Das Ende der Zeitlinie

Der Mensch ist kein willenloser ‹Teil› der Natur, sondern ihr Partner. Wir verfügen über Bewusstsein und die Zukunft der Erde hängt von uns ab. An den Zyklen von Sterben und Erblühen bei Menschen und Pflanzen erwacht unser lebendiges Denken, durch das wir das Potenzial von Mensch und Erde begreifen.1


Jan Diek van Mansvelt

Wie denken wir über das Ende unseres Lebenswerkes? Wenn unser langjähriges Werk vollendet ist, hauchen wir unseren letzten Atemzug aus und sterben. Es ist vollbracht. Unsere Zeitlinie endet. In unserer Kultur ist dies ein Moment, der oft von Traurigkeit umgeben ist: Der Blick richtet sich auf den toten Körper. Dieser abgenutzte Körper hat sich im Laufe der Jahre verschlechtert – das Alter hat seinen Preis –, aber gegen Ende kann es eine wachsende Weisheit in dem Menschen geben, der noch in diesem Körper lebt und arbeitet: Seine geistige Welt wächst weiter, während seine physische Existenz abnimmt. Diese Weisheit ist oft jenseits der Vernunft. Die Person kann mit ein paar Worten oder einer kleinen Geste, einem verständnisvollen oder tröstenden Blick auskommen. Selbst wenn die geistigen Fähigkeiten nachgelassen haben, kann die Weisheit des Einzelnen in kurzen Momenten unerwartet durchscheinen. Dann erkennen wir: Oh ja, es gibt das Ich in oder hinter der äußeren materiellen Erscheinung.

Für unsere Erfahrung von Tod und Sterben spielt es eine große Rolle, ob wir nur die physische Realität sehen und denken oder ob wir erfahren, dass ein Mensch mehr ist als nur Materie. In diesem Artikel suche ich nach Worten, um dieses Mehr in den Mittelpunkt zu rücken, um ihm einen vertrauten Platz in meiner Weltsicht zu geben. Ich hoffe, dass es auf diese Weise immer offener für den Dialog wird.

Bei Abschiedsfeiern in Krematorien, auf Friedhöfen oder anderswo werden oft Geschichten über den verstorbenen Menschen erzählt und darüber, wie er von den anderen, mit denen er zu tun hatte, erlebt wurde. «So und so war wirklich ein großartiger Mensch …» Alle Anwesenden erhalten einen viel umfassenderen Überblick über das, was die Person während ihres Lebens getan hat. Jeder Mensch hat seine eigenen einzigartigen und bewundernswerten Leistungen vollbracht. Er hat getan, was ihm möglich war. Er hat das, was er in sich trug, in der Welt zum Ausdruck gebracht, auch wenn manchmal der Eindruck zurückbleibt, dass er mehr in sich trug, als er in diesem Leben ausdrücken konnten. Lag das an den Beschränkungen seiner äußeren Umstände? Oder lag es an den Grenzen seiner inneren Kraft?

Vielleicht sollten wir Sterbefeiern in große Feste umwandeln und feiern, was die verstorbene Person für uns bedeutet hat, feiern, was sie für die Erde und ihre Bewohner und Bewohnerinnen durch ihr vielfältiges irdisches Wirken beigetragen hat. Feiern! Mit Blumen und Tänzen, mit Gedichten und Musik und mitreißenden Geschichten könnten wir eine Feier gestalten, die dem Einzelnen angemessen ist – eine Feier, die unserer Dankbarkeit für das entspricht, was uns dieser besondere Verstorbene an Erfahrungen und Beispielen für die Verwirklichung seines Inneren, seiner Ideen und Absichten, also seines Geistes, in der irdischen Substanz der vergangenen Jahre hinterlassen hat.

Wir mögen uns fragen, wie eine verstorbene Person, die gerade aus der materiellen in die geistige Welt übergetreten ist, unsere Trauer erlebt – eine Trauer, die sie schuldlos verursacht hat, weil sie ihr Lebenswerk endgültig beendet hat oder beenden musste. Natürlich betrübt uns das! Wir vermissen diejenigen, die gestorben sind. Aber ist das nicht in erster Linie unser persönliches Gefühl? Spielt der Egoismus eine Rolle bei dieser Trauer? Vermissen wir sie umso mehr, je stärker wir mit ihnen verbunden waren? Wie rein war diese unsere Bindung? Wie gut ist sie für uns? Wie verhält sich die Liebe zur Bindung?

