Ein langes Leben

«Wenn ich auch nicht viel von Politik verstehe und auch nicht den Ehrgeiz habe, es zu tun, so habe ich doch ein bisschen ein Gefühl, was Recht und Unrecht ist, denn dies hat ja mit Politik und Nationalität nichts zu tun.»


In der 8. Klasse wurde mir abgeraten, meine Biografiearbeit über Sophie Scholl zu schreiben. Ihr Leben sei so kurz und traurig. Ich habe es trotzdem gemacht. Ich habe es gemacht, weil ich ahnte, dass in ihrem Leben auch alles andere als ‹traurig› und ‹kurz› zu finden ist. Ihr Leben war zu kurz, doch dass wir ihre Taten, ihre Briefe und ihre Worte noch immer im Bewusstsein haben, zeigt, dass ihr Leben bis heute reicht und über uns hinauswachsen wird. Sophie Scholl hat ihrem Leben eine Dauer gegeben. Ihr Ende und das, was sie erleben musste, ist tragisch, aber ihr Leben und was sie daraus gemacht hat, ist es nicht. Man weint, wenn man über sie liest, aber nicht nur aus Trauer. Man weint, weil man den Mut bewundert, den es braucht, um die Flugblätter in die Luft zu werfen, die keiner sehen will oder darf. Man weint vor Freude, dass es Menschen gibt, die ein so großes Vertrauen in ihr eigenes Gewissen haben und die «das Gefühl, was Recht und was Unrecht ist», als ihren Fixstern sehen. Sophie Scholl hat ihre eigenen Maßstäbe über Politik und Nationalität gestellt und vor allem hat sie ihren Maßstäben Glauben geschenkt. Für sich selbst lebte sie ein kurzes Leben mit traurigen Seiten, aber für uns alle, die auf dieses Leben blicken, ist es auch das Gegenteil davon. Es ist lang, unendlich lang, und es ist voller Hoffnung.


Foto: Sophie Scholl, 1939. © 2021 manuel aicher, dietikon (schweiz).

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