Was heißt ‹Sehen mit Geistesaugen›?

In dem ersten Gespräch zwischen Goethe und Schiller am 20. Juli 1794 skizzierte Goethe seine Anschauung der ‹Urpflanze›, worauf Schiller antwortete, dass dies keine «Erfahrung» sei – wie Goethe behauptete –, sondern eine Idee. Darauf Goethe: «Das kann mir sehr lieb sein, dass ich Ideen habe, ohne es zu wissen, und sie sogar mit Augen sehe.»1 Damit deutete er die Möglichkeit an, Übersinnliches als Wirklichkeit zu schauen, und zwar als eine solche, die in der sinnlich wahrnehmbaren Welt wirkt.


Wie können wir Goethes Wort vom ‹Sehen mit Geistesaugen› verstehen? Die Frage ist für die Anthroposophie und ihre praktischen Ausprägungen in Pädagogik, Medizin, Landwirtschaft etc. von großer Bedeutung, weil sich Rudolf Steiner immer wieder auf Goethe bezog, um sein eigenes übersinnliches Schauen zu charakterisieren. Die nachfolgenden Ausführungen sind das Ergebnis einer langen Beschäftigung mit diesem Thema. Was die Fachliteratur betrifft, so stützen wir uns neben den grundlegenden Schriften von Rudolf Steiner auf anthroposophische Autoren wie Frank Teichmann, Herbert Witzenmann, Jochen Bockemühl und Ernst-Michael Kranich. Dieser Weg, der die Naturerscheinungen verständlich machen und damit zum ‹Lesen im Buch der Natur› führen kann, ist klar beschreibbar, reproduzierbar und diskutierbar und kann insofern tatsächlich als ‹wissenschaftlich› bezeichnet werden.

Beobachten und Vergleichen

Die erste Stufe auf dem genannten Weg besteht in der genauen Beobachtung und Beschreibung der untersuchten Phänomene. Nehmen wir die einjährige Blütenpflanze aus dem Goethe-Schiller-Gespräch als Beispiel. Sie erscheint in den Formen und Farben des Stängels und der Wurzel, der Blätter, Blüten und Früchte. Die genaue Beobachtung erfordert Aufmerksamkeit und Hingabe. «Was ist das Schwerste von allem? Was dir das Leichteste dünket: mit Augen zu sehn, was vor den Augen dir liegt», heißt es bei Goethe.2 Eine gute Methode zur genauen Beobachtung ist das Abzeichnen, das zum Studium der Biologie einmal selbstverständlich dazugehörte.

Die zweite Stufe besteht darin, die verschiedenen Formen miteinander zu vergleichen, zum Beispiel die Blätter untereinander oder jene mit der Blüte. Goethe hat das Vergleichen – das ja eine der allgemeinsten wissenschaftlichen Geistestätigkeiten überhaupt ist – extensiv praktiziert, zum Beispiel im Anschauen der Vegetation in Deutschland und derjenigen in den Alpen und dann in Italien. In seinem «Versuch, die Metamorphose der Pflanzen zu erklären», beschrieb er die Vergleiche zwischen verschiedenen Pflanzenorganen dann bereits als Metamorphosen. Die Reihe der nebeneinanderstehenden Formen erschien ihm als ‹Verwandlung›: «Ein jeder, der das Wachstum der Pflanzen nur einigermaßen beobachtet, wird leicht bemerken, dass gewisse äußere Teile derselben sich manchmal verwandeln und in die Gestalt der nächstliegenden Teile bald ganz, bald mehr oder weniger übergehen.»3 Tatsächlich gehen die Teile der Pflanze, einmal ausgebildet, nicht ineinander über, sondern bleiben nebeneinander bestehen – die Verwandlung vollzieht sich im Geist des Betrachters.

