade beim Menschheitsrepräsentanten und in der Ausformung von Luzifer, im Schwung der Flügel, hat alles diesen wundervollen Rhythmus und dieses Proportionsbewusstsein.

Ich habe keine Originale aus ihrem früheren Schaffen in Großbritannien sehen können. Aus dieser Zeit existieren nur Abbildungen. Gleichwohl erlebe ich an den Fotografien ihr frühes Interesse an der Spiritualität und ihre tiefe Suche.

Edith Maryon, Quelle: Rudolf Steiner Archiv

Was bedeutet es, vor 100 Jahren als Künstlerin, als Bildhauerin zu arbeiten? Das war doch eine männliche Domäne?

Schnetzler Ja, die Bildhauerei war damals gewiss eine Männerdomäne, einige Bildhauerinnen gab es zu dieser Zeit aber durchaus, nur kannte man sie nicht. Bis heute sind Bildhauerinnen aus dieser Zeit kaum bekannt. Sie ist aber gewissermaßen eine Pionierin, da dieser Weg sehr ungewöhnlich war und zumal sie sich damals als Frau in London auch durchgeschlagen hat, wobei ihre Herkunft ihr eine gewisse wirtschaftliche Sicherheit gab.

Da spielt die Tragik hinein, dass von ihrem Frühwerk, den Reliefen aus ihrer britischen Zeit, kaum etwas vorhanden ist?

Biemond Ja, es gibt kaum etwas, aber ich habe die Hoffnung nicht aufgegeben. Die Forschung steht da erst am Anfang. Es gibt jetzt Biografien über sie und in den letzten Jahren sind viele Artikel erschienen. Über ihre ersten 40 Jahre steht die Forschung noch aus. Wir kennen ihre Wohnadressen, einige Freunde und Freundinnen sind bekannt, aber kaum mehr. John Wilkes und Rex Raab haben hier Pionierleistungen vollbracht. Durch die Digitalisierung der Archive kommt jetzt vieles zum Vorschein. Wir wissen zum Beispiel, dass ihr Atelier oder ihr Lager in Großbritannien erst 20 Jahre nach ihrem Tod in den 1940er-Jahren aufgelöst wurde. Bis dahin hat wohl ihre Schwester noch lange in dem Haus gelebt. Dann wurde es also erst in den 40er-Jahren aufgeräumt, aber wahrscheinlich ging ihr Material zu einer Bibliothek und die Spur verliert sich. Hier müsste die Forschung ansetzen. Ich glaube, da ist noch viel zu finden. Aber es bedeutet enormen Aufwand, Detektivarbeit. In den 1970er-Jahren begann ja die Buchreihe über die Pioniere der Anthroposophie. Ich glaube, mit Zeylmans van Emmichoven fing es an. Da haben sich die Autorinnen und Autoren über die gigantische Menge der Quellen beklagt. Die Gefährten und Mitarbeiterinnen von Rudolf Steiner, wie Marie Steiner oder Ita Wegman, waren alle eine halbe bis ganze Generation jünger als er und haben 20, 40 Jahre länger gelebt und als aktive Anthroposophen eine Vielzahl an Dokumenten hinterlassen oder selber Bücher geschrieben. Bei Edith Maryon war es umgekehrt: ihr winziger Haushalt in Dornach wurde nach ihrem Tod bald aufgelöst.

In der Sammlung anthroposophischer Biografien von Bodo v. Plato ‹Die Anthroposophie im 20. Jahrhundert› schreibst du über Edith Maryon, dass ihre Briefe an Rudolf Steiner zuerst unbeantwortet blieben. Ihr neues Leben am Goetheanum begann mit Widerständen, oder?

Ja, sie muss sehr überzeugt gewesen sein. Und zugleich ist das alles rätselhaft. Auch muss noch viel erforscht werden über ihre Freunde, ihren damaligen menschlichen Umkreis in Großbritannien. Sie war dort wie viele spirituell Interessierte in einer Loge, wo viele aus diesem Kreis dann zu Rudolf Steiner übergewechselt sind. Wurde sie geschickt? Das war ein engagiertes spirituelles Leben, und dann erkannten wohl viele, dass das, was sie geistig gearbeitet und erkannt hatten, doch bescheiden war im Vergleich zu dem, was ihnen dann von Rudolf Steiner begegnete.

