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Offene Tür auf einer Baustelle

‹Erkenntnis ist Teilnahme› hieß die Tagung vom 22. bis 24. Februar 2019 im Rudolf-Steiner-Haus Stuttgart über die Freie Hochschule für Geisteswissenschaft. Dabei: Szenen aus den ‹Mysteriendramen›, gespielt vom Mysterien-Dramen-Ensemble des Goetheanum, und die performative Kunstintervention ‹Innen-Baustelle›von Hansjörg Palm und Marianne Schubert. Louis Defèche sprach mit Martin Schlüter.


Wie ist die Idee für die Tagung entstanden?

Sie ist aus einer Vortagung im Oktober 2017 hervorgegangen. Jetzt, wollten wir nicht mehr nur Hochschulmitglieder ansprechen, sondern die Türen öffnen für Nichtmitglieder und zwischen ihnen und der Hochschule vermitteln.

Ist das neu?

Es gab schon früher Hochschulseminare, die auch für Nichtmitglieder zugänglich waren, aber es gab keine Hochschulveranstaltung der Allgemeinen Sektion für Nichtmitglieder. Die Frage der Öffnung prägte das Wie der Tagung. Die Baustellen, die offenen Arbeits- und Gesprächskreise waren so angelegt, dass man sich spontan auf der Tagung zu Fragen findet, die auf der Tagung selbst erst entstanden sind. So gab es ungewohnte oder nicht geübte Elemente, die zu einer Offenheit führen sollten.

Das Motiv der ‹Baustelle› ist auch überraschend.

Das war ein Wagnis. Es kam relativ spät als Angebot in die Vorbereitungen hinein und wurde sofort aufgegriffen, weil es ein Bild ist, das für die Hochschule ansteht.

 


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Was hat sich in den ‹Baustellen› gezeigt?

Was ist ein Element, was nur eine Etikette der Hochschule? Da ist der letzte Satz aus der ‹Philosophie der Freiheit›: «Man muss sich der Idee erlebend gegenüberstellen können; sonst gerät man unter ihre Knechtschaft.» In der ersten Auflage hieß es noch schärfer: «Man muss sich der Idee als Herr gegenüberstellen können …» Und heute? Wir leben unter der Knechtschaft einiger Ideen. Wir stehen ihnen nicht frei gegenüber. Das gilt auch für das Gut der Anthroposophie: Wir versuchen zu wenig, es uns frei zu eigen zu machen, sondern leben allzuoft aus dem Weisheits- oder Wissensgut. Da steht alte Tradition gegen das Ergreifen von Neuem.

Es gibt in der Freien Hochschule Schulung und Forschung. Wie verbindet sich beides?

Da stellt sich die Aufgabe, den gängigen Forschungsbegriff weiterzuentwickeln. Normalerweise fasst man Forschung als Wissensvermehrung auf. In der Geisteswissenschaft scheint mir das Charakteristische zu sein, dass der Gegenstand sich von der erkennenden Tätigkeit nicht trennen lässt.

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In der Geisteswissenschaft scheint mir das Charakteristischste zu sein, dass der Gegenstand sich von der Forschungstätigkeit nicht unterscheidet, dass im Grunde der Wissenserwerb oder die Erkenntnis schon selbst Forschung ist oder umgekehrt: Die Forschung ist schon Fähigkeitsbildung.

Sind die bisherigen Arbeitsformen der Freien Hochschule dafür geeignet?

Das ist zu prüfen für alles, was wir machen. Ob wir Gedanken bilden, die wirklich in die lebendigen Zusammenhänge hineinführen, oder nicht.

In Goethes Märchen fragt der König: «Was ist erquicklicher als das Licht?» Das Gespräch, antwortete die Schlange. Was wäre Forschung ohne Gespräch? Die Sorbonne in Paris entstand, weil Thomas von Aquin Vorlesungen zu seinen theologischen Forschungen hielt und immer mehr und mehr Menschen dazukamen, bis größere Räume notwendig wurden … Dem geistigen Leben, Hülle und Boden zu geben ist die Aufgabe der Hochschule.

Wie erleben Sie hier das Goetheanum?

Alles hängt von den Menschen ab, die es machen – zum Beispiel mit der Idee des ‹Goetheanum Worldwide›. Es werden neue Ideen geboren und ausprobiert, das macht zuversichtlich. Streng genommen wird es davon abhängen, was der Einzelne macht. Das ist das Entscheidende für die Zukunft. Und das wird wahrgenommen. Ich glaube nicht, dass viele von Deutschland aus noch auf ‹das Goetheanum› schauen, sondern auf einzelne Menschen.

 


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Was ist gewonnen?

Es war eine zarte, leise Aufbruchsstimmung, eine Weiterentwicklung. Wir kommen vorwärts auf behutsame Weise. Auch weil die Menschen sich nicht an Regeln gebunden fühlen mussten, sondern ihre Fragen, die sie mitgebracht hatten, stellen konnten. Es wäre noch schöner gewesen, wenn noch mehr Menschen ohne Mitgliedsausweis da gewesen wären. Da wird es sicherlich auch weitergehen. Es waren ca. 200 Teilnehmer da. Am Ende des Plenums wurde gefragt, wer in einer freien Hochschulgruppe arbeite – also ohne Mitgliedschaft. Da meldete sich etwa ein Drittel der Anwesenden. Seitens der Gesellschaft das Gespräch mit den Menschen in den freien Gruppen zu suchen wäre ein nächster folgerichtiger Schritt.


Veranstalter der Tagung war die Anthroposophische Gesellschaft Deutschland.


I N N E N – B A U S T E L L E

Performative Kunstintervention zur Tagung ‹Erkenntnis ist Teilnahme› von Hansjörg Palm und Marianne Schubert

 


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Am zweiten Tag der Tagung am Eingang ein Schild mit der Aufschrift:

VORSICHT BAUSTELLE!

Sie werden heute an verschiedenen Stellen im Haus auf ‹Grenzen und Hindernisse› stoßen.

Bitte kreativ damit umgehen.
Diese Baustelle birgt ‹Gefahren›.
‹Hinweistafeln› beachten.

Im Haus wurden mit rot-weißem Absperrband, Baueimern, Baustellenlampen und Hinweisschildern verschiedene Baustellen- und Grenzsituationen improvisiert, als ob es über Nacht einen Wasserschaden gegeben hätte. Die Hauptzugangstreppe war gesperrt, eine Umleitung durchs ganze Haus ausgeschildert. Ein Bauarbeiter ließ die Tagungsteilnehmer vergoldete Wassereimer weiterreichen. Es gab ein Planungsbüro mit poetischen Bauaufträgen in goldenen Umschlägen, einen Jour-fixe-Bereich für Dialoge, eine geschwindigkeitsbegrenzte Strecke, eine Finsterniszone, die durchtastet werden konnte, eine Aufwärmstelle (Feuerschale im Innenhof) und mehr.

Auf dem Umweg zum Saal fingen die Hinweisschilder an, Fragen zu stellen wie: ‹Bin ich fix und fertig?› oder ‹Wer ist hier der Architekt?›. Ich selbst und die Hochschule sind Baustellen. Das Feuer brannte bis in die Nacht – viele haben sich daran gewärmt. Am nächsten Tag war alles wieder weg.

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