Man kann für die genannten Erkenntnisstufen also jeweils eine subjektive und eine objektive Seite unterscheiden. Auf der ersten Stufe ist der subjektive Anteil das Beobachten, der objektive sind die natürlichen Phänomene. Auf der zweiten Stufe ist es das Vergleichen aufseiten des Subjekts und der Gestaltzusammenhang aufseiten der Objekte. Während ich den Phänomenen auf der ersten Stufe betrachtend gegenüberstehe, ist das auf der zweiten dann nicht mehr der Fall, wenn ich die Formen als Verwandlungen voneinander anschaue. Es ist meine innere Aktivität, durch die ich die eine Gestalt in die andere übergehen lasse (was zur Voraussetzung hat, dass «wir uns so beweglich und bildsam […] erhalten, nach dem Beispiele, mit dem uns [die Natur] vorgeht»4. Ich involviere mich also gleichsam in die Verwandlung. Die einzelnen Formen stehen mir gegenüber, aber den Raum zwischen ihnen gestalte ich selbst mit meiner geistigen Tätigkeit.

Die Gestaltverwandlung, die ich in der Anschauung der Metamorphosebewegung vollziehe, wird von Kräften geleitet (z. B. Expansion und Kontraktion), die nicht nur in meinem Bewusstsein, sondern auch in der Natur wirken. Denn ich vollziehe nichts anderes, als was auch in der Natur geschieht. Ich erlebe diese Kräfte aber nur dann, wenn und indem ich die Metamorphosen geistig aktiv vollziehe. In diesem Sinne schrieb schon der junge Rudolf Steiner über Goethes Idee der Pflanzenmetamorphose: «Die Größe dieses Gedankens […] geht einem nur dann auf, wenn man versucht, sich denselben im Geiste lebendig zu machen, wenn man es unternimmt, ihn nachzudenken. Man wird dann gewahr, dass er die in die Idee übersetzte Natur der Pflanze selbst ist, die in unserem Geiste ebenso lebt wie im Objekte.»5

Für das materialistisch und dualistisch eingestellte Bewusstsein ist das nicht zu akzeptieren, denn es will nur das als wirklich gelten lassen, was unabhängig vom Betrachter ist. Es macht sich damit für einen wesentlichen Bereich der Wirklichkeit (nämlich für das Lebendige und seine Gestaltbildungskräfte) willkürlich blind.

Gesetz und Wesen

Nun geschieht die Umbildung der pflanzlichen Formen nicht chaotisch, sondern folgt bestimmten Gesetzmäßigkeiten, die Goethe ebenfalls beschrieben hat. Die Entwicklung der Blütenpflanze unterliegt zum Beispiel einer dreimaligen Ausdehnung und Zusammenziehung: «Dasselbe Organ, welches am Stängel als Blatt sich ausgedehnt und eine höchst mannigfaltige Gestalt angenommen hat, zieht sich nun im Kelche zusammen, dehnt sich im Blumenblatte wieder aus, zieht sich in den Geschlechts­werkzeugen zusammen, um sich als Frucht zum letzten Mal auszudehnen»6 und sich im Samen ein letztes Mal wieder zusammenzuziehen. Bei den Blättern bilden sich die Formen ‹nacheinander›, in der Blüte ‹nebeneinander› und in der Frucht ‹ineinander›. Dazu notierte Goethe in seiner Subjekt und Objekt wunderbar verwebenden Weise: «Das Anerkennen eines Neben-, Mit- und Ineinanderseins und Wirkens verwandter lebendiger Wesen leitet uns bei jeder Betrachtung des Organismus und erleuchtet den Stufenweg vom Unvollkommenen zum Vollkommenen.»7

Die Erkenntnis solcher Gesetzmäßigkeiten der Formverwandlung stellt nun eine dritte Stufe des Lesens im Buch der Natur dar. Man findet diese Gesetze nicht durch bloßen Mitvollzug der Metamorphose, sondern nur, wenn man die eigene Tätigkeit zugleich betrachtet, sozusagen empfindend belauscht, wenn man also darauf achtet, ‹was› man beim Mitvollziehen der Formverwandlung ‹erlebt›. Wahres Erkennen ist immer ein Erleben; das Fühlen wird, wenn es vom Selbstbezug gereinigt wird, zu einem höheren Wahrnehmungsorgan. Diese innere Anschauung fördert das begriffliche Verständnis: «Wer sich [den] Anblick in ein inneres Anschauen verwandeln kann, der wird sich den Begriff sehr erleichtert haben.»8