Edith Maryon hörte damals von Rudolf Steiner?

Es gab Baron Waleen, finnisch-schwedischer Adel, der in London über Steiner referierte. Das hörte Edith Maryon. Außerdem waren die ersten Bücher von Steiner übersetzt. Die ‹Theosophie› gab es seit 1912 in den Londoner Buchläden. Edith Maryon hatte ein starkes künstlerisches und wohl auch spirituelles Interesse an Italien, Rom, Ägypten und Griechenland und schenkte sich eine Reise in die damals doch sehr fernen Länder. Sie hatte vor, nach Ägypten zu reisen.

Das war diese Reise, die sie dann nur bis Mailand führte?

So ist es. Das geschah in ihrem 40. Lebensjahr, 1912. Wir wissen viel zu wenig. War sie allein unterwegs? Wir glauben, ja. Man reiste per Schiff über den Kanal, dann mit dem Zug nach Italien, um sich nach Alexandria einzuschiffen. Sie nutzte vermutlich ihre Kontakte, weil all diese okkulten Gruppierungen miteinander in Kontakt standen. So kam sie bis Mailand und machte dort halt. Sie wollte vielleicht die Kunst der Renaissance kennenlernen, jedenfalls begegnete sie Mailänder Theosophen, werdenden Anthroposophen. Sie erzählen ihr, dass Steiner regelmäßig in Berlin spricht. Das ist für sie scheinbar ein Grund, ihre Reisepläne in den Wind zu schlagen und stattdessen bald nach Deutschland zu fahren. Das ist unbegreiflich, weil dieser Wunsch, nach Ägypten zu reisen, doch sehr stark gewesen sein muss, es war ja eine Zeit bedeutender ägyptischer archäologischer Funde. Gab es ein innerliches Erlebnis? Sie bricht die Reise ab und fährt zu Steiner und ihr ganzes Leben ändert sich.

Interessant ist, dass Steiner in dieser Zeit zum ersten Mal über die Aufgabe spricht, die Christusfigur darzustellen. Genau in der Zeit! Die Begegnung mit Rudolf Steiner verändert ihr Leben radikal. Jetzt hat sie gefunden, was sie sucht, obwohl für sie dann schwere Jahre folgen. Die nächsten zehn, zwölf Jahre bedeuten für sie Krankheit, Prüfung und Krieg, aber gleichzeitig Erfüllung. In Dornach, ihrem neuen Lebensort, ist die Mehrheit der dort Lebenden eher auf der Seite der anderen Kriegspartei. Hinzu kommt, dass sie sehr nahe bei Steiner war. Er verbrachte viel Zeit mit ihr, sodass sich ihr gegenüber nicht wenig Eifersucht bildete.

40 Jahre alt ist sie zur Zeit der biografischen Wende. Das ist eine Zahl der Reife. Was bedeutet solch ein Alter künstlerisch?

Schnetzler Ich würde sagen, man wird sich mit 40 seiner selbst stärker bewusst. Was habe ich geschaffen und was mache ich mit der zweiten Lebenshälfte? Man schaut das eigene Werk nüchterner an und ist nicht mehr so enthusiastisch unterwegs, sondern schaut ein bisschen von außen darauf. Und das ist durchaus schmerzvoll. Man sieht einfach immer mehr. Das realisiert man in diesem Alter, und da kommt die Kritik, der Selbstzweifel, dieser Doppelgänger. Das kann natürlich tiefe künstlerische Krisen auslösen. Bei mir auf jeden Fall. Edith Maryon war seit jungen Jahren auf der Suche. Sie hatte diese Sehnsucht nach Erkenntnis und diese Sehnsucht nach dem Spirituellen. Das scheint ihr dann auch viel wichtiger gewesen zu sein, als ihre eigene Kunst voranzubringen. Da hat sie sich entschieden und sich gesagt: Jetzt in der zweiten Lebenshälfte möchte ich meine Kräfte in den Dienst eines Übergeordneten stellen. Meine eigene Kunst ist nicht mehr ganz so wichtig, sondern ich stelle mein Leben jetzt in den Dienst, in den Dienst der Menschheit.

Sie schreibt, sie hätte ihren Meister gefunden.

Biemond Ja und obwohl sie kaum Deutsch verstanden hat. Vermutlich hat sie Rudolf Steiner auch durch ihre künstlerische Intuition erkannt.

