Wer bin ich?

Wer bin ich? Eine einfache Frage, aber schwer zu beantworten. Ich bin und bleibe ich selbst, auch wenn mir manches von meinem Besitz genommen wird, denn den habe ich, aber der bin ich nicht. Und wie steht es mit wichtigen Erfahrungen, die ich gemacht habe und die ich nicht missen möchte, weil sie zu einem Teil meiner Persönlichkeit geworden sind?


Die sind nicht ein auswechselbarer Besitz. Mein Vater, der zweimal die Entwertung seines Geldes erlebt hat, pflegte zu sagen: Reisen sind die sicherste Kapitalanlage. Wer im Alter zufrieden auf ein reiches Leben zurückblicken kann, kann sich identifizieren mit seinen Erinnerungen. Ich bin der, der all das erlebt hat. Aber bin ich nur oder vor allem meine Vergangenheit? Wer bei einem Unglück seine Erinnerung verliert, ist schlecht dran. Aber nicht minder der, der seine Zukunft verliert. Denn mit der Zukunftsperspektive geht auch der Sinn des Lebens verloren.

«No future» sagen manche Jugendliche, wenn sie ihren Indentitätsverlust formulieren wollen. Etwas akademischer klingt es bei Psychiatern, wenn sie vom Verlust des Lebenssinns in der Neurose sprechen. Ich bin nicht nur der, der ich geworden bin, sondern vielleicht noch mehr der ich werden kann – und will.


Aus Jean-Claude Lin, Im Garten der Zeit. Darin Johannes W. Schneider, ‹Wer bin ich?›. S. 59, Stuttgart 2021.

Grafik Sofia Lismont

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