Auf der vierten Stufe schließlich (er)schaut man das einheitliche Wesen (‹Typus›, ‹Prinzip›, ‹Idee›), das den verschiedenen Erscheinungen zugrunde liegt und sich in ihnen und in ihrer Metamorphose kundgibt und verwirklicht. «Es ist ein Gewahrwerden der wesentlichen Form, mit der die Natur gleichsam nur immer spielt und spielend das mannigfaltige Leben hervorbringt.»9 Und von dieser Form heißt es: «Vor­wärts und rückwärts ist die Pflanze immer nur Blatt.»10 Dabei meinte Goethe nicht das ‹Blatt›, wie wir es uns spontan und gegenständlich als Stängelblatt vorstellen. «Es verstehet sich hier von selbst, dass wir ein all­gemeines Wort haben müssten, wodurch wir dieses in so verschie­dene Gestalten metamorphosierte Organ bezeichnen und alle Er­scheinungen seiner Gestalt damit vergleichen könnten: gegenwärtig müssen wir uns damit begnügen, dass wir uns gewöhnen die Er­schei­nungen vorwärts und rückwärts gegeneinander zu halten.»11

Goethe hat auch beschrieben, wie sich Subjekt und Objekt auf dieser vierten Stufe des Erkennens zueinander verhalten: «Dies wäre also, nach meiner Erfahrung, derjenige Punkt, wo der menschliche Geist sich den Gegenständen in ihrer Allgemeinheit am meisten nähern, sie zu sich heranbringen, sich mit ihnen […] auf eine rationelle Weise gleichsam amalgamieren kann.»12 Subjekt und Objekt werden hier geistig eins.

Wesen und Ich

Was bedeutet «auf eine rationelle Weise»? Es kann ja nicht die bloße Ratio gemeint sein, denn rein verstandesmäßig lässt sich die Einheit zwischen Betrachter und Gegenstand sicher nicht erleben. Vielmehr handelt es sich um ein innerliches Schaffen, ein tätiges Hervorbringen oder ‹Aktualisieren› (Herbert Witzenmann) der Idee. Hierzu noch einmal Rudolf Steiner: «Goethe stellt sich unter der Urpflanze eine Wesenheit vor, die in unserem Geist nicht gegenwärtig werden kann, wenn sich derselbe bloß passiv der Außenwelt gegenüber verhält. Was aber nur durch den menschlichen Geist in die Erscheinung treten kann, muss deshalb noch nicht notwendig aus dem Geiste stammen. Hier liegt nämlich eine irrtümliche Auffassung sehr nahe. Es ist für die Mehrzahl der Menschen unmöglich, sich vorzustellen, dass etwas, zu dessen Erscheinung durchaus subjektive Bedingungen notwendig sind, doch eine objektive Bedeutung und Wesenheit haben kann. Und gerade von dieser letzteren Art ist die ‹Urpflanze›. Sie ist das objektiv in allen Pflanzen enthaltene Wesentliche derselben; wenn sie aber erscheinendes Dasein gewinnen soll, so muss sie der Geist des Menschen frei konstruieren.»13

Interessanterweise ist dieses Hervorbringen des Wesenhaften nun ganz analog zu dem Vorgang, durch den man sich selbst als Ich aussagt. Der Name Ich bezeichnet nicht etwas außerhalb meiner selbst, sondern ist eine selbst geschaffene und zugleich selbst schöpferische Manifestation des Geistes ‹in› mir. Tatsächlich ist es ein innerer Willensvorgang, durch den ich mich als geistiges Wesen selbst konstituiere bzw. aktualisiere und dabei selbstbewusst werde. Johann Gottlieb Fichte nannte das Ich eine «Kraft, der ein Auge eingesetzt ist»14. Das Ich ist ein willensbegabtes und schöpferisches geistiges Wesen, und durch sein willentliches Hervorbringen erscheint die Idee der Pflanze: ‹Blatt›. Dieses Hervorbringen ist intuitiv, das heißt, das Ich weiß genau, was mit dem Gedanken gemeint ist. Es kennt ihn von innen, weil es ihn schafft. Der Gedanke enthält nichts, was nicht von dem ihn hervorbringenden Ich in ihn hineingelegt wird. Aber was das Ich in den Gedanken hineinlegt, stammt nicht aus ihm selbst, sondern aus der Welt.

