Im Juni 2024 fand eine szenische Lesung zu Lusseyrans ‹Das wiedergefundene Licht› statt, mit Richard Schnell, Fritz Nagel und einer Skulptur von Barbara Schnetzler. ‹Ge-ich-tet› verließ eine Zuschauerin dieses sechsstündige Programm.
In einer Zeit, die durch ihrer Komplexität das eigene Fassungsvermögen ständig zu sprengen droht und immer wieder Orientierungslosigkeit verursacht, sehne ich mich nach Licht. Licht nicht als Erleuchtung von oben, als göttliche Eingabe; auch nicht als Beleuchtung durch Fakten und Zahlen, die Tatsachen ins rechte Licht rücken wollen. Ich sehne mich nach Licht, so wie es in einem Ich erscheint.
Es gibt Menschen, die so stark ‹ge-ich-tet› sind, dass ihr Ich über ihr Selbst hinausleuchtet. Manchmal trifft man einen solchen Menschen physisch an, meistens ist die Begegnung aber indirekt, durch die Werke dieser Menschen. Ihre Musik, ihr Tanz, ihre Poesie – ihr Ausdruck – setzt einen Abdruck ihres Ich, teilt es sozusagen einer Allgemeinheit mit. Und wir, die diesen Abdruck empfangen dürfen, werden vom Licht dieses Ich berührt.
Diese Begegnung, diese Berührung vergleiche ich mit einem Menschen, der allein im dunkeln Meer ist, vielleicht schiffbrüchig, der plötzlich das Leuchten eines Leuchtturms erblickt. Der Leuchtturm an sich ist nicht die Rettung, aber die schiere Anwesenheit dieses Leuchtkörpers vermittelt Orientierung und Hoffnung in einer ohnmächtigen Situation. Die Berührung mit einem menschlichen Leuchtturm gibt mir zu wissen: Es gibt noch menschliche Kräfte, die es vermögen, im Dunkeln Licht zu verbreiten, und die nicht darin verschlungen werden.
Jacques Lusseyran (1924–1971) verlor sein Augenlicht als knapp Achtjähriger und fand es nicht allzu lang danach wieder, in seinem Innern. Die Welt sprach zu ihm auf wundersame Weise durch Töne, Druckempfindungen, aber auch durch Licht. War Gutes, Liebendes vorhanden, erschien ihm das innere Licht stark und klar. Begegnete ihm Hinterlistiges und Böses – im anderen oder in sich selbst –, trübte sich das Licht, verzog sich und hinterließ ihn orientierungslos und blind.
Lusseyrans Biografie, so wie er sie in seinem Buch ‹Das wiedergefundene Licht› schildert, ist eine Reise durch innere und äußere Räume, beschrieben von einem Menschen, dessen ‹Blindheit› eine Begabung zur Wahrnehmung der Welt und der Menschen wurde. Er teilt uns mit, wie seine Welt aussah, eine Welt, die gerade in seiner Jugendzeit von der Finsternis des Zweiten Weltkrieges überschattet war. Seinem inneren Licht folgend, ging er einen Weg, der ihn in den politischen Widerstand, ins Gefängnis, ins Konzentrationslager und von dort wieder hinaus führte.
Die Biografie dieses Ich ist ein Leuchtturm in Buchform. Ich durfte sie in diesem Jahr, in dem Jacques Lusseyran seinen 100. Geburtstag gefeiert hätte, als Lesung erleben. Zur Johannizeit machte der Schauspieler Richard Schnell zusammen mit dem Musiker Fritz Nagel aus dem geschriebenen Wort einen neuen Abdruck, ausgedrückt in Wort und Ton. In drei Teilen nahmen sie uns Zuhörende mit auf die Reise durch Lusseyrans Kindheit, durch seine Arbeit als junger Widerstandskämpfer und schließlich durch seine Zeit im Konzentrationslager Buchenwald.
Wir waren (Pausen inbegriffen) über sechs Stunden gemeinsam mit dem Licht von Jacques Lusseyran unterwegs.
Mit dem Licht. Ja, denn das Licht strömte aus den Worten und aus den Tönen, die gesprochen und gespielt wurden. Die Geschichte Lusseyrans gewann an Materialität durch die Verbindung zur menschlichen Stimme, durch die Verkörperung in einer menschlichen Gestalt. Feinsinnig und kraftvoll las Richard Schnell, wobei es mehr als ein bloßes Lesen war: Er hat Lusseyrans Worte sprachlich so gestaltet, dass die bunte, vielschichtige Welt eines blinden Mannes zu leuchten begann.
Neben ihm stand die ganze Zeit hindurch eine Leuchtfigur. Das war eine Skulptur der Bildhauerin Barbara Schnetzler, eine Scheibe aus Carrara-Marmor, in der horizontale und vertikale Risse eine Kreuzform bildeten. Durch eine Leuchtquelle hinter der Scheibe, die während der Aufführung stärker und schwächer eingestellt wurde, veränderte sich das Leuchten der Kreuzgestalt aus Stein. Dieses Eindunkeln und Aufhellen eines Kreuzes im Raum verstärkte das Erlebnis, dem Licht und dem Ich nahe zu sein.
Für mich, die wohl nicht schiffbrüchig ist, aber doch eine Reisende auf offenem, teils dunklem Meer, war dieses Erlebnis zu Johanni ein Leuchtturm. Meine Zweifel und Ängste, meine eigenen Schatten begegneten etwas kraftvoll Leuchtendem. Waren es nicht gleich vier Ich, die hier gemeinsam künstlerisch tätig waren? Leuchtete diese Aufführung deswegen so stark, weil mehrere Ich-Kräfte sich darin verbanden?
Dankbar blicke ich in der Winterzeit auf diese Aufführung zurück und spüre dabei den Lichtabdruck, den sie in mir hinterlassen hat. Ich bin dadurch nicht unbedingt erleuchtet worden, meine Ängste und Sorgen haben sich danach nicht aufgelöst, die Rettung war nicht permanent. Auch hat mein Verstand rückblickend wohl wenig dazugewonnen: Theorien und Fakten waren nur spärlich in der Aufführung vorhanden, ich habe dadurch nichts in der Hand, womit ich argumentieren und überzeugen kann. Was ich habe, ist Hoffnung. Hoffnung, dass das Licht der Dunkelheit widerstehen kann. In einem Menschen. In einer Welt.
Bild Jacques Lusseyran, 1933