Rosa Hardy Seerose (Nymphea ‹Hollandia›). Metamorphose der Blütenblätter zu Staubfäden. Foto: Gerda Peters

Wir könnten auch sehr glücklich über ihr Sterben werden, wenn wir das Bild all dessen, was die Person getan hat, all ihre Werke, vor unserem inneren Auge aufblühen lassen. Durch welche Haupt- oder Nebenknoten haben sie sich Schritt für Schritt entwickelt? Welche Haupt- und Nebenlinien auf ihrem Lebensweg werden sichtbar mit den entsprechenden Blüten an den Enden? Mit dem Tod enden alle diese Zeitlinien. Die betreffende Seele geht ‹aus der Zeit› und erblüht vor unserem inneren Auge. Nun ist ihr Blick auf ihr Leben zeitlos und wir können das Ganze als Panorama vor uns sehen, so wie sie es kann.

Aus Erzählungen von Nahtoderfahrungen2 und aus dem, was Rudolf Steiner über den Weg der verstorbenen Seelen sagt, können wir versuchen, imaginativ mitzufühlen und zu erleben, wie es der im Geiste aufgestiegenen Seele auf ihrem Weg durch die Welt ergeht, in der es Zeit und Raum, wie wir sie kennen, nicht gibt. Hier wird die Zeit zum immateriellen Raum.

Ganz kurz zusammengefasst beginnt die Reise der Verstorbenen mit einem Panoramablick auf ihren Lebensweg. Was sich in der irdischen Zeit in Monaten und Jahren ereignet hat, umgibt sie nun räumlich mit allen Haupt- und Nebenlinien. Die Erfahrung ist zum Teil die eigene Erinnerung und zum Teil ein erfahrungsmäßiges Gewahrsein dessen, was ihre Handlungen für andere zu der Lebenszeit und danach bedeutet haben. Und sie sind mit dieser Erfahrung nicht allein – sie erleben die Gegenwart eines Lichtwesens, das schon da war und auf sie wartete, als sie das Tor des Todes durchschritten. Es ist ein Engel, ihr Engel.

Dann beginnt eine lange Reise mit diesem Begleiter, Schritt für Schritt durch die planetarischen Sphären, die schließlich zum Sonnenwesen führt, demjenigen, der ‹das Licht der Welt› genannt wird – Christus. Nachdem die Seele erfahren hat, welche Kräfte den einzelnen Planetensphären innewohnen und wie sie diese Kräfte in ihrem vergangenen Leben genutzt haben, spürt sie die Frage: Hast du dein Ziel erreicht? Oder merkst du jetzt, dass du noch mehr willst, dass du mehr Mensch werden willst?

Wenn die Antwort ja lautet, «ja, ich möchte menschlicher werden», dann geht der Weg wieder zurück nach unten, zurück durch alle planetarischen Sphären. Angereichert mit den Gaben dieser Sphären und zurück auf der Erde, muss die Seele nun ein menschliches Paar finden, das ihr einen physischen Kontaktpunkt bietet, in dem sie sich inkarnieren kann. Die Eizelle, aktiviert durch eine Samenzelle, bildet dann die Grundlage für die Verkörperung oder Inkarnation dieser menschlichen Seele. Diese erste Phase der Inkarnation findet im wahrsten Sinne des Wortes ‹über der Erde› im Körper der Mutter statt, von der das Kind durch seine eigene, selbst gebildete Plazenta ernährt wird. Erst mit der Geburt kommt das Kind wirklich auf die Erde. Es kommt hinunter in das irdische Licht, den irdischen Raum und die irdische Zeit. Es atmet Luft und ernährt sich von der Milch, die die Mutter bildet – die erste Form der irdischen Nahrung. Das erste Einatmen ist der Beginn des Erdenlebens, so wie das letzte Ausatmen sein Ende sein wird.

Die Eltern dieses Lebens sind nicht dieselben Eltern des vorherigen Lebens. Der Ort auf der Erde ist auch nicht derselbe wie im vorherigen Leben, und die Erde selbst hat sich in dieser Zeit weiterentwickelt; sie hat sich sozial und kulturell weiterentwickelt. Wie können wir diesen Fortschritt sehen? Nicht als einen sich wiederholenden Zyklus, sondern als eine spiralförmige Entwicklung – so wie die Seele auf ihrer Reise durch den Himmel bereichert wird, wird die Erde auf ihrem Weg durch die Zeit bereichert: durch das, was die Menschen und die Gesellschaft, in der sie leben, aus ihr gemacht haben.