Die ‹Urpflanze›

Eine weitere, fünfte Stufe des Lesens im Buch der Natur bedeutet es nun, sich den Begriff des ‹Blattes› umfassend zu verdeutlichen. Das Blatt ist vor allem lebendige Oberfläche, an der sich die elementaren Wirkungen der Luft und des Lichtes mit denen des Wassers und der Erde durchdringen.15 Zu diesem Begriff gehört weiterhin auch die jahreszeitliche Veränderung des ‹Blattes› in seiner Entwicklung als Keim-, Stängel-, Kelch-, Blüten- und Fruchtblatt sowie seine artspezifische und geografische Variation. Dass man für die Urpflanze auch noch den Begriff des vertikal nach oben und nach unten strebenden Wachstums – Stängel und Wurzel – berücksichtigen muss, hat Goethe in seinem späten Aufsatz über die Vertikal- und Spiraltendenz in der Vegetation getan: «Hat man den Begriff der Metamorphose vollkommen gefasst, so achtet man ferner, um die Ausbildung der Pflanze näher zu erkennen, zuerst auf die vertikale Tendenz. Diese ist anzusehen wie ein geistiger Stab, welcher das Dasein begründet und solches auf lange Zeit zu erhalten fähig ist. […] Sie ist es, wodurch die Pflanze in der Erde wurzelt und zugleich sich in die Höhe hebt.»16

All dies zusammen genommen ergibt die Antwort auf Goethes Frage nach der Existenz einer ‹Urpflanze›: «Woran würde ich sonst erkennen, dass dieses oder jenes Gebilde eine Pflanze sei, wenn sie nicht alle nach einem Muster gebildet wären?»17

Imagination: das Sehen mit Geistesaugen als schöpferischer Prozess

In einem sechsten Schritt kann man sich nun den Phänomenen wieder zuwenden und sie im Licht der intuitiv erfassten und umfassend erkannten Idee betrachten. Indem so die «Geistesaugen mit den Augen des Leibes» in einem «lebendigen Bunde»18 zusammenwirken, wird man in jeder Pflanze die Urpflanze in einer besonderen Verwirklichung gewahr. Dieses Erkennen ist kein Subsumieren der Phänomene unter ein abstraktes Schema, sondern ‹lebendige Anschauung›. Der Unterschied liegt darin, dass das Schema von den Erscheinungen abstrahiert wird, während die Anschauung gleichsam ‹in die Erscheinungen hineingesehen› wird. Indem ich die Reihenfolge der Blätter, den Übergang von den Stängel- zu den Blütenblättern und Früchten als Metamorphosen betrachte, die ganze Pflanze als eine Manifestation der Urpflanze, trage ich diese Ideen den Erscheinungen entgegen, ‹strahle› sie geistig in sie hinein. Das ist ein aktiver, schöpferischer, in gewissem Sinne künstlerischer Prozess, und doch ist es keine Projektion, denn was den Erscheinungen entgegengestrahlt wird, kommt ja aus ihnen selbst. Es wurde nur in der erkennenden Tätigkeit des Ich wiedergeboren.

Im gewöhnlichen Bewusstsein kennt man diese imaginative Tätigkeit kaum. Über sie zu lesen, reicht nicht aus; man muss sie erleben. Hier kommen die Übungen aus Rudolf Steiners ‹Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?› zum Tragen. Durch diese, zum Beispiel durch das ehrfurchtsvolle und aktiv-empfängliche innere ‹Nachklingenlassen von Natureindrücken›, erweckt man die Fähigkeit, Gedankenbilder als imaginative Strahlungen erleben zu können.

