Gemeinsam Mensch sein

Steffen Richter arbeitet als Heimleiter auf Gut Bonnewitz. Das heilpädagogische Heim für Kinder und Jugendliche liegt in Pirna in Ostdeutschland, wo seit dem Winter der erste AfD-gestützte Oberbürgermeister regiert. Hier erzählt Steffen Richter, wie dies die Atmosphäre vor Ort und im Wohnheim prägt.


Ganz im Osten Deutschlands, an der Grenze zur Tschechischen Republik, liegt der Landkreis Sächsische Schweiz-Osterzgebirge mit der großen Kreisstadt Pirna. Die Region gerät immer wieder in die Schlagzeilen, weil das Agieren von Gruppen, die rassistisch, demokratiefeindlich und gewaltbereit sind, den Lebensalltag vieler Menschen prägt. In den 1990er-Jahren dominierten beispielsweise die Neonazi-Kameradschaft ‹Skinheads Sächsische Schweiz› und die Nationaldemokratische Partei Deutschlands (NPD, heute: Die Heimat). Doch längst hat die Alternative für Deutschland (AfD) die rechte Führung übernommen. Die Stadt Pirna erregt wieder öffentliches Interesse, weil seit dem 26. Februar 2024 Tim Lochner als Oberbürgermeister dort regiert. Lochner ist kein Mitglied der AfD, sehr wohl war er aber Mitglied der AfD-Stadtratsfraktion und trat für eben diese Partei zur Wahl an. Seine Nähe zur AfD ist unbestritten, auch weil er selbst sagte: «Mich trennt von der AfD gar nichts – außer das Parteibuch.»1

In eben diesem sächsischen Pirna liegt eine Einrichtung des anthroposophischen Sozialwesens, deren Wurzeln weit in die Geschichte der Heilpädagogik zurückreichen. Im Oktober 1935 verlegte das damalige Kollegium sein Institut aus der Gartenstadt Hellerau nach Bonnewitz. Eine alte Villa wird zu seinem Domizil, bis die Nationalsozialisten den Leiter Martin Kretschmer im Sommer 1941 verhaften, in einem Außenlager des kz Sachsenhausen ermorden und das Institut beschlagnahmen. Bis dahin wurden nicht nur Kinder und Jugendliche geschützt, sondern auch Mitarbeitende. Es dauerte mehr als 50 Jahre, bis wieder eine anthroposophische Einrichtung eröffnet wurde.2

Angst wird verbreitet

Doch welche Auswirkungen hat die aktuelle politische Entwicklung auf die Arbeit in der heilpädagogischen Einrichtung in Bonnewitz? In der Stadt Pirna wird die Wahl von Tim Lochner zum Oberbürgermeister von vielen Menschen mit großer Sorge betrachtet. Denn der AfD-unterstützte Kandidat erklärte schon vor der Wahl auf seinem Facebook-Profil: «Ich habe mit diesem Staat, mit dieser Regierung, den Medien […] abgeschlossen. Für immer, das schwöre ich Euch!»3 Doch damit nicht genug, am Wahlabend kündigte er an, die Mitarbeitenden der Stadtverwaltung einer ‹Loyalitätsprüfung› unterziehen zu wollen.4

Mit dem Erstarken der AfD und dem Wahlsieg Lochners hat sich die gesellschaftliche Atmosphäre verändert. Es kommt immer häufiger zu Tabubrüchen, nicht nur sprachlich. Auf einer Demonstration für Vielfalt und Zusammenhalt in Pirna kam es zu mehreren Störungen. Ein Mann zeigte den Demonstrierenden den Hitlergruß, ein anderer schrie «Sieg Heil!» aus dem Fenster und eine Gruppe junger Neonazis zeigte sich in Uniformen, die an den Nationalsozialismus erinnern.5

Die damit bewusst erzeugte Angst, ist auch bei den Jugendlichen unserer Einrichtung zu spüren. Doch nicht nur sie sind es, auch Eltern und Mitarbeitende sind besorgt über die Entwicklung. Seit vielen Jahren gibt es in unserer Einrichtung ein internationales Kollegium und trotz mancher Herausforderung wird diese Diversität als deutliche Bereicherung angesehen. Nun aber entscheiden sich Mitarbeitende dafür, die Region zu verlassen – Anfeindungen gehören für viele leider zum Lebens- und Arbeitsalltag. Negative Erfahrungen gibt es in der Nachbarschaft, in öffentlichen Verkehrsmitteln oder sogar bei der medizinischen Versorgung. Diese Anfeindungen finden in einem gesellschaftlichen Klima statt, zu dem die AfD beiträgt. Zum Themenbereich Inklusion und Assistenz haben sich deren Mitglieder bereits in der Vergangenheit immer wieder negativ geäußert und letztes Jahr sorgte der Thüringer AfD-Chef Björn Höcke mit seinem ‹Sommerinterview› für bundesweite Kritik durch die Sozialverbände.6 Die AfD stellt die Würde bestimmter Menschen immer wieder infrage, ein Teil ihrer Anhängerschaft wiederum versteht das als Aufruf zum Handeln. Anstatt sich zu distanzieren, kooperiert die Partei mit Rechtsradikalen oder lässt sich von ihnen unterstützen.7 In Pirna warb auch die rechtsextreme Kleinpartei Freie Sachsen für Tim Lochner als Oberbürgermeister.

Jeder Mensch zählt

Natürlich gibt es in der Region viele Menschen, die sich für Diversität und Gleichberechtigung starkmachen, und viele positive Erfahrungen. Und es gibt auch Netzwerke, die sich gegenseitig beraten und bestärken. Doch die zunehmende Verrohung und der sorgenvolle Blick auf die kommenden Kommunal- und Landtagswahlen binden Kräfte und rauben Energie. Dennoch ist es wichtig, dass sich gerade die Einrichtungen des Sozialwesens klar und unmissverständlich positionieren. Wir sind deshalb sehr dankbar für die Stellungnahme des Bundesverbands Anthropoi von Januar.8 Sie trifft den zentralen Punkt:

Jeder einzelne Mensch ist gefragt, sich einzusetzen und Position zu beziehen. Es gibt viele Dinge, die wir uns anders wünschen würden und für die es zu streiten lohnt. Dies wird mit einer AfD in politischer Verantwortung allerdings immer weniger möglich. Es ist eben nicht so, dass die Demokratie ihre Voraussetzungen selbst garantieren kann.9 Und nicht alle Menschen können selbstständig für ihre Rechte streiten, ihnen müssen wir zur Seite stehen, insbesondere dann, wenn sie durch die oben genannten Angriffe auf ihre grundlegenden Menschenrechte akut gefährdet sind. Dafür empfinden wir auch eine historische Verantwortung.


Bild Gut Bonnewitz

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Footnotes

  1. Die Zeit: Oberbürgermeister Pirna
  2. Steffen Richter, Martin Kretschmer und die Wurzeln der heilpädagogischen Einrichtung in Bonnewitz. Pirna 2024.
  3. Viele Fragen, wenige Antworten: Tim Lochner tritt OB-Amt an
  4. „Das ist mehr als grober Managementunfug“
  5. Nach Demo in Pirna: Polizei ermittelt gegen Uniformträger aus der rechten Szene
  6.  Zeitungsanzeige gegen Höcke: Sozialverbände kritisieren Thüringer AfD-Chef in „Welt am Sonntag“
  7. AfD im Bundestag beschäftigt mehr als 100 Rechtsextreme
  8.  Anthropoi Bundesverband Positionspapier Januar 2024
  9. Das Böckenförde-Diktum

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