Rembert Biemond, Barbara Schnetzler und Wolfgang Held

Mit Marie Steiner und Ita Wegman und nun Edith Maryon spannt sich ein weibliches Dreigestirn um Rudolf Steiner?

Es ist viel über die Polarität zwischen Ita Wegman und Marie Steiner gesprochen und geschrieben worden, die sich ja auch in der Gesellschaftsgeschichte als Streit bis zu den Gerichtsprozessen niedergeschlagen hat. Tatsächlich waren es aber drei Frauen um und mit Rudolf Steiner. Um es klar zu sagen: Marie Steiner hatte große Probleme mit der Nähe, die Rudolf Steiner zu Edith Maryon hatte. Das ist auch belegt. Er hat viel Zeit mit Edith Maryon im gemeinsamen Atelier verbracht und ausführliche Korrespondenz mit ihr geführt und sie täglich besucht. Wenn er unterwegs war, hat er beinahe täglich telegrafiert. Sie waren Freunde und doch war da etwas Hierarchisches. Sie betrachtete ihn als ihren Lehrer, auch wenn sie eng befreundet waren. Und, um das auszusprechen, ich glaube nicht, dass es ein romantisches oder körperliches Verhältnis war, aber es war eine große Nähe. Steiner besuchte sie täglich, zum Beispiel auch während der Weihnachtstagung, als sie krank darniederlag. In den damaligen Bauzaun um das Goetheanum wurde speziell ein Tor eingebaut, denn Edith Maryon wohnte in einem der Eurythmiehäuser und Rudolf Steiner wollte ohne Umwege von der Schreinerei zu ihr gelangen. Die Mitarbeitenden nannten es das ‹Maryon-Tor›.

Du verwendest das Wort Freundschaft, sagst nicht Liebe?

Ja, da lohnt es sich, die verschiedenen griechischen Begriffe zwischen Agape, geistiger Liebe, Philia, freundschaftlicher Liebe, und Eros, leidenschaftlicher Liebe, in den Blick zu nehmen. Die Beziehung zwischen Edith Maryon und Rudolf Stiners spielt sich auf dem Feld von im Agape und Philia ab. Sie waren sich menschlich nahe und es gab viel Humor bei ihren Begegnungen. Da gibt es Lustiges, Schalkhaftes im Austausch miteinander. Ich glaube, für Steiner war es sehr wichtig, einen menschlichen Umkreis und Kontakt zu haben, wo er nicht politisch korrekt sein musste und wo er auch schimpfen konnte, zum Beispiel über die Stuttgarter Verhältnisse.

Rudolf Steiner muss ja wohl auch einsam gewesen sein. Da können wir solch eine vertrauensvolle Freundschaft nicht hoch genug bewerten, oder?

It’s lonely at the top. Und Edith Maryon war da an seiner Seite. Es gehört auch zu ihrem Schicksal, dass sie vor Steiner starb. Ich halte es für einen wichtigen und karmisch bedeutenden Punkt, dass sie nicht mal ein Jahr vor Rudolf Steiner starb. Deswegen ist ihr der Nachlassstreit auf Erden erspart geblieben. Sie war schon in der geistigen Welt. Die meisten Mitarbeitenden von Steiner waren ja jünger als er, obwohl es Ausnahmen gab, wie Adolph Arenson und andere. Die meisten folgten ihm später über die Schwelle und gingen ihm nicht wie Edith Maryon oder auch Christian Morgenstern voraus.

Wie ist die Co-Kreation von Edith Maryon und Rudolf Steiner zu bewerten?

Schnetzler Das ist natürlich etwas, was ich mir als Künstlerin sehr wünschen würde. Eine Zusammenarbeit mit einem Menschen kann das Werk enorm steigern – als Künstlerin oder Künstler braucht man diesen Austausch, diesen Blick von außen. Ja und durch diese innige Freundschaft zwischen Rudolf Steiner und Edith Maryon haben sich Kräfte verbinden können. Die Co-Kreation ist so gut gelungen, weil sich Edith Maryon ganz in den Dienst der Sache stellen konnte und sich dabei nicht aufgeopfert hat. Sie hat ihr professionelles Können geschenkt.