Das ‹Sehen mit den Augen des Geistes› unterscheidet sich also vom Sehen mit den Augen des Leibes nicht nur dadurch, dass man etwas Nichtsinnliches – nämlich Ideen – ‹sieht›, sondern dadurch, dass man sie dann und nur dann sieht, wenn und indem man sie erzeugt. Sie treten einem nicht wie sinnliche Eindrücke von außen entgegen, sondern werden geschaffen. Was durch sie erkannt wird, ist deshalb auch nicht äußerlich ‹beweisbar›, weil es nur im lebendigen Prozess des schaffenden Erkennens, der immer an das Subjekt gebunden ist, existiert und erlebt werden kann. Nicht das Erkenntnisergebnis ist beweisbar, aber der Weg zu ihm kann als beweisend – und eben auch als wissenschaftlich – erlebt und beschrieben werden.

Hiermit lösten Goethe und dann Rudolf Steiner die alte Frage nach den in der Natur wirkenden Ideen. Die Ideen schwirren nicht irgendwo in einer geistigen Welt herum, wo man sie wie sinnliche Gegenstände in gleichsam «nebelhaft verdünnter Stofflichkeit»19 aufsuchen und beobachten könnte, aber sie sind eben auch nicht nicht vorhanden. Sie wirken in der Natur, denn die Natur ist ihnen gemäß gestaltet, aber sie erscheinen nur in der Begegnung des Betrachters mit der Natur als immer wieder neu zu schaffende und zu erlebende Wesen. Die Natur ist eben nicht fertig ohne den sie erkennenden Menschen. Geistige Anschauung ist ein schöpferischer, wissenschaftlich-künstlerischer Prozess der geistigen Wiedergeburt der Natur durch das tätige Ich, eine ‹Imagination›.

Kosmischer Gesamtzusammenhang

Schließlich kann man noch eine siebte Erkenntnisstufe auf dem Weg des Lesens im Buch der Natur beschreiben. Sie gibt Einsicht in den umfassenden kosmischen Gesamtzusammenhang, in dem ein Wesen lebt und erscheint und ohne den es letztlich auch gar nicht zu denken ist. Bei der Pflanze ist es das Zusammenwirken des Sonnenlichtes mit den Stoffen und Kräften der Erde, durch deren lebendiges Wechselspiel im Jahreslauf die Pflanze lebt, wächst und sich gestaltet. Im Zusammenhang mit der richtenden Schwerkraft bewirkt die Sonne das aufstrebende Wachstum des Stängels und die Verwurzelung nach unten. Die spiralige Anordnung der Blätter und die Symmetrie- und Zahlengesetze der Blütenbildung können als irdische Widerspiegelung der (geozentrisch betrachteten) Planetenbahnen und ihrer Gesetzmäßigkeiten angeschaut werden. Ernst-Michael Kranich hat diese «Übereinstimmung der Bilder» ausführlich beschrieben und sie ebenfalls als eine «imaginative Erkenntnismethode» gekennzeichnet.20 (Und außer diesen lassen sich noch andere umfassende Gesichtspunkte für Zusammenhänge finden, in denen das Pflanzenwesen lebt.)

Die sieben Stufen des geschilderten Weges sind also:

  • vorurteilsfreie und detaillierte Beobachtung;
  • vergleichen verwandter Phänomene durch Reihenbildung und Metamorphose-Denken;
  • beschreiben der erlebten Gesetzmäßigkeiten durch meditative Vertiefung in die Phänomene und ihre Metamorphosen;
  • finden des in den wechselnden Erscheinungen gleichbleibenden Wesens und inneres Nachschaffen desselben;
  • erarbeiten eines umfassenden Begriffs dieses Wesens;
  • imaginativ-‹künstlerische› Anschauung der Phänomene als sinnliche Offenbarung des geistigen Wesens;
  • umfassende Betrachtung der Zusammenhänge, in denen das Wesen in seinen Offenbarungen erscheint.

