Der Mai

Jetzt wandert die Sonne ins Tierkreiszeichen ‹Stier›. Weil der Frühlingspunkt wandert steht die Sonne heute nicht mehr vor den Sternen des Stieres, wenn sie im Zeichen Stier sich befindet. Davon kann man sich leicht überzeugen, wenn man abends den Blick westlich lenkt. Da steht der Stier, die v-förmige Gestalt des dynamischen Sternbilds über dem Horizont. Mit dem Zeichen ‹Stier› ist vielmehr die Dynamik des Sonnenlaufs und damit ihr Spiegel, das irdische Leben gemeint, er bezeichnet die Mitte des Frühlings. Im Zeichen ‹Widder›, dem Frühlingsanfang, zählt der Aufstieg der Sonne, in den ‹Zwillingen›, dem Abschluss des Frühlings, ist es die erreichte Höhe, die den Ton bestimmt. Der ‹Stier› ist hier die Mitte: Die Sonne steigt und hat schon viel erreicht – Weg und Ziel sind eins. Seelisch: Man ist unterwegs und doch schon zu Hause, ein Streben ohne Sehnen. Vielleicht ist es das, was den Mai, den Stier-Monat zum ‹Wonnemonat›, zum glücklichsten Jahreszwölftel macht: Man ist in Bewegung und zufrieden mit dem Sein. Rose Ausländer dichtet über den Mai:

Ja es ist Zeit
sich zu öffnen
allen ein Freund zu sein
das Leben zu rühmen

Allen und allem ein Freund zu sein: Ich glaube, jede Meditation ist ein Maifest, weil in ihr Ich und Welt sich gegenseitig einladen, sich die Hand geben. Da stirbt die Begrenzung, das Selbstsein – ein Tod, der das Leben emporhebt zur Blüte, zur Seele.


Bild Ringelblume (Calendula officinalis). Metamorphose des Blattes. Foto: Gerda Peters

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