Ich finde, man sieht in ihrer Physiognomie etwas Sicheres und zugleich sehr Fragiles, Hingebungsvolles, ich würde sogar sagen Beschützendes, auch gegenüber Rudolf Steiner. Sie hat diese Kontinuität und Treue, die sie ausstrahlt und die Rudolf Steiner sicher enorm unterstützt hat.

Sie hat ihm Sicherheit gegeben, sagt er selbst einmal.

Biemond Also, es sind ja ein paar Sachen bedeutend. In der Erinnerungsliteratur zu Rudolf Steiner kommt sie oft als Zerberus vor, ohne dass ihr Name genannt wird. In Steiners Arbeitszimmer, im gemeinsamen Atelier, da wurde ständig an die Tür geklopft. Ständig wollten irgendwelche Leute etwas, und das ging oft nicht, passte nicht. Das wird von Zeylmans van Emmichoven beschrieben. Er war mit Rudolf Steiner verabredet und wurde von Maryon unfreundlich abgewiesen. Dann löste sich das irgendwie doch auf. Es wirft ein Licht darauf, dass sie Rudolf Steiner vor dem Besucheransturm schützte. Es ist ja von Rudolf Steiner belegt, dass ihn die sechs Vorträge pro Tag im letzten Lebensjahr nicht verzehrt haben. Im Gegenteil, er sagt, sie haben ihm Kräfte gegeben. Hingegen habe ihm all das Private, das man sonst noch von ihm wollte, die Lebenskraft geraubt. Außerdem weiß ich von keinem anderen Menschen, der Steiner das Leben gerettet hat.

Ja, wie waren da die Umstände?

Darüber spricht Steiner selber öffentlich nach Maryons Tod und das ist wohl die einzige Quelle. Beide arbeiten am Anfang des großen Modells, das heute noch im Atelier am Goetheanum steht. Das Gerüst war wohl nicht perfekt. Rudolf Steiner stützte sich auf das Geländer, begann zu stürzen und sie hat seinen Fall in irgendeiner Form aufgefangen. Wer wo stand und wie weit er fiel, werden wir nicht wissen. Die Beschreibung ist, dass er tief gestürzt und auf einen spitzen Pfeiler gefallen wäre, wenn sie seinen Fall nicht aufgefangen hätte. Die Mitgliedschaft müsse ihr dankbar sein, denn wenn er nach dieser Zeit – das betrifft neun Jahre, die Zeit der Gründung der Tochterbewegungen, die Weihnachtstagung und was nicht alles – noch etwas leisten konnte für die anthroposophische Sache, sei das dieser Rettung zu verdanken, so Steiner wörtlich.

Sie habe einen Idealismus gehabt, der den Widerstand der Wirklichkeit besiege, so beschreibt er sie.

Ja, sie war einfach hundertprozentig zuverlässig. Ich kenne das aus anderen Zusammenhängen: Wenn der Chef, die Chefin weg ist, dann funktioniert alles ein bisschen schlechter. So war es auch zu Steiners Zeiten, als er nicht in Dornach war, sondern gerade in Stuttgart oder in Prag. Dann ging das alles ein bisschen lockerer.

Ist die Katze aus dem Haus, tanzen die Mäuse auf dem Tisch

Biemond So ähnlich muss es wohl gewesen sein. Und ich finde es wichtig, von solchen Dingen zu wissen, weil es auch alles Menschen waren. Aber sie hat das Atelier gehütet. Sie hat auf richtige Luftfeuchtigkeit geachtet, dass alles so weiterging, wie es sein sollte. Dabei dürfen wir die Dimension von diesem Kunstwerk nicht vergessen!

Edith Maryon, Quelle: Rudolf Steiner Archiv

Was bedeutet es, eine neun Meter hohe Plastik zu bearbeiten, fast doppelt so hoch wie der David von Michelangelo?

Schnetzler Man muss mit diesem gewaltigen Stoff eins werden, das Ganze fassen, denn du siehst immer nur ein Detail. Diese ganzen Bezüge, Proportionen, Verhältnisse: Alles muss in einen Fluss und in eine Komposition übergehen. Es braucht eine enorme Vorstellungskraft, ein Modell zu entwickeln, das in diesen großen Proportionen eine stimmige Wirkung hat. Diese Masse zu bewältigen, sich diesen Figurationen gegenüberzustellen, die größer sind als man selbst, das muss man ja auch aushalten. Dabei ist es großartig, weil du dann mit dem ganzen Körper arbeiten kannst.

