Den Bruch lieben

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Wie fühlt sich das Ei, wenn sein Inneres so anders geworden ist, dass es die äußere Form nicht mehr braucht? Wie fühlt sich eine Mutter, die nach neun Monaten der Einheit zur Geburt ihres Kindes schreitet? Wie war es für Jesus, als er einsah, dass der Kelch doch auf ihn wies? Vielleicht ging es ihm wie dem Ei, das in den letzten Tagen der Brut zum ersten Mal das Klopfen des scharfen Schnäbelchens vernimmt.

Wille und Idee

Es ist bemerkenswert, wie der Wille, ein Ei zu sein, dem Willen des schlüpfenden Kükens weicht, sich ihm anheimgibt. Der Wille, der die Idee des Eies gerade noch enthielt, stülpt sich um, damit er den Willen des Kükens tragen kann. Dies dient dem Leben, auch wenn es durch den Tod zu gehen bedeutet. – Anders ist das Wollen, das von einer Idee bestimmt wird, sei es auch die Idee des Guten. Der Wille, der Ideen hat, ohne sie verlieren zu können, ist brutal. Er geht am Leben vorbei. Es gibt keine lebendige Idee, die nicht mindestens einen Tod gestorben ist. Schaue ich auf die Welt und auf mich, springt mir die Diskrepanz zum Idealen ins Auge. Das tut weh. Sofort sind der Wunsch nach Besserung und der Wille zum Engagement da. Unsere Welt ist voll davon. Ob hier ein Wille auftritt, der dem Leben zuträgt oder nicht, hängt an einem seidenen Faden: meinem Gefühl. Möchte ich etwas verändern, weil ich die Gegenwart ablehne oder weil ich höre, was es braucht? Bringe ich meine Idee als Apparat, in den sich andere einfügen können, oder gestalte ich mit denen, die mir in meiner Umgebung entgegenkommen, die Idee neu? Alles hängt von der wahrhaftigen Antwort ab. Nur der Wille wird gut wirken, der sich in die Welt hineinzuleben, das heißt: in sie hineinzusterben weiß. Für ihn wird der ewige Wandel zur Form. Insofern kann eine zerbrochene Eierschale demütig machen. Doch die Fähigkeit, sich fortwährend zu wandeln, führt durch ein Nadelöhr. Ich muss mich von der Welt innerlich – vielleicht schmerzhaft – berühren lassen, bevor sie als Wille in mir wirken will. Das ist kein Aufruf zum Masochismus. Es reicht aus, in die eigene Seele, die Familie, in den Kultur-Natur-Dualismus, auf das große menschliche Miteinander wirklich zu schauen, und schon ist der Schmerz da. Den Schmerz gibt es, nur ihn zu durchfühlen, ist schwierig. Viele glauben, das führe zu weit; man könne doch nicht alles fühlen. Und: Ja, ein solches Fühlen müsste einem tatsächlich das Herz brechen. Lieber nicht so gefühlig werden, meinen einige, die für die gute Sache kämpfen wollen; das untergrabe sonst die Impulse. Und die sind entscheidend, um gute Ideen auch umzusetzen. Schließlich gilt der Imperativ der Produktivität auch für Weltverbesserung. Doch das Gute entzieht sich der Kampflust immer am Ende. Erst wenn ich schaue und empfinde, was ist, wenn ich zulasse, was unstimmig ist, und mich ganz vergegenwärtige, auch in meinem Schmerz, wächst mir wie zum Dank eine neue Kraft entgegen. Sie erschließt mir einen neuen Willen.

‹Ich sehe dich›

Zum allerersten Osterfest zerbrach die menschliche Hülle um den Christus, damit er nach drei Tagen von neuem Leben künden konnte. Er bezeugte mit Leib und Seele den goldenen Weltengrund der Liebe, der ewig und zukünftig ist, dem wir ständig entfliehen und wieder zustreben. Christus hat die Erde nicht ad hoc vervollkommnet, aber zur Vervollkommnung aller Werdenden eingeladen. An Ostern, wenn die Knospen platzen und die Küken schlüpfen, wird diese Einladung wieder wirklich. Dass die Eier, die zuvor noch verziert wurden, am Ostersonntag geschält und gegessen werden, ist ein Zeichen für den zerbrechenden Raum der unaufhörlich vergehenden Wirklichkeit. Sie findet den Tod, um das Leben willkommen zu heißen.

Ich sehe den Christus in der Mandorla. Er ist das lebendig gewordene, das ewige Ei. Er vereint die höheren Wesen mit dem Stoff und gibt dadurch beiden ein Leben. Wieso heißt das Liebe oder Erlösung? In der Mandorla ist der Jesus Christus aufgerichtet, mit klarem frontalem Blick. Da sitzt der ‹Ich sehe dich›, und das ist sowohl erlösend als auch erschreckend. Erschreckend ist es für den Teil in jedem von uns, der etwas aufgebaut hat und auf sich etwas hält. Dieser Teil blendet aus, was an uns schwierig, unreif und in diesem Sinne beschämend ist. Das wird im Außen lokalisiert, weil es in uns nicht existieren kann. Aber der Mensch in uns, der werden möchte, atmet auf. Er kann sich in diesem Gesehen-Sein, in Liebe lösen und dem Prozess verschreiben. Für ihn ist der An-blick keine richtende Strafe, sondern ein An-erkennen seines Strebens – all der Möglichkeiten, die in ihm ruhen, all der aufkeimenden Fähigkeiten, all der gescheiterten Versuche, das Richtige zu tun.

Ich sehe den Christus in der Mandorla. Und er sieht mich. Er schaut mich in meinem Ei.

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