So verbindet sich das neugeborene Kind, das in der Sonnensphäre geistig inspiriert wurde, mit der irdischen Geschichte seiner Eltern und mit der Geschichte des Ortes, in den es hineingeboren wird. Inspiriert durch den Rückblick auf sein vorheriges Leben muss das Kind die neuen Absichten seiner Seele während seines Lebens im Hier und Jetzt seiner gewählten irdischen Umstände verwirklichen. Man könnte seine Absichten und die irdischen Umstände als zwei Dimensionen seines Karmas oder zwei Arten von Karma bezeichnen.

Das Ausmaß, in dem es einem Menschen im Laufe seines Heranwachsens und seiner Entwicklung gelingt, sich seines Selbst bewusst zu werden und dieses Bewusstsein durch Übung zu erweitern, bestimmt, inwieweit er sich entweder als bedauernswertes Opfer der Umstände oder als spirituelles, von den Umständen herausgefordertes Ich-Wesen erlebt. Je mehr sich ein Mensch mit seinem Ich-Wesen selbst lenken kann, desto freier und willensstärker wird er in seinem Handeln. Je mehr er also wahrhaft menschlich wird und je fruchtbarer er mit seinem irdischen, sozialen und kulturellen Umfeld interagieren kann, bis er von der Geburt bis zum Ende seiner Zeit kommt und sein Werk auf Erden vollendet hat. Beim Tod lächelt ihnen eine neue Zukunft entgegen, wie wir am Anfang gesehen haben.

Ringelblume (Calendula officinalis). Metamorphose des Blattes. Foto: Gerda Peters

Die blühenden Pflanzen

Während bis zu diesem Punkt an unsere innere Anschauung appelliert wurde, um die menschlichen Entwicklungsphänomene in ihrem transzendentalen Kontext zu sehen, betrachten wir nun die Entwicklung der blühenden Pflanzen. Hier scheint die Innensicht zunächst weit entfernt zu sein, denn fast alles in der Entwicklung einer Pflanze begegnet uns im Äußeren. Es ist sichtbar, greifbar etc. Durch direkte Sinnesbeobachtung lernen wir die physische Pflanze in ihrer ganzen erstaunlichen Schönheit kennen.

Deshalb appelliere ich an die selbstbewusste, lebendige und mitfühlende Imagination der Lesenden, um den Lebensprozess der Pflanze zu begreifen. Dabei lasse ich mich von Schillers Aussage inspirieren: «Suchst du das Höchste, das Größte? Die Pflanze kann es dich lehren: Was sie willenlos ist, sei du es wollend – das ists!»3 So können wir uns den natürlichen Lebensweg der Pflanze zum Vorbild nehmen, um uns unsere Biografie zu eigen zu machen.

Das Öffnen der Blütenknospen bringt so viel Freude und Staunen: Welch schöne Formen und Farben entspringen dem grünen Kelch! Während sich die Entwicklung der Pflanze bisher in Grün vollzog – flache grüne Blätter an einem geradlinigen grünen Stängel – begegnet uns hier eine breite Palette von Formen, Farben und Farbkombinationen. Während die grüne Entwicklung Zeit und Geduld erforderte, ist die Blüte oft flüchtig: Ehe man sich versieht, ist die Blüte verwelkt. Während die grünen Stängelblätter von unten nach oben aufeinanderfolgen und jeweils aus einem eigenen Knoten am Stängel sprießen, sind die Blütenteile alle zusammen auf einer einzigen Blütenbasis angeordnet. Die Blütenbasis, die auch die Spitze des Stängels ist, besteht aus Knoten in einer Ebene. Während die Stängelblätter flach und zweidimensional sind, entsteht in der Blüte durch die Einheit der Blütenblätter so etwas wie ein Innenraum. Es ist schön zu sehen, wie der dreidimensionale Charakter je nach Pflanzenart variiert, von der fast völlig offenen Butterblume bis zur fast völlig geschlossenen Feige, die eigentlich auch eine Blume ist. Und während die Pflanze bei der Keimung aus ihrer ‹zeitlosen› Samenruhe in die Zeit hineinwächst, geht sie in der Blüte wieder ‹aus der Zeit heraus›, wenn sie am Ende des grünen Stängels, am Ende ihrer Zeitlinie erblüht.