Die Sinneswelt als Offenbarung des Geistes und die Diskussionen um die Anthroposophie

«Was kann der Mensch im Leben mehr gewinnen, als dass sich Gott-Natur ihm offenbare / Wie sie das Feste lässt zu Geist verrinnen, wie sie das Geist-Erzeugte fest bewahre», heißt es in Goethes Gedicht über Schillers Schädel. Diesen Übergang zwischen Geist und Materie, das heißt die Wirkungen des Geistigen in der Materie, zu erkennen, um dann entsprechend sinnvoll und förderlich handeln zu können, ist ein, ja vielleicht das Hauptanliegen der anthroposophischen Praxis in Pädagogik, Medizin, Landwirtschaft usw. Rudolf Steiner hat dazu eine Fülle neuer blicklenkender Begriffe und Hinweise gegeben, und nach 100 Jahren Anthroposophie haben wir die Möglichkeit, die Wege zu dieser sinnlich-übersinnlichen Erkenntnis genau zu verstehen, zu beschreiben, zu üben und zu diskutieren. Das wäre anthroposophische wissenschaftliche Praxis. Man müsste dann nicht immer wieder neu in fruchtloser Weise darüber diskutieren, wie man mit den vermeintlichen ‹Offenbarungen› Rudolf Steiners umgehen soll.


Literaturverzeichnis

Rudolf Steiner, Methodische Grundlagen der Anthroposophie. 1884–1901. GA 30, Dornach 1989.

Skizze Fabian Roschka

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Footnotes

  1. Johann Wolfgang von Goethe, Glückliches Ereignis. In: Ergänzungsband Naturwissenschaftliche Schriften nach der Berliner Gedenkausgabe (BA). Berlin 2005, Bd. 16, S. 868.
  2. Goethe, Xenien und Votivtafeln aus dem Nachlass. BA 2:495.
  3. Goethe, Die Metamorphose der Pflanzen. BA 17:22.
  4. Goethe, Bildung und Umbildung organischer Naturen. BA 17:14.
  5. Rudolf Steiner, Einleitungen zu Goethes naturwissenschaftlichen Schriften. GA 1, Dornach 1987, S. 12–13.
  6. Goethe, Die Metamorphose der Pflanzen. BA 17:56.
  7. Goethe, Fragmente zur vergleichenden Anatomie. BA 17:429.
  8. Goethe, Über die Spiraltendenz der Vegetation. BA 17:165.
  9. Goethe, Brief an Charlotte von Stein vom 9. Juli 1786. In: WA IV 7:242.
  10. Goethe, Italienische Reise. Bericht Juli. BA 14:561.
  11. Goethe, Die Metamorphose der Pflanzen. BA 17:57.
  12. Goethe, BA 16:870.
  13. Rudolf Steiner (1884–1901), GA 30, S. 272.
  14. Johann Gottlieb Fichte (1812), System der Sittenlehre. Johann Gottlieb Fichtes nachgelassene Werke. Hg. von I. H. Fichte. Bonn 1835, S. 17.
  15. Andreas Suchantke, Das Blatt – der wahre ‹Proteus›. Wie weit ist Goethes Metamorphosenlehre heute noch aktuell? In: Die Drei Nr. 6, 1983, S. 377.
  16. Goethe, Über die Spiraltendenz der Vegetation. BA 17:154.
  17. Goethe, Italienische Reise. Bericht Juli. BA 14:441.
  18. Goethe, Wenige Bemerkungen. In: Ergänzungsband Naturwissenschaftliche Schriften nach der Berliner Gedenkausgabe (BA), Bd. 17:101.
  19. Rudolf Steiner, Theosophie. Dornach 1978, S. 94.
  20. Ernst-Michael Kranich, Pflanze und Kosmos. Grundlinien einer kosmologischen Botanik. Stuttgart 1997, S. 9.

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