So in die Gestaltung der Kräfte des Bösen zu gehen, was bedeutete das für Edith Maryon im künstlerischen Schaffen?

Schnetzler Man kann unmittelbar am Körper spüren, was die Qualität des Bösen, was diese Kräfte in einem bewirken und was sie tun. Ich glaube, es kann auch ein reinigender Prozess sein, das Böse in die Darstellung zu bringen. Gleichzeitig vermute ich, es ist ihr auch bis ans Physische gegangen, diese Kräfte bis in die Erstarrung ins Holz zu bringen. Und in dieser Auflösung: Das sind extreme Spannungen, in die du dich da hineingibst. Das kann zu einer existenziellen Grenzerfahrung werden. Dazu kommt ganz physisch, das ganze Holz durchzuarbeiten, das sind enorme Umfänge, zumal Ulme obendrein ein sehr hartes Holz ist, das viel Widerstand bietet.

Habt ihr Gesichtspunkte, warum gerade dieses Motiv die Plastik bestimmt?

Biemond Rudolf Steiner nennt die Plastik den ‹Menschheitsrepräsentanten›. Aber es ist ja eine Christusdarstellung. Er hat das Wort vermieden. Bei Darstellungen des Christus gibt es die Geburt, die Taufe, die Kreuzigung. Das sind die millionenfach dargestellten Motive der christlichen Ikonografie. Doch was haben Edith Maryon und Rudolf Steiner dargestellt? Das ist interessant.

Sie zeigen – wenn man eine biblische Entsprechung finden will –  die Zeit kurz nach den drei Versuchungen. Da muss man dann Steiners Evangelieninterpretation dazunehmen. Ich glaube, man hat viel zu wenig erkannt, dass er diesen Moment als den alles entscheidenden wählt. Der schreitende Mensch, der sowohl seelisch wie welthistorisch evolutionär diesen Kräften ihren Platz zuweist, und gleichzeitig geht es um die Versuchung des Christus. Das ist für mich die einmalige Christusinterpretation, die mich dem Christentum unglaublich viel nähergebracht hat. Rudolf Steiner beschreibt anders als die übliche Bibelinterpretation, dass Christus an dieser Versuchung teilweise scheitert. Zwei der Versuchungen wehrt er ab, eine nicht ganz. Das ist aus meiner Sicht noch viel zu wenig verstanden und ich stammle ein bisschen, um dafür Worte zu finden. Was hier geschieht, ist, dass sich Schüler und Meister oder Schülerin und Meisterin vereinen. Denn die Stufen vom Lehrling zum Gesellen und zum Meister zu erreichen, ist eine Grenzüberschreitung, aber noch viel mehr eine Erweiterung. Und die Meisterschaft? Was Meister, Geselle und Lehrling verbindet, ist, dass alle Lehrlinge sind. So ist Rudolf Steiners Christusinterpretation.

Dreimal wird Christus nach der Taufe verführt. Da verleitet ihn der Teufel, in seinem Reich zu thronen, von den Zinnen zu springen, um seine Göttlichkeit zu beweisen, und schließlich Steine zu Brot zu verwandeln. Die drei Versuchungen behandelt Rudolf Steiner in seinem ‹Fünften Evangelium› als Einflüsterungen von Luzifer, dann von Luzifer und Ahriman und dann allein von Ahriman. Bei der dritten Versuchung, Steine zu Brot zu verwandeln, so Rudolf Steiner, würde Christus mit seinem Wort ‹Der Mensch lebt nicht vom Brot allein› scheitern, partiell scheitern. Christus sei noch nicht inkarniert gewesen, habe zu wenig gewusst, was Ernährung bedeute, und sei deswegen dieser Versuchung nicht ganz gewappnet gewesen. Und das ist aus meiner Sicht der zentrale Grund, warum dieses Motiv dort ist.

Du beschreibst hier den Gott, der so menschlich wird, dass er auch zu irren vermag?

Sagen wir, er darf lernen. Das ist für mich eminent. Ein zentraleres christliches Moment könnte es nicht geben. Die Religionsverständnisse, die ich kenne, haben immer den perfekten, den allwissenden Vater, Sohn oder Geist im Blick. Natürlich ist im Neuen Testament vom Mitleid die Rede, und die Kirchen haben das aufgegriffen. Milde, Liebe sind im Neuen Testament an die Stelle des richtenden Gottes des Alten Testaments gerückt. Hier bringt Rudolf Steiner und mit ihm Edith Maryon den Aspekt des lernenden, sich entwickelnden Wesens ein. Dass wir Menschen uns weiterentwickeln, permanent, bis zu unserem letzten Atemzug, mit diesem Gedanken sind wir heute vertraut. Dass dies auch für die höheren und höchsten geistigen Wesen gilt, dass auch sie auf dem Weg sind, das ist ein völlig neuer Gedanke. Davon sprach Rudolf Steiner an diesem Kölner Vortrag, den er dann noch mal in Berlin paraphrasierte und fortsetzte. Das wurde Maryons Lebensthema.

Steiner beschreibt, den Christus gesehen zu haben – geistig –, und setzt es nun in Co-Kreation mit Mitarbeitenden um. Jetzt will er es künstlerisch ins Bild bringen, so zur Erzählung werden lassen. Das ist ein Prozess – ich sage mal – der Liebe.

Wie kam es, dass die Holzplastik nicht dem Brand des Ersten Goetheanum zum Opfer fiel?

Darüber rätseln die Chronisten. Viele Mitglieder haben gedrängt, die Plastik solle aufgestellt werden, und dann gab es ein unerklärliches Verzögerungsprogramm. Manches wurde so schnell umgesetzt, aber hier: immer wieder ein Innehalten und Verzögern. Das bleibt ein Rätsel.

Es gibt ein anderes biografisches Element, das sehr spannend ist und erklärt, warum wir hier in der gleichnamigen Stiftung Edith Maryon sitzen. Edith Maryon hat Rudolf Steiners Idee der Dreigliederung des sozialen Organismus tief verstanden und seine ‹Kernpunkte› ins Englische übersetzt. Als sich die Mietpreise hier am Rheinknie verdreifachten, parallel zur deutschen Inflationszeit, da hat sie gesagt: Jetzt bauen wir, jetzt bauen wir 18 Mitarbeiterwohnungen. Ein paar Monate später waren die Eurythmiehäuser fertig. Ursprünglich hießen sie Engländerhäuser, weil sie die Mittel für den Bau aus Großbritannien und Neuseeland organisiert hatte.

Ist das der Hintergrund der Stiftung Edith Maryon?

Biemond Ja, mit der Spanne vom Sozialen zum Bildnerisch-architektonisch-Plastischen. Die Stiftung Edith Maryon engagiert sich dabei für soziale Formen des Wohneigentums, sogenanntes Verantwortungseigentum oder englisch ‹Steward-Ownership›. Ein weiteres Thema ist ihre Vermittlung nach Großbritannien. Sie war sozusagen Brückenkopf, Übersetzerin und Korrespondentin für die Reisen von Steiner nach Großbritannien. Es gibt da auch die Tragik, dass sie krank war und nicht in den Vorstand aufgenommen werden konnte, obwohl sie Steiner anscheinend trotz ihrer Krankheit gefragt hatte. Sie lehnte aus Gesundheitsgründen ab, führte aber ihre Tätigkeit als Sektionsleiterin fort. Und es sollte bis 1984 dauern, bis wieder jemand aus der englischsprachigen Welt in den Vorstand kam.

Was weht euch mit der Persönlichkeit Edith Maryon an?

Biemond Sie war vorderste Meisterschülerin Steiners und zugleich intim verbunden mit dem Thema ihres Lebenswerkens: Der sich entwickelnde Mensch in Nachfolge des sich entwickelnden Christus.

Schnetzler Könnerschaft, Zielgerichtetheit, Treue und Wahrheitsbestreben. Ihre Fähigkeiten einer Gemeinschaft zu geben und ihre Kräfte für ein höheres Ganzes zu schenken und den eigenen künstlerischen Weg hinter sich zu lassen – dafür habe ich größte Bewunderung.


Gedenkfeier zum 100. Todestag von Edith Maryon

Am 2. Mai von 10 bis 18 Uhr am Goetheanum, Dornach, von 20 bis 21.30 Uhr an der Rudolf Steiner Schule am Jakobsberg, Basel. Veranstaltet von der Sektion für Bildende Künste und der Stiftung Edith Maryon.

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