Die Blüte zieht Schmetterlinge und Bienen an, die kommen, um Pollen und Nektar zu sammeln. Aus evolutionärer Sicht sind Insekten im Vergleich zu Pflanzen höhere Wesen. Sie können sich zum Beispiel nach ihrem Instinkt bewegen. Der Pollen, den sie sammeln und hoch in die Luft und zum Licht tragen, enthält die Essenz der Pflanze: Jede Pflanzenart hat ihre eigene, einzigartige Pollenform. Mit ihrem Pollen erreicht die Pflanze ihre größte räumliche Ausdehnung mit ihrer kleinsten materiellen Ausdehnung: Der Pollen ist so klein, dass er praktisch unsichtbar ist, minimal in seiner materiellen Form. Im Gegensatz dazu sind die grünen Teile die kleinste räumliche Ausdehnung der Pflanze in ihrer materiellsten Form. Die halbmaterialisierte Blüte hält gewissermaßen die Mitte zwischen den beiden.

Während sich der Pollen ausbreitet, bleibt der Fruchtknoten an der Basis der Blüte intakt, auch nachdem die Blüte verwelkt ist. Dieser Fruchtknoten ist eine Metamorphose des grünen Stängels, so wie die farbenfrohen Blütenblätter eine Metamorphose der grünen Stängelblätter sind.4 Am grünen Stängel erstrecken sich die Blätter von den Knoten aus nach außen. Auch der Fruchtknoten hat mehrere Knoten, nämlich die Samenanlagen, die nach innen gerichtet sind. Im Fruchtknoten ist die Pflanze nach innen gekehrt. Sie kann sich jedoch nicht weiter entwickeln. Der metamorphosierte Stängel hat diese Kraft nicht in sich selbst. Erst wenn der Pollen der Pflanze aus dem sonnigen Lichtraum herabsteigt, die Narbe erreicht und in den Fruchtknoten hineinwächst, kann er sich weiter entwickeln und es können Samen entstehen.

Die materielle Samenbildung erfordert das Wesen der Pflanze: den sonnengereiften Pollen, der von den Insekten emporgehoben wurde. Die metamorphosierte Fortsetzung des Pflanzenstamms bringt aus sich selbst heraus kein neues Leben hervor. Die erleuchtete Essenz der Pflanze, der Pollen, tut dies aber auch nicht. So wie ersterer einen Lichtimpuls für die weitere Entwicklung braucht, kann letzterer ohne einen Halt auf seinem Weg zur Erde nicht vorankommen. An der Blütenbasis, ‹über› der grünen Zeitachse des Stängels, bildet sich der Samen aus neuem Sonnenlicht und erhaltenem Pflanzenleben. Erst wenn der Samen schließlich von der Stängelspitze in die Erde fällt, kehrt die Pflanze selbst in die irdische Zeit zurück. Dann, nach einer kürzeren oder längeren Zeitspanne, kann sie keimen, und ein neues grünes Leben beginnt.

Wie wunderbar, wenn man sich vor Augen führt, dass das Leben in der Pflanze durch den von der Sonne angereicherten Pollenimpuls erneuert wurde, während gleichzeitig der Boden, in den der Samen fällt, ebenfalls erneuert und mit den abgefallenen Blättern der Pflanze selbst und denen der umliegenden Pflanzen, vielleicht auch mit Vogelkot und Insektenresten angereichert wurde. So zeigt sich, dass die Entwicklung der Pflanzen (ebenso wie die des Menschen) nicht kreisförmig, sondern spiralförmig verläuft – durch die Reproduktion der Pflanze und gleichzeitig durch die Reproduktion des Bodens.


Titelbild Weiße Rose (Rosa sp.). Große Metamorphose. Übergang von der Knospe zur Blüte und nach der Bestäubung zur Fruchtbildung. Foto: Gerda Peters

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Footnotes

  1. Siehe: Jan Diek van Mansvelt, Wonders of Development, in Plants, People and Projects. Mit einem Beitrag von Pieter van der Ree. Adonis Press, 2022.
  2. Siehe: Pim van Lommel, Consciousness Beyond Life: The Science of the Near Death Experience. Harper One/Harper Collins Publishers. 2010. Und: Peter und Elizabeth Fenwick, The Art of Dying. Bloomsbury, usa 2008.
  3. Friedrich Schiller, Sämtliche Werke. Band 1, Hanser Verlag, München 1962, S. 243, 247.
  4. Siehe: Johann Wolfgang von Goethe, Die Metamorphose der Pflanzen. Goethes Werke. Hamburger Ausgabe, Band xiii, Naturwissenschaftliche Schriften I, C. H. Beck, München 1998